Seuchengeschichte
Möglichkeiten und Grenzen zur Bewertung des gesellschaftlichen und politischen Umgangs mit aktuellen Pandemiegeschehen
Die SARS-Pandemie (Nov. 2002-Juli 2003) war das erste Auftreten des durch ein SARS-Coronavirus hervorgerufenen Schweren Akuten Atemwegssyndroms – und zugleich die erste Pandemie des 21. Jahrhunderts. Was kann man aus der Erforschung der Pandemien in der Geschichte der Menschheit lernen? Und welche Schlussfolgerungen kann man ziehen für den gesellschaftlichen und politischen Umgang mit ihnen?Schon seit Längerem beschäftigt sich die Medizingeschichte mit den "bedrohlichen und sich rasch verbreitenden" Krankheiten in der Geschichte der Menschheit. Zu diesen hochansteckenden und epidemisch oder gar pandemisch auftretenden Infektionskrankheiten (Seuchen) liegt deshalb auch bereits eine umfängliche wissenschaftliche Literatur vor.
Geschichte der epidemischen Krankheiten
Eine bewusst medizin-historisch intendierte Forschung zur Geschichte der epidemischen Krankheiten begann im 18. Jahrhundert, was einige monographische Darstellungen v.a. zur Geschichte von Pest, Syphilis, Pocken und Aussatz belegen, und wurde im 19. Jahrhundert fortgesetzt. Eine "Weltgeschichte der großen Epidemien"[1] legte 1882 Heinrich Haeser mit dem dritten Band seines "Lehrbuch[s] der Geschichte der Medicin"[2] vor. Sie war Ergebnis einer gezielten und umfassenden Bearbeitung historischer Überlieferungen zu epidemischen Krankheiten aus eindeutig und ausschließlich historischem Interesse. Doch hatte sich Haeser einst – zumindest zeitweilig – der Historiographie der Seuchengeschichte auch unter der Motivation gewidmet, zur medizinischen Klärung der Ursachen und Ätiologie von epidemischen Krankheiten beizutragen.Da noch Anfang des 19. Jahrhunderts die Ursachen der Seuchenentstehung weder durch die Anhänger der Lehre von den Krankheitskonstitutionen[3], noch durch die "Kontagionisten"[4] geklärt werden konnten, griff man schließlich (auch angeregt durch die Ende des 18. Jahrhunderts einsetzende "Historisierung der Natur")[5] zusätzlich auf die Beobachtung früherer Generationen zurück. Eine Forschungsrichtung, von der unter diesem Gesichtspunkt, neue Einsichten in die Problematik der Seuchenentstehung und -verbreitung erhofft wurden, war die sich im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts herausbildende "historische Pathologie"[6]. Die historische Pathologie als "Darstellung von dem Verhalten und der Gestaltung der Krankheiten innerhalb der einzelnen, von dem Menschengeschlechte durchlebte [sic!] Zeiträume"[7] wurde im 19. Jahrhundert insbesondere von Justus Friedrich Carl Hecker (1795-1850), Heinrich Haeser (1811-1884)[8] und August Hirsch (1817-1894) vertreten. Vor allem Hecker habe – so der spätere Medizinhistoriker Hirsch – erstmals "seinen Blick über die Gränzen Dessen, was man bis dahin 'Geschichte der Krankheiten' genannt hatte", erhoben und "die großen Volkskrankheiten als das Product einer zahlreichen Reihe von Factoren auffassen [gelehrt], die ebenso in der jeweiligen physischen und psychischen Stimmung des Menschen selbst, wie in den wechselnden Gestaltungen des politischen und sozialen Lebens, in den Einflüssen athmosphärischer und tellurischer Bewegungen gegeben sind"[9].
Die rein empirisch begriffene und betriebene "historische Pathologie", die zusätzlich auch für vieles Spekulative offen war, musste zwangsläufig schon bald mit Bemühungen um eine zunehmend naturwissenschaftliche Fundierung der Medizin in Konflikt geraten – und von dorther Kritik erfahren. Zudem wurde von ihr seit Mitte des 19. Jahrhunderts kaum noch ein Beitrag zum Erkenntnisfortschritt der Pathologie erwartet. Und dennoch gab 1860 bis 1864 der Hygieniker und Medizinhistoriker August Hirsch sein "Handbuch der historisch-geographischen Pathologie" heraus, das sogar noch 1881 bis 1886 in drei Bänden eine zweite Auflage erlebte, obwohl die Bakteriologie bereits in voller Blüte stand und weitgehend das wissenschaftliche Profil der medizinischen Forschung beherrschte. Neu war die konsequent verfolgte Zusammenführung bzw. Synthese von Geschichte und Geographie der Krankheiten[10]. Ihr maß Hirsch (noch immer) eine eminente Bedeutung für die Ätiologie und Pathogenese epidemischer Krankheiten bei, denn offenbar erkannte er bereits die Grenzen der von ihm durchaus "als einen großen Fortschritt in der Lehre von den Krankheitsursachen" begrüßten bakteriologischen Forschung. Sie könne zwar die direkte Ursache und den Übertragungsmodus infektiöser Erkrankungen feststellen, jedoch keine ausreichende Erklärung für die "Gelegenheitsursachen" geben, d.h. für die Gründe, warum es nur manchmal und in bestimmten Gegenden zum epidemischen Auftreten von Krankheiten kommt. Übrigens gilt die Beobachtung auch für Pandemien. Obwohl sie im Unterschied zu Epidemien örtlich nicht beschränkt, länder- und kontinenteübergreifend sind, kann es auch hier von der Krankheit nicht betroffene Gebiete geben.
In den Tagen der jungen Bakteriologie und einseitigen Überschätzung der Mikroorganismen als alleiniger Krankheitsursache blieben die von Hirsch formulierten Aufgaben und Ziele einer historischen Epidemiologie jedoch völlig unberücksichtigt. Zwar wurde Anfang des 20. Jahrhunderts die Idee insbesondere von Medizinhistorikern (in Deutschland v.a. Karl Sudhoff und Georg Sticker), aber auch von Epidemiologen und Klinikern neu aufgegriffen – nun unter neuen Gesichtspunkten sowie auf der Grundlage neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse und Arbeitsmethoden. Und der Medizinhistoriker Erwin Ackerknecht kommt 1963 zur Einschätzung, dass der "ungemein rasche Wechsel der Krankheitslandschaft unter dem Einfluss sozialer Veränderungen und moderner Behandlungsmethoden" allein schon überzeugend(er )[11] gewirkt habe, dass "Geschichte und Geographie der Krankheiten Realitäten sind"[12]. Aber selbst er muss eingestehen, dass "trotzdem Geschichte und Geographie der Krankheiten in Lehre und Forschung noch immer nicht stärker gepflegt werden"[13] .
Tatsächlich blieb die historische Epidemiologie eine Domäne der Medizingeschichte. Für diese ist jedoch nicht das pathologische Geschehen an sich Untersuchungsgegenstand, weshalb sie auch nicht (mehr) den Anspruch erhebt, zum Erkenntnisfortschritt der Pathologie von Seuchen beizutragen. Vielmehr verfolgt sie das Ziel, die Geschichte der Seuchen im Kontext der jeweiligen sozialen, kulturellen, religiösen, wirtschaftlichen, wissenschaftlichen Bedingungen und Entwicklung der betroffenen Regionen/Länder zu untersuchen, zunehmend auch in Unterscheidung von individueller und gesellschaftlicher inkl. staatlicher Wahrnehmung, Deutung, Reaktion und Handlung. Allerdings sind die jeweils epochen- und kulturabhängigen Prozesse und Faktoren, die die "Geschichte der Seuchen" bedingt haben (soweit überhaupt bislang erforscht, bekannt, wissenschaftlich begründet[14]), nicht gleichzusetzen oder unmittelbar übertragbar. Deshalb lassen sich aus der historischen Erkenntnis keine konkret-praktischen Lösungen oder Handlungsanweisungen für die aktuelle Situation ableiten.
Medizingeschichte als Erkenntnisquelle
Gegenwärtig gefragt ist die medizinhistorische Expertise zur Bewertung des gesellschaftlichen und politischen Umgangs mit einer grassierenden Pandemie; Politik und Gesellschaft sollen sozusagen aus der Geschichte Lehren für die aktuellen Herausforderungen der Pandemie ziehen[15] . Dieses Ansinnen ist aber keineswegs erstmalig, sondern wieder mit der jetzigen COVID-19-Pandemie formuliert worden. Erinnert sei etwa an die 'Rememorierung' der sog. "Spanischen Grippe" (1918-1920) mit dem Auftreten von Influenza-Pandemien in jüngerer Vergangenheit.Als die in ihrem Ausmaß – sowohl in Verbreitung als auch Schweregrad (wofür als Indikatoren die Letalität, Morbiditäts- und Mortalitätsrate herangezogen werden) – und ihrer Auswirkung auf das gesellschaftliche Leben verheerendsten und zugleich gefürchtetsten Seuchen in der Menschheitsgeschichte werden vor allem die Pest[16], der "Englische Schweiß"[17], Cholera, Typhus, Pocken und die Virusgrippe (Influenza)[18] genannt[19]; unter den "neuen" Infektionskrankheiten haben sich AIDS[20] und SARS[21] zu Pandemien entwickelt.
Wohl am umfänglichsten in der Seuchengeschichte dürften die Pestpandemien medizinhistorisch erforscht worden sein, v.a. der "Schwarze Tod" im späten Mittelalter. Zumindest liegt hierzu inzwischen eine zahlenmäßig besonders reichhaltige Literatur vor, die zunehmend auch gerade die kulturhistorisch bedeutsamen Aspekte in den Blick zu nehmen anstrebt, nach Wahrnehmungs- und Deutungsmustern für Seuchen fragt und ihre politischen und kulturhistorisch relevanten Folgen herauszuarbeiten versucht[22].
So stellt etwa Dinges als "politische Implikationen der Wahrnehmung der Pest" in der Frühen Neuzeit[23] drei Modi fest: 1. Territoriale und konfessionelle Abgrenzungsstrategien durch Fremdzuschreibung[24] , 2. innergesellschaftliche Zuschreibungen[25] und 3. (Selbst)Zuschreibung von politischer Lösungskompetenz[26](von der Kirche über die Obrigkeiten zu den Spezialisten).
Politische Implikationen
Ein direkter Vergleich oder eine Übertragung von historischen Prozessen und Denkmodellen auf die Gegenwart verbietet sich natürlich, doch in wissenschaftshistorischer Analyse und Wertung der Seuchengeschichte – selbst der Pest, die in Europa schon längst verschwunden ist – werden durchaus Aspekte offenbar, die auch heute noch von Relevanz sind. Um bei dem Beispiel der "politischen Implikation der Wahrnehmung" zu bleiben: Auch bei der derzeitigen COVID-19-Pandemie wird die Verursachung und damit eine Schuld anderen Akteuren (Personen oder Staaten) zugeschrieben. In der säkularisierten Welt wird hierfür nicht mehr das Argument der Sündhaftigkeit und deren Bestrafung durch Gott gebraucht, sondern angesichts der bestehenden wirtschaftlichen und politischen Konkurrenz- bzw. Machtkonstellation die Unterstellung organisatorischer/logistischer oder gesundheitspolitischer Unfähigkeit bzw. falscher Handlungsweise bemüht. Innerhalb der betroffenen Staaten wird zusätzlich der Vorwurf laut, bestimmte Bevölkerungsgruppen (hier sind es wieder die sozialen "Unterschichten" oder sog. "bildungsfernen Schichten" – als wäre dies ihr selbst gewolltes Schicksal), einschließlich ethnischer Minderheiten, verhielten sich falsch oder uneinsichtig. Und nicht zuletzt wird auch das Problem der Migration/Immigration mit der Pandemie politisiert, obwohl deren eigentliche Ursachen nicht durch "Corona" bedingt sind, sie haben durch die Pandemie "nur" eine Zuspitzung und damit größere Wahrnehmung erfahren. Für die Bewertung des gesellschaftlichen und politischen Umgangs mit der derzeitigen COVID-19-Pandemie wäre vielleicht der Vergleich mit der als "Spanische Grippe"[27] bezeichneten Influenza-Pandemie 1918-1920 noch aufschlussreicher.Es war das erste Mal, dass die Influenza globalhistorisch in Erscheinung trat und sie war "mit Abstand der größte Influenza-Ausbruch der Geschichte"[28]. Dennoch wurde diese erste Influenza-Pandemie des 20. Jahrhunderts sozusagen "ausgestanden". Grund war aber nicht nur, dass keine erfolgreichen Gegenmittel (Arzneimittel/Impfung) zur Verfügung gestellt werden konnten, zumal in Wirkmächtigkeit des "bakteriologischen Denkstils" und trotz bereits in den 1890er Jahren geäußerten Zweifeln an einer bakteriologischen Genese[29] das 1892 von Richard Pfeiffer (1858-1945) entdeckte Bakterium "Haemophilus influenzae" als entscheidendes Pathogen der Influenza ausgemacht wurde.[30]. Von entscheidendem Einfluss war vielmehr die politische Situation in unmittelbarer Auswirkung des Ersten Weltkrieges. So wurde im Deutschen Reich die breitere Öffentlichkeit nur zögerlich über die "Spanische Grippe" in Kenntnis gesetzt, Berichte über die Erkrankung und deren Ausmaß wurden bewusst zurückgehalten[31] . Während des Ersten Weltkrieges unterlagen deutsche Zeitungen nicht nur einer Zensur, sondern viele Sachverhalte wurden im Sinne einer patriotischen Berichterstattung dargestellt, etwa, dass insbesondere Soldaten der Entente-Mächte von der Influenza betroffen seien. Und während die Zeitungen die Influenza als neue Modekrankheit diffamierten, gingen sie aber durchaus auf die "Russische Grippe" von 1889 und deren Folgen ein. Während der gravierenden zweiten pandemischen Welle im Herbst 1918 wurde v.a. eine Strategie der Beschwichtigung der Bevölkerung betrieben: Es handele sich um ein gutartiges Auftreten der Influenza, die Gesundheitsbehörden nähmen sich der Eindämmung und Bekämpfung der Seuche an. Schuld an der Ausbreitung sei die schlechte Ernährungslage – wobei vermieden wurde, den Krieg als ursächlich für die desolate Versorgungslage zu nennen. Auch das Nichtbefolgen von Hygienerichtlinien habe die Ausbreitung der Influenza befördert. Dabei hatte der vom Reichsgesundheitsamt einberufene Reichsgesundheitsrat überhaupt erst im Oktober 1918[32] allgemeine Belehrungen zur persönlichen Hygiene in Aussicht gestellt, die über die Presse verbreitet werden sollten. Die Verhaltensmaßregeln beinhalteten die Mahnung zum regelmäßigen Händewaschen, Gurgeln mit Salzwasser und zur Einhaltung der Bettruhe sowie (falls zu einer Risikogruppe zugehörig) zur Meidung von Menschenansammlungen[33]. Die zunächst angedachte Schließung von Schulen und Theatern oder Versammlungsverbote wurden dann doch nicht für erforderlich gehalten[34].
Gelegentlich wurden Desinfektionsmaßnahmen durchgeführt, eine Meldepflicht der Influenza bestand jedoch schon deshalb nicht, da kriegsbedingt das zur Erfassung nötige Personal (einschließlich Schreibkräfte) fehlte. Vertreter der preußischen Behörden, die keine systematische Bekämpfung der Influenza veranlassten, verteidigten ihr zögerliches Vorgehen mit Hinweis auf die Schweiz, deren Maßnahmen – Meldepflicht, Sperrstunden, Untersagung größerer Veranstaltungen – ohne messbare Auswirkungen auf die Morbidität gewesen seien[35]. Hinsichtlich der behördlichen, gesundheitspolitisch indizierten Maßnahmen ist aber auch immer mit zu bedenken, dass die Bakteriologie im Kaiserreich eine wichtige Rolle in der staatlichen Seuchenbekämpfung[36] spielte, und auch im Sanitätswesen hochgeschätzt wurde. Denn in gegenseitiger Sympathie von Militär und Bakteriologie bestand eine sowohl konkrete als auch metaphorische Berührung mit dem Phänomen von Kampf und Krieg, die für das Erscheinungsbild der Bakteriologie wichtig war[37].
Interessant ist vor allem aber die Wahrnehmung bzw. Rezeption der Influenza-Pandemie nach 1920. Obgleich offensichtlich von den Bürgern – zumindest lassen überlieferte persönliche Zeitzeugenberichten darauf schließen[38] – die ("komische neue", unbekannte) Seuche mit ihren Auswirkungen auf das gesellschaftliche Leben als Gefahr und Bedrohung wahrgenommen wurde, blieb sie kaum im kollektiven Gedächtnis erhalten. Man mag der Vermutung von Jacobsen zustimmen, "dass durch die Schrecken des gerade beendeten Ersten Weltkriegs die Menschen so an Kummer gewöhnt waren, dass es nicht zu Angst und Panik kam wie bei vielen Seuchen zuvor"[39]. Doch dürfte daran auch oder insbesondere die öffentliche Vermittlung einen großen Anteil gehabt haben, besser gesagt das Desinteresse und ein fehlendes Krisenbewusstsein der Behörden und damit ein Herunterspielen der Gefahr[40]. In der Öffentlichkeit fand somit kaum ein Diskurs zur "Spanischen Grippe" statt[41] ; er verlagerte sich vielmehr und fast ausschließlich auf den wissenschaftlichen Bereich. Denn die "Spanische Grippe" beschäftigte ab 1920 vor allem Wissenschaftler und Ärzte bezüglich der Frage, wieso die Influenza nicht effektiv bekämpft werden konnte und welche Ansätze jenseits der bisher verfolgten bakteriologischen Erklärung denkbar wären[42].
Eine omnipräsente 'Rememorierung' der "Spanischen Grippe" erfolgte v.a. mit dem pandemischen Auftreten der Schweinegrippe 2009/10[43], doch habe dies nach Rengeling selten zu einer adäquaten Analyse der gegenwärtigen (2009) epidemiologischen Ereignisse geführt[44]. Und auch generell sind offensichtlich die von der medizinhistorischen Forschung zur Seuchengeschichte erbrachten Ergebnisse und Schlussfolgerungen von der Öffentlichkeit und den (politischen) Entscheidungsträgern nahezu unberücksichtigt geblieben.
Nun sind die ermittelten Angaben für "historische" Seuchen aufgrund der schlechten Datenlage (an verwertbaren Quellen/Statistiken) mit sehr großen Unsicherheiten behaftet. Dies wird umso deutlicher, wenn selbst die WHO 2008 nur etwa ein Drittel aller weltweiten Influenza-Todesfälle aus den Sterberegistern von 112 Staaten erfassen konnte. In der modernen Epidemiologie muss unter Berücksichtigung der oftmals schlechten Datenlage und der komplexen Mechanismen einer weltweiten Verbreitung von Infektionskrankheiten häufig auf stark vereinfachte, lineare Modelle zurückgegriffen werden, die auf einem eindeutig definierten Status von Populationen basiert (z.B. vulnerabel, exponiert, erkrankt, tot oder geheilt). Die erhobenen Daten werden mit einem umfangreichen statistischen Instrumentarium ausgewertet und als aggregierte Informationen im Rahmen von Tabellen, Graphen und kartographischen Darstellungen sichtbar gemacht[45]. Dieses Modells und methodischen Verfahrens bedient sich auch die historische Epidemiologie, nur sind allein die hierfür notwendigen Grunddaten aufgrund der Quellenlage weitaus schwieriger zu verifizieren; außerdem können weder an historische Quellen moderne medizinische Maßstäbe angelegt (siehe Anm.19), noch die jeweiligen epidemiologischen Ereignisse und Bedingungen gleichgesetzt werden.
Schlussfolgerungen aus der Seuchengeschichte für die aktuelle COVID-19-Pandemie
Dennoch lassen sich in Kenntnis und Wissen der Seuchengeschichte (im historischen Kontext), einschließlich und insbesondere der jeweiligen konzeptionellen Grundlagen und Strategien sowie Maßnahmen zur Seuchenbekämpfung, auch grundsätzliche Aussagen zur Bewertung des gesellschaftlichen und politischen Umgangs mit gegenwärtigen Epidemie- und Pandemiegeschehen ableiten, speziell in Bezug zur aktuellen COVID-19-Pandemie. So ist schon nur in oberflächlicher Betrachtung auffällig, dass und wie sich bestimmte Paradigmen gleichen, mitunter sogar Stereotype in der Argumentation fortgeschrieben werden. Auf die Problematik "Schuldzuweisung" und Migration/Immigration ist bereits verwiesen worden. Eine Parallele z.B. zur "Spanischen Grippe" scheint sich auch hinsichtlich des Einflusses und der Dominanz exakter Naturwissenschaften (damals Bakteriologie, jetzt Virologie) auf die Gesundheitspolitik abzuzeichnen. Selbstverständlich ist der exakte Nachweis der Krankheitsursache für Entscheidungen von notwendigen Regelungen und Maßnahmen im öffentlichen Gesundheitswesen zur effektiven Bekämpfung einer Epi- oder Pandemie unabdingbar. Allerdings dürfen nicht nur die unmittelbaren Folgen durch das Virus, sondern müssen auch die mittelbaren Folgen für den Gesundheitszustand der Bevölkerung durch die Maßnahmen bedacht werden. Auch bezüglich der öffentlichen Wahrnehmung und Aufklärung lassen sich aus der Seuchengeschichte Schlussfolgerungen für die aktuelle Situation ziehen. Zwar ist im Gegensatz etwa zur "Spanischen Grippe" die derzeitige Pandemie nicht verharmlost worden, doch die sehr komplexen epidemiologischen Zusammenhänge und Faktoren lassen sich nicht mit der bloßen Angabe der (wie auch immer erhobenen) Infektionszahl verständlich machen.In historischer Bewertung der Seuchengeschichte kann die Medizingeschichte zu Erkenntnissen beitragen, aus der Politik und Gesellschaft "Lehren" für die aktuellen Herausforderungen ziehen können – und zwar nicht nur zur Bekämpfung einer bereits "präsenten" Epidemie/Pandemie, sondern auch zur "Vorbeugung", d.h. zu Zwecken des Seuchenschutzes.
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