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Ägyptens Weg in die Moderne | Afrika | bpb.de

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Ägyptens Weg in die Moderne

Fouad Ibrahim / Sonja Hegasy / Detlef Müller-Mahn / Gamal Abdelnasser

/ 18 Minuten zu lesen

Die Wasserversorgung durch den Nil ist für Ägypten von zentraler Bedeutung. Sie ist ein Argument für den ökonomischen Wandel zur Moderne, den das Land erfolgreich bewältigt hat. Welche Auswirkungen können dennoch Bevölkerungswachstum, Urbanisierung sowie gesellschaftliche und räumliche Disparitäten für das Land haben?

Auszug aus:
Informationen zur politischen Bildung (Heft 272) - Ägyptens Weg in die Moderne

Einleitung

Fouad Ibrahim

Der Nil durchquert in seinem Verlauf von Süd nach Nord verschiedene Klima- und Vegetationsgürtel wie den immergrünen tropischen Regenwald mit über 1600 Millimeter Niederschlägen, die vorwiegend im Frühjahr und im Herbst fallen, den Höhenwald Äthiopiens, der im Sommer Monsunregen empfängt, die Feuchtsavanne mit mehr als sechs Niederschlagsmonaten (humid) sowie die Trockensavanne der Sudanzone, die Dornstrauchsavanne der Sahelzone, die Wüstenlandschaft der Ostsahara und schließlich die mediterrane Wüstensteppe. Im Nordsudan und im gesamten Ägypten ist der Nil ein Fremdlingsfluss. Er fließt hier über eine Strecke von 2700 Kilometern durch Halbwüsten und Wüsten, ohne nennenswerten Zufluss zu erhalten und verliert durch Verdunstung und Versickerung beachtliche Wassermengen.

Zentrale Bedeutung der Wasserversorgung

Fouad Ibrahim

Keiner der Nilanrainerstaaten ist in gleicher Weise vom Nilwasser abhängig wie Ägypten, das ohne den Nil praktisch ein reiner Wüstenstaat wäre. Als Herodot Ägypten als "ein Geschenk des Nils" bezeichnete, meinte er damit nicht nur das lebensspendende Wasser, sondern auch den fruchtbaren Nilschlamm, der zu allen Zeiten die Grundlage der ägyptischen Landwirtschaft und damit der Ernährung der Bevölkerung des Landes bildete.

Vor Inbetriebnahme des Hochstaudammes von Assuan Ende der sechziger Jahre wurden im Durchschnitt jährlich auf jedem Hektar Land in der ägyptischen Nilaue 20 Tonnen fruchtbarer, aus den vulkanischen Aschen Äthiopiens stammender Sedimente angeschwemmt. Seitdem lagert sich der Schlamm beim Eintritt des Nils in das Staubecken ab, wo er keinen Nutzen bringt, sondern das Stauvolumen kontinuierlich verringert. Auf den Feldern des Niltals und -deltas versuchen die Bauern heute, sein Ausbleiben durch Kunstdüngergaben zu kompensieren.

Assuan-Staudamm

Um das Wasser des Nils trotz der Saisonalität seines Abflusses optimal zu nutzen, wurden schon früh Wasserbauten entlang seiner Ufer errichtet. So entwickelten die Ägypter vor circa 5000 Jahren die Beckenbewässerung, indem sie das Nilwasser in der Zeit der Hochflut in große eingedämmte Becken in der Nilaue leiteten. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts wurden in Ägypten und im Sudan eine Reihe von Staudämmen errichtet, um den Wasserspiegel des Flusses zu heben und sein Wasser in Bewässerungskanäle einleiten zu können. Diesem Zweck diente auch der 1902 erbaute und später erhöhte alte Staudamm von Assuan. Der ihm zugehörige Stausee hatte eine Kapazität von 5,3 Milliarden Kubikmetern. Sein Wasser sollte in erster Linie im Frühsommer zur Bewässerung der Baumwollkulturen dienen. Der in den sechziger Jahren errichtete Sadd el-Ali, der Hochstaudamm von Assuan, mit seiner Kapazität von über 160 Milliarden Kubikmetern Wasser, wurde als Überjahresspeicher konzipiert. Mit seinem Bau verfolgte man folgende Ziele:

  • Erweiterung der Agrarfläche Ägyptens um 22 Prozent durch eine zusätzlich zur Verfügung stehende Menge von 7,5 Milliarden Kubikmetern Bewässerungswasser,

  • Umstellung von 409000 Hektar Agrarland von saisonaler Beckenbewässerung auf Dauerbewässerung,

  • Schutz Ägyptens sowohl vor Schäden durch Hochwasser als auch durch Wassernot in Jahren mit geringem Nilabfluss sowie

  • Gewinnung von jährlich zehn Milliarden Kilowattstunden Hydroelektrizität.

Die drei zuletzt genannten Ziele wurden verwirklicht, die Ausdehnung der durch Nilwasser versorgten Agrarfläche blieb jedoch bislang aus. Die durch den Dammbau verursachten Folgeschäden geben darüber hinaus heute auch den Verantwortlichen in Ägypten zu ernster Sorge Anlass. Als folgenschwer erwies sich der Grundwasseranstieg im Niltal und -delta, der zur Verstärkung der Bodenversalzung führte. Salzhaltiges Grundwasser zerstört zunehmend auch die Fundamente der altägyptischen Denkmäler, die nicht nur als kostbares Weltkulturerbe gelten, sondern auch die Hauptanziehungspunkte des Tourismus im Lande darstellen, der das Rückgrat der ägyptischen Wirtschaft bildet. Allein 1999 verschaffte er nach offiziellen Schätzungen dem Lande Einnahmen von circa fünf Milliarden US-Dollar.

Es ist abzusehen, dass es in naher Zukunft zwischen Äthiopien, dem Sudan und Ägypten zu Auseinandersetzungen wegen des Nilwassers kommen wird. Sowohl Äthiopien als auch der Sudan haben bereits die Errichtung neuer Nilstaudämme angekündigt. Hierdurch wird Ägypten, dem zur Verwirklichung des Salam-Kanal-Projekts zur Bewässerung Sinais und des Toschka-Kanal-Projekts im Süden der Westlichen Wüste jetzt bereits circa fünf Milliarden Kubikmeter Wasser jährlich fehlen, Anteile am Nilwasser verlieren.

Ende Juni 2001 traf sich die Internationale Gruppe für Zusammenarbeit entlang des Nils erstmalig in Genf. Die teilnehmenden Minister der Nilanrainerstaaten Burundi, Kongo, Ägypten, Eritrea, Äthiopien, Kenia, Ruanda, Sudan, Tansania und Uganda wollen eine Arbeitsgruppe bilden, die wirtschaftliches Wachstum und Bewahrung der Umwelt gleichzeitig verwirklichen will. Insgesamt will man drei Milliarden US-Dollar in einem "Programm der gemeinsamen Visionen" in Projekte der sozialen und der Umweltentwicklung investieren. Strittige Fragen wie die der Fertigstellung des Jonglei-Kanals durch den Südsudan (siehe Seite 52), mit dem sich – bei nachhaltigen ökologischen Schäden für die Sumpfregionen des Sudd – das Wasserangebot für Ägypten deutlich erhöhen würde, wurden allerdings nicht angesprochen.

Politisches System

Sonja Hegasy

Die Arabische Republik Ägypten, der eine zentrale Bedeutung in der Region zukommt, hat ein präsidiales Regierungssystem mit einer Mehrparteienlandschaft und einer Verfassung, die widersprüchliche sozialistische, demokratische und islamische Prinzipien beinhaltet. Die drei Präsidenten Gamal Abd el Nasser, Anwar as-Sadat und Hosni Mubarak haben das Land auf sehr gegensätzliche Weise geprägt.

Nasser erklärte während seiner Präsidentschaft (1954–1970) Ägypten zu einem blockfreien Staat und nutzte den Kalten Krieg mehrmals gewinnbringend für sein Land, indem er die USA und die Sowjetunion bei großen Entwicklungsprojekten (zum Beispiel beim Assuan-Staudamm) gegeneinander ausspielte. Nasser verband eine staatskapitalistische Wirtschaftspolitik mit pan-arabischen, nationalistischen Ideen, die jedoch nur zu einer kurzen Union mit Syrien führten (1958–1961).

Sadat nahm in seiner Regierungszeit (1970–1981) die staatliche Regulierung der Wirtschaft wieder zurück. Seine wirtschaftliche Liberalisierung, seine politische Öffnung hin zum Westen und sein Vorstoß zu einem Friedensschluss mit Israel 1978 bedeuteten eine vollkommene Abkehr vom "arabischen Sozialismus" nasseristischer Prägung und einen Schock für die arabische Welt. 1979 fror die Arabische Liga (ein 1945 in Kairo konstituierter Zusammenschluss von heute 22 arabischen Staaten mit dem Ziel der Förderung der Beziehungen der Mitgliedstaaten, der Wahrung der arabischen Interessen sowie der Schlichtung und Vermittlung in Streitfällen) ihre Beziehungen zu Ägypten ein und verlegte ihren Sitz von Kairo nach Tunis. Drei Jahre nach dem in Camp David vermittelten Friedensschluss zwischen Ägypten und Israel wurde Anwar as-Sadat 1981 während einer Parade von islamistischen Militärs erschossen.

Mubarak (seit 1981) hat es geschafft, das Erbe beider Persönlichkeiten anzutreten. Zum einen hat er die kapitalistische Öffnungspolitik und die westliche Ausrichtung Sadats fortgeführt, zum anderen hat er den Rückzug des Staats aus der Wirtschaft verlangsamt und der Sozialpolitik im Gegensatz zu den Auflagen des Internationalen Währungsfonds einen höheren Stellenwert eingeräumt. Seit 1997 verfügt Ägypten über ein attraktives Investitionsgesetz und die nötigen rechtlichen Rahmenbedingungen für ausländische Direktinvestitionen. Auch distanzierte Mubarak sich stärker von der politischen Bindung an die USA und von der Friedenspolitik mit Israel, um sich der islamischen Welt wieder anzunähern. Sein Kalkül ging auf und so ist Ägypten heute ein Land, das eng mit den USA verbündet ist, aber auch deutlich sagen kann, wo es entgegengesetzte strategische Ziele verfolgt (wie zum Beispiel durch seine Beziehungen zu Libyen, Iran oder dem Irak). 1990 wurde Kairo wieder Sitz der Arabischen Liga.

Ägypten und Israel

Trotz des Friedensabkommens von Camp David (1978) entwickelte sich nur ein zurückhaltender politischer Dialog zwischen Ägypten und Israel. Der Friedensprozess war in erster Linie ein Regierungsgeschäft gewesen, aber nie sonderlich populär bei der Bevölkerung. 1979 nahmen beide Länder diplomatische Beziehungen auf. Langsam zog die Geschäftswelt nach und baute erste Joint Ventures auf, die jedoch möglichst diskret abgewickelt wurden. Schriftsteller, Künstler und die ägyptische Zivilgesellschaft verweigern aufgrund des ungelösten Konflikts mit den Palästinensern strikt jeglichen Dialog mit israelischen Intellektuellen.

Demokratisierung

Nach dem Militärputsch 1952 löste Nasser das alte Mehrparteiensystem auf, das sich seit Anfang des Jahrhunderts entwickelt hatte und baute ab 1962 die "Arabische Sozialistische Union" als Einheitspartei auf. Unter Nasser erhielten die Frauen 1956 das aktive und passive Wahlrecht. Sadat führte das Mehrparteiensystem 1976 wieder ein. Bis heute wurden 15 Parteien zugelassen. Über ihre Gründung entscheidet ein Komitee für Angelegenheiten der politischen Parteien. Parteien auf religiöser Grundlage sind ebenso verboten wie die Kommunisten. Wahlen finden in regelmäßigen Abständen auf allen Ebenen der Legislative statt. Nach den Parlamentswahlen 2000 sind fünf Parteien im Parlament vertreten sowie die illegalen, aber geduldeten Muslimbrüder, die unabhängige Kandidaten (und eine Kandidatin) aufgestellt hatten. Allerdings ist die Sitzverteilung extrem ungleich, so dass echte Oppositionspolitik schwierig ist: Die Regierungspartei, National Democratic Party, hat 388 der 444 Sitze. Die liberale Neo-Wafd stellt dagegen nur sieben Abgeordnete, die sozialistische Tagammu sechs, die Nasseristen zwei und die liberale Partei al-Ahrar einen Abgeordneten. Weitere zehn Abgeordnete werden direkt vom Präsidenten nominiert. Darunter sind immer einige Frauen und einige Kopten.

QuellentextKoptische Minderheit

Etwa zehn Prozent der ägyptischen Bevölkerung sind Kopten. Mit sechs Millionen sind sie die größte christliche Gemeinschaft in der arabischen Welt. Das Wort Kopt(en) leitet sich von "Aigyptos", der griechischen Bezeichnung für Ägypten ab. 92 Prozent der Christen in Ägypten gehören der koptisch-orthodoxen Kirche des Patriarchats von Alexandria an. Das geistliche Oberhaupt der orthodoxen Kopten ist derzeit Papst Shenuda III.

Die Emanzipation der Kopten erreichte ihren Höhepunkt in der liberalen Epoche ägyptischer Geschichte in den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts, als Kopten – im Rahmen eines konstitutionell-demokratischen und relativ säkularen Systems – in nahezu allen Bereichen des kulturellen, politischen, sozialen und wirtschaftlichen Lebens des Landes eine bedeutende Rolle gespielt haben.

Die Juli-Revolution von 1952 bedeutete für die Kopten einen Rückschlag. Das Militärregime ersetzte die liberale durch eine autoritäre Ordnung. Die "Wafd", die Partei der nationalen Einheit von Muslimen und Kopten, mit der die Mehrzahl der Kopten loyal verbunden war, wurde verboten. Die Verstaatlichungen entzogen dem koptischen Bürgertum die ökonomische Grundlage politischen Einflusses. Die Monopolisierung und Vereinheitlichung von Rechtsprechung, Medien und Kultur führte zu einer Marginalisierung der Kopten im öffentlichen Raum und dem Beginn des Rückzuges in die konfessionelle Gemeinschaft.

Kopten sind in allen Schichten und Berufen vertreten, überproportional im Privatsektor tätig und in der öffentlichen Verwaltung unterrepräsentiert. Alteingesessene koptische Familien spielen jedoch seit mehreren Generationen eine wichtige Rolle in der Politik, wie die Familien des ehemaligen UN-Generalsekretärs Boutros Boutros Ghali oder der Umweltministerin Nadia Ebeid.

Etwa 50 Prozent von ihnen leben in den Städten, davon die Hälfte in Kairo. In den Provinzen Asyut, Minya, Qena und Suhag liegt der koptische Bevölkerungsanteil zwischen 20 und 40 Prozent, im Nildelta zwischen ein und drei Prozent.

Die Lage der Kopten spiegelt den Zustand von Staat und Gesellschaft wider. Die konfessionellen Auseinandersetzungen sind ein Symptom der Krise Ägyptens, deren Überwindung eine der großen Herausforderungen der Zukunft ist. Mit dem Erstarken zivilgesellschaftlicher Kräfte seit dem Ende der achtziger Jahre, dem Niedergang des politischen Islams, zunehmender Kritik an der weltlichen Rolle der Kirche und Veränderungen in der politischen Kultur deuten sich Entwicklungen zu mehr Akzeptanz von gesellschaftlichem, politischem und religiösem Pluralismus in Ägypten an.

Georges Khalil

Erstaunlich sind die hohe Wahlbeteiligung auf dem Land (circa 70 Prozent) und die niedrige Beteiligung in der Stadt (circa zehn Prozent). Sie erklären sich daraus, dass Familien und Betriebe auf dem Land noch immer geschlossen zur Wahl gehen bzw. ihr Stimmrecht an das Familienoberhaupt oder den Firmenchef abgeben. Der Präsident der Republik wird direkt in einem Referendum gewählt. Hosni Mubarak wurde 1999 mit 94 Prozent der Stimmen zum vierten Mal in seinem Amt bestätigt. Gegenkandidaten gab es bisher noch nie. Nach der Ermordung Sadats übernahm Mubarak als Vizepräsident die Regierungsgeschäfte. Er selbst hat noch keinen Stellvertreter ernannt, so dass viel über seine Nachfolge spekuliert wird. Bisher kamen alle ägyptischen Präsidenten aus den Reihen der Armee.

Nach dem Attentat auf Sadat 1981 wurde das Ausnahmerecht erneut ausgerufen, das zuvor in Krisenzeiten mehrfach verhängt worden war, zum Beispiel während der Kriege mit Israel oder interner Aufstände, wie 1977 der "Brotrevolte". Während des Ausnahmezustands können Zivilisten vor Militärgerichte gestellt werden. Obwohl in politischen Prozessen vor Sondergerichten die richterliche Unabhängigkeit häufig in Zweifel zu ziehen ist, kam es doch immer wieder zu überraschenden Richtersprüchen. So überraschten 1995 die Freisprüche von angeblich militanten Islamisten vor Notstandsgerichten der Staatssicherheit. In den Urteilsbegründungen wurde vor allem der dringende Verdacht geäußert, die Angeklagten seien in Untersuchungshaft gefoltert worden. In den Prozessen gegen die oppositionellen Muslimbrüder zeigt sich jedoch, wie die politische Führung Militärgerichte einsetzt, um politische Gegner unter Druck zu setzen: Die zwar illegalen, aber weitgehend tolerierten Muslimbrüder wurden 1995 und 1999 jeweils im Vorfeld von Parlamentswahlen durch präsidialen Erlass vor Militärgerichte gestellt und konnten somit nicht an den Wahlen teilnehmen. Militärgerichte lassen darüber hinaus keine Berufungsverfahren zu.

Seit Anfang der neunziger Jahre kam es zu mehreren Parteineugründungen, die jedoch keine größeren gesellschaftlichen Interessengruppierungen widerspiegeln (1990 al-Khudr [Die Grünen], Misr al-Fatah, 1992 an-Nassiri, 1999 al-Wifaq al-qaumi). Gemäßigte Mitglieder der Muslimbrüder versuchten ebenfalls eine Partei der Mitte zu gründen (al-Wasat), die bisher jedoch nicht zugelassen wurde, da sie mit wesentlich mehr gesellschaftlichem Zuspruch rechnen kann.

QuellentextNagib Machfus

Man nennt ihn den „Balzac Ägyptens“, rückte ihn in die Nähe von Tolstoi, Dickens und Thomas Mann. Treffender als der Vergleich mit den Großen der Weltliteratur ist es jedoch, Nagib Machfus den „Vater des ägyptischen Romans“ zu nennen. [...] 1988 wurde ihm der Nobelpreis für Literatur verliehen. Damit hat er den Traum aller arabischen Literaten und Intellektuellen [...] verwirklicht: Die arabische Literatur hat endlich den universellen Durchbruch geschafft, der von drei Schriftstellergenerationen so sehr erhofft – und so vergeblich erwartet worden war. [...]

Nagib Machfus ist der Romancier der größten, faszinierendsten Stadt des Orients: Kairos. [...] Er wurde am 11. Dezember 1911 als Sohn einer Kleinbürgerfamilie in einem der ältesten historischen Viertel Alt-Kairos geboren und hatte an der Universität von Kairo Philosophie studiert. Doch bald nach Abschluss seines Studiums kam er in Konflikt zwischen den Geisteswissenschaften und der Schriftstellerei. Er hat sich für das Schreiben entschieden – für den Roman, eine Literaturgattung, die damals in der arabischen Welt noch völlig unbekannt war. „Bei uns“, so sagt er, „verstand man damals unter Literatur den Essay, die Poesie und die Geschichtsschreibung. Ein literarisches Werk wie beispielsweise ,Tausendundeine Nacht' – das einzige, das in Europa und auf der ganzen Welt berühmt und bekannt war – wurde an den ägyptischen Universitäten überhaupt nicht gelehrt oder behandelt. Man betrachtete ,Tausendundeine Nacht' als ein Produkt der Volksdichtung, das keinerlei literarische Bedeutung hatte.“

Nagib Machfus hat es als erster gewagt, schreibend „zu erzählen“. Damit hat er die reiche arabische Phantasie „literaturfähig“ gemacht. [...] Nagib Machfus hat alle Elemente der volkstümlichen Erzählkunst in sein episches Werk aufgenommen. Auf diese Weise hat er das klassische Arabisch aus seiner sprachlichen und religiösen Zwingburg befreit. Er gab ihm eine neue, lebendige und volksnahe Ausdruckskraft. Allein mit dieser neuen Sprache, die einfach, knapp und präzise war, konnte er die Wirklichkeit der ägyptischen Gesellschaft unseres Jahrhunderts beschreiben. [...]

Als engagierter Romancier setzte sich Nagib Machfus sein Leben lang für die Grundwerte des Humanismus ein – für Freiheit und Gerechtigkeit. Als aufgeklärter Zeitgenosse, der sich der Philosophie der Aufklärung verpflichtet fühlt, plädierte er zeit seines Lebens für eine Trennung zwischen Staat und Religion, das heißt für eine Säkularisierung der arabischen Gesellschaft. [...]

Erdmute Heller, „Vater des ägyptischen Romans“, in: Tages-Anzeiger, Zürich vom 10. Dezember 1988.

Pfeiler der Wirtschaft

Die wichtigsten Devisenquellen Ägyptens sind der Tourismus, die Suezkanal-Gebühren, Erdöl- und Baumwollexporte sowie die Überweisungen ägyptischer Gastarbeiter aus den reichen Ölländern. Keine dieser Quellen gewährleistet jedoch wirtschaftliche Stabilität. Der Rohölpreis schwankt heftig. 1999 kostete ein Fass elf US-Dollar. Achtzehn Monate später hatte er sich auf 34 US-Dollar verdreifacht. Und die Touristen bleiben sofort aus, wenn es zu Terroranschlägen kommt. Mitte der neunziger Jahre erlebte Ägypten eine Welle der Gewalt, die sich gegen den Tourismus richtete und somit das Land an einer sehr empfindlichen Stelle traf. "Der Weg zum Gottesstaat führt über leere Kassen" lautete die Begründung der Jama'at zu ihrem Terroranschlag auf Touristen in Luxor im Oktober 1997, bei dem 54 Ausländer starben.

1997 hätte das Jahr des ägyptischen Tourismus werden sollen. Allein im August des selben Jahres betrugen die Einnahmen aus dem Tourismus 476 Millionen US-Dollar. Aber das Massaker wirkte sich verheerend auf die ägyptische Wirtschaft aus. Die Einnahmen fielen um die Hälfte und zogen Einbußen in der Landwirtschaft nach sich, da die Hotelketten kein Obst und Gemüse abnahmen und ein Teil des Exports nicht mehr über Passagierflugzeuge abgewickelt werden konnte. Die Regierung reagierte mit Festnahmen und Polizeikontrollen im ganzen Land. Nach Angaben der "Islamischen Gruppe" befinden sich 35000 ihrer Anhänger in Haft; nach Angaben der Regierung sind es nur 10000. Inzwischen haben sich ihre Führer von der Gewalt distanziert und es ist zu keinen neuen Attentaten in Ägypten gekommen.

Auch die Rücküberweisungen der Gastarbeiter unterliegen saisonalen und politischen Schwankungen. Während des Kriegs zwischen dem Irak und Kuweit 1991 strömten hunderttausende ägyptische Gastarbeiter aus beiden Ländern zurück nach Hause. Darüber hinaus erhält Ägypten aufgrund seiner strategischen Rolle in der Region jährlich 1,3 Milliarden US-Dollar militärische und 800 Millionen US-Dollar zivile Hilfe aus den USA sowie 800 Millionen US-Dollar von der Europäischen Union. Trotzdem lebten 1995/96 23 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze (Egypt Human Development Report, 1996). Die hohe Bevölkerungszuwachsrate frisst die Gewinne immer wieder auf.

Bevölkerungswachstum und Urbanisierung

Detlef Müller-Mahn

Zwei Probleme sind kennzeichnend für die bevölkerungsgeographische Entwicklung in Ägypten während des vergangenen Jahrhunderts: Erstens hat sich die Schere zwischen der rasch wachsenden Bevölkerungszahl und den begrenzten Ressourcen an Kulturland und Wasser immer weiter geöffnet. Zweitens hat sich die räumliche Verteilung der Bevölkerung zwischen Land und Stadt deutlich verschoben, was auf die Transformation der ehemals agrarisch-ländlichen Gesellschaft im Zuge einer weit reichenden Urbanisierung zurückzuführen ist.

Zum ersten Problempunkt: Die Bevölkerung Ägyptens hat sich im 20. Jahrhundert auf heute gut 65 Millionen verfünffacht, während die Bewässerungsfläche trotz großangelegter Projekte nur um etwas mehr als die Hälfte auf 32700 Quadratkilometer ausgedehnt werden konnte. Die Knappheit von Kulturland und Wasser hat unmittelbare Auswirkungen auf die Versorgung der ägyptischen Gesellschaft mit Nahrungsmitteln und auf die Lebensbedingungen der bäuerlichen Bevölkerung.

Die pro Kopf verfügbare Bewässerungsfläche ging so weit zurück, dass heute rein rechnerisch ein Feld von der Größe eines Fußballplatzes für die Ernährung von zehn Ägyptern ausreichen müsste. Eine agrarische Selbstversorgung ist unter diesen Bedingungen inzwischen unmöglich. Auch bei intensiver Bewirtschaftung mit zwei Fruchtfolgen pro Jahr ist eine ausreichende Nahrungsmittelproduktion für die wachsende Zahl von Menschen nicht mehr zu leisten. Defizite der inländischen Nahrungsproduktion werden allerdings erst dann wirklich bedrohlich, wenn nicht in ausreichendem Umfang Devisen für Nahrungsmittelimporte erwirtschaftet werden können. Genau hier liegt die Herausforderung für die Zukunft des Landes: Ägypten muss eine Politik der Industrialisierung und Exportförderung verfolgen, um den steigenden Importbedarf finanzieren zu können. Ebenso sollte die Intensität der Landnutzung weiter erhöht und die nutzbare Kulturfläche ausgeweitet werden. Schließlich müssen auch die bevölkerungspolitischen Maßnahmen, die bereits zu einem moderaten Rückgang der Geburtenraten geführt haben, intensiv fortgesetzt werden.

Diese existenziellen Aufgaben werden nicht leicht zu realisieren sein: Die seit Anfang der neunziger Jahre auf Druck der internationalen Gebergemeinschaft betriebene wirtschaftliche Strukturanpassung soll die ägyptische Wirtschaft liberalisieren und damit international konkurrenzfähig machen. Dieses Ziel wurde bisher jedoch erst unvollständig erreicht, weil vor allem die Privatisierung der großen Staatsunternehmen auf massive Widerstände im Staatsapparat trifft. Zudem haben sich infolge der Strukturanpassung die Lebensbedingungen der ländlichen Armutsbevölkerung so weitgehend verschlechtert, dass mit einer zunehmenden Abwanderung in die Städte zu rechnen ist. Eine Intensivierung im Agrarsektor stößt auf enge ökonomische Grenzen, weil die kleinbäuerlich geprägte Landwirtschaft nicht allein der Marktversorgung dient, sondern auch der Produktion für den Eigenverbrauch. Eine steuernde Bevölkerungspolitik schließlich ist für die Regierung Mubarak ein problematisches Vorhaben, weil damit der Konflikt mit der radikalen islamistischen Bewegung riskiert wird.

Das Missverhältnis von Bevölkerungszunahme und Landknappheit führt noch in einer zweiten Hinsicht in ein Entwicklungsdilemma: Die über Generationen fortgesetzte Erbteilung beschleunigt die Verarmung der überwiegend kleinbäuerlichen Landbevölkerung. Sie hat inzwischen zu einer so extremen Fragmentierung des Landbesitzes geführt, dass heute nur noch ein Bruchteil aller landwirtschaftlichen Betriebe über eine für die Existenzsicherung erforderliche Mindestgröße von knapp einem Hektar verfügt.

Zusätzlich verschärft wurde die Armut auf dem Lande im Jahre 1997 durch die Änderung gesetzlicher Bestimmungen aus der Nasser-Zeit, die seit mehr als vier Jahrzehnten den landwirtschaftlichen Pächtern ein unbefristetes Nutzungsrecht an den Pachtflächen zu günstigen Konditionen zugesichert hatten. Fast eine Million Pächterfamilien verloren dadurch ihre Ansprüche auf das Land. Es ist zu befürchten, dass viele von ihnen in die Städte abwandern werden, weil ihnen die Existenzbasis entzogen wurde.

An dieser Stelle zeigt sich nun das zweite bevölkerungsgeographische Problem, die rasante Urbanisierung des Landes: Das Wachstum städtischer und ländlicher Siedlungen hat nach Schätzungen der Weltbank im Zeitraum von 1952 bis 1990 zu einem Verlust von etwa 250000 Hektar fruchtbaren Kulturlandes durch Überbauung geführt. Dies entspricht etwa einem Viertel der in diesem Zeitraum hinzugewonnenen Neulandfläche. Die Expansion der Siedlungen ist dabei nicht nur Ausdruck steigender Bevölkerungszahlen, sondern auch eines steigenden Lebensstandards und veränderter Lebensgewohnheiten.

QuellentextKairo als Megastadt Afrikas

Mit rund zwölf Millionen Einwohnern, die im Jahr 2000 innerhalb des metropolitanen Ballungsgebietes leben, ist Kairo die größte Stadt Afrikas. Während andere Megastädte in der Dritten Welt durch starke Zuwanderung aus den ländlichen Regionen höhere Wachstumsraten als die Gesamtbevölkerung aufweisen, trifft dies für Kairo nicht mehr zu. Nach der Ölpreisexplosion 1973 wandelte sich die bisherige Landflucht aus dem übervölkerten Niltal in die ägyptische Metropole zu einer temporären Gastarbeiterwanderung in die erdölreichen und bevölkerungsarmen Nachbarstaaten. Die Rückkehrer nutzten ihre Ersparnisse vor allem zur Verbesserung ihrer Lebensbedingungen und Erwerbsmöglichkeiten in den Heimatorten. Seither wächst die Einwohnerzahl der Megastadt langsamer als die Gesamtbevölkerung Ägyptens.

Zugleich hat innerhalb des Ballungsraumes eine massive Verlagerung der Bevölkerung aus dem Kernbereich in die "informellen Siedlungen" am Rande der Metropole stattgefunden. In diesen extrem dichtbevölkerten Wohnquartieren, die meist ohne Baugenehmigung auf Bewässerungsland errichtet wurden und in denen die öffentliche Infrastruktur weitgehend fehlt, lebt inzwischen fast jeder zweite Einwohner Kairos.

Als Alternative zu den expandierenden "informellen Siedlungen" wurde bereits in den siebziger Jahren die Dezentralisierung der Bevölkerung und der Industrie durch die Anlage neuer Wüstenstädte geplant. Dank umfangreicher staatlicher Subventionen war die Dezentralisierung der Industrie ein großer Erfolg. In der 60 Kilometer östlich von Kairo gelegenen "Stadt des 10. Ramadan" sind bereits mehr Menschen beschäftigt als ursprünglich geplant. Doch davon wohnen die wenigsten an ihrem Arbeitsort. Mehr als zwei Drittel sind Pendler aus Kairo oder dem Delta. Hier ist die Dezentralisierung der Bevölkerung bisher weitgehend gescheitert.

Anders verläuft dagegen die Entwicklung der "Stadt des 3. Oktober", 30 Kilometer westlich von Kairo. Eine Schnellstraße, welche die durchschnittliche Fahrzeit ins Zentrum von 90 auf 25 Minuten verkürzt, hat dazu beigetragen, dass sich immer mehr Angehörige der Mittel- und Oberschicht in der neuen Wüstenstadt niederlassen. Seit 1995 entstanden dort auch zahlreiche luxuriöse Wohnviertel, die von hohen Zäunen oder Mauern umgeben sind und deren Zugang durch einen privaten Wachdienst kontrolliert wird. Nach einem anfänglichen Nachfrageboom zeichnete sich allerdings bereits 1999 ein so großes Überangebot an Luxusvillen ab, dass die Immobilienpreise rapide sinken und die Realisierung vieler Projekte zweifelhaft ist.

Günter Meyer

Gesellschaftliche und räumliche Disparitäten

Sonja Hegasy

Den wirtschaftlichen Fortschritt Nordafrikas kann man sich von zwei Seiten anschauen. Aus Regierungsperspektive, aber auch aus der Perspektive der Weltbank werden positive Entwicklungen sichtbar, denn die makroökonomischen Indikatoren haben sich in den neunziger Jahren deutlich verbessert. So gilt Ägypten als Musterschüler in Sachen makroökonomische Stabilisierungspolitik. Klassische Ökonomen ziehen hier das so genannte magische Viereck zu Rate. Sie fragen nach den vier Eckdaten Preisniveaustabilität, Wirtschaftswachstum, Arbeitslosenquote und Zahlungsbilanz, um die Entwicklung eines Landes zu messen.

1998 wies Ägypten mit 3,6 Prozent eine relativ niedrige Inflationsrate auf (Tunesien: 3,5 Prozent; Marokko: 0,7 Prozent; Algerien –4,2 Prozent; Quelle: United Nations Development Program, UNDP, Bericht zur menschlichen Entwicklung, Bonn 2000). Auch das jeweilige Wirtschaftswachstum kann sich sehen lassen. In Ägypten stieg das jährliche Bruttosozialprodukt (BSP) von 1990 bis 1998 durchschnittlich um 4,6 Prozent. Im selben Zeitraum erreichte Tunesien eine Wachstumsrate von 4,5 Prozent, Marokko 2,6 Prozent und Algerien 1,4 Prozent. Die Arbeitslosenquote sank nach offiziellen Angaben in Ägypten von 1995 bis 2000 von 9,2 Prozent auf 7,4 Prozent (Quelle: www.economy.gov.eg). Die Handelsbilanz dagegen belastet das positive Bild. Sie ist in den meisten nordafrikanischen Staaten negativ. Außer Algerien importierten sie mehr Güter, als sie exportierten. Dadurch verringern sich die Devisenreserven ständig und die Schuldenlast steigt.

Aus der Perspektive der Mehrheit der armen Landbevölkerung ist wenig vom wirtschaftlichen Aufschwung zu spüren. Ihr bringt die Verbesserung einiger ausgewählter abstrakter Zahlen nichts. Kennzeichnend für die arabische Welt sind starke Ungleichheiten zwischen Stadt und Land, aber auch zwischen wohlhabenden Landbesitzern und landlosen Kleinbauern.

Deutlich werden diese Unterschiede in Ägypten, wo das Bruttoinlandsprodukt 1996 in Kairo bei durchschnittlich 2800 DM pro Kopf lag, während es in Oberägypten 1200 DM betrug (Institute of National Planning, INP, Egypt Human Development Report 1996). Während der Anteil der in absoluter Armut lebenden Bevölkerung in Kairo mit 0,75 Prozent angegeben wird, sind es insgesamt für Oberägypten 6,3 Prozent.

Zwar wurde schon 1952 ein kostenloser Schulbesuch für alle Kinder eingeführt, aber noch 1995 konnten nur 73 Prozent der Kinder in ländlichen Gebieten eine Schule besuchen, da sie zum Lebensunterhalt der Familien beitragen mussten. In den Großstädten werden dagegen schon fast 90 Prozent der Kinder eingeschult (INP 1996). 1996 konnten 48 Prozent der Frauen sowie 65 Prozent der Männer lesen und schreiben (INP 1996). Tatsächlich besuchen in den Großstädten Kairo, Alexandria, Port Said und Sues sogar mehr Mädchen eine weiterführende Schule als Jungen, da die Jungen vorzeitig in den Arbeitsprozess eingegliedert werden.

Jedes Jahr drängen 500000 neue Schulabgänger auf den Arbeitsmarkt. Unter Nasser wurde eine Beschäftigungsgarantie für Hochschulabsolventen erlassen, die dazu führte, dass der öffentliche Sektor bis heute überbesetzt und ineffizient ist, obwohl diese Garantie offiziell nicht mehr gilt. Auch sind die Gehälter im öffentlichen Dienst so gering, dass niemand allein davon leben kann. Ein Lehrer verdient beispielsweise 75 DM monatlich. Um sein Gehalt zu verbessern, wird er nachmittags private Nachhilfestunden geben und abends Taxi fahren. Nur dann kann er eine Familie ernähren. Die schwierige Lage auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt erschwert es insbesondere jungen Menschen, eine Familie zu gründen.

Trotz der offiziell verbesserten Arbeitslosenzahlen wird die beschäftigungspolitische Katastrophe in den nordafrikanischen Ländern immer deutlicher. In fast allen Ländern sind über die Hälfte der Bürgerinnen und Bürger unter 25 Jahre alt. Hochschulabgänger sowie Analphabeten suchen ein Einkommen. Die Chancen stehen erstaunlicherweise für beide Gruppen schlecht. Und so wartet am südlichen Mittelmeerrand ein Heer arbeitsloser und unzufriedener Jugendlicher auf eine Chance, die sie dem Teufelskreis von Armut und Unterentwicklung entreißen könnte. Manche riskieren ihr Leben und versuchen, mit Fischerbooten nach Europa überzusetzen. Für sie hat die Weltbank noch keine Lösung gefunden.

QuellentextKairo als Megastadt Afrikas

Mit rund zwölf Millionen Einwohnern, die im Jahr 2000 innerhalb des metropolitanen Ballungsgebietes leben, ist Kairo die größte Stadt Afrikas. Während andere Megastädte in der Dritten Welt durch starke Zuwanderung aus den ländlichen Regionen höhere Wachstumsraten als die Gesamtbevölkerung aufweisen, trifft dies für Kairo nicht mehr zu. Nach der Ölpreisexplosion 1973 wandelte sich die bisherige Landflucht aus dem übervölkerten Niltal in die ägyptische Metropole zu einer temporären Gastarbeiterwanderung in die erdölreichen und bevölkerungsarmen Nachbarstaaten. Die Rückkehrer nutzten ihre Ersparnisse vor allem zur Verbesserung ihrer Lebensbedingungen und Erwerbsmöglichkeiten in den Heimatorten. Seither wächst die Einwohnerzahl der Megastadt langsamer als die Gesamtbevölkerung Ägyptens.

Zugleich hat innerhalb des Ballungsraumes eine massive Verlagerung der Bevölkerung aus dem Kernbereich in die "informellen Siedlungen" am Rande der Metropole stattgefunden. In diesen extrem dichtbevölkerten Wohnquartieren, die meist ohne Baugenehmigung auf Bewässerungsland errichtet wurden und in denen die öffentliche Infrastruktur weitgehend fehlt, lebt inzwischen fast jeder zweite Einwohner Kairos.

Als Alternative zu den expandierenden "informellen Siedlungen" wurde bereits in den siebziger Jahren die Dezentralisierung der Bevölkerung und der Industrie durch die Anlage neuer Wüstenstädte geplant. Dank umfangreicher staatlicher Subventionen war die Dezentralisierung der Industrie ein großer Erfolg. In der 60 Kilometer östlich von Kairo gelegenen "Stadt des 10. Ramadan" sind bereits mehr Menschen beschäftigt als ursprünglich geplant. Doch davon wohnen die wenigsten an ihrem Arbeitsort. Mehr als zwei Drittel sind Pendler aus Kairo oder dem Delta. Hier ist die Dezentralisierung der Bevölkerung bisher weitgehend gescheitert.

Anders verläuft dagegen die Entwicklung der "Stadt des 3. Oktober", 30 Kilometer westlich von Kairo. Eine Schnellstraße, welche die durchschnittliche Fahrzeit ins Zentrum von 90 auf 25 Minuten verkürzt, hat dazu beigetragen, dass sich immer mehr Angehörige der Mittel- und Oberschicht in der neuen Wüstenstadt niederlassen. Seit 1995 entstanden dort auch zahlreiche luxuriöse Wohnviertel, die von hohen Zäunen oder Mauern umgeben sind und deren Zugang durch einen privaten Wachdienst kontrolliert wird. Nach einem anfänglichen Nachfrageboom zeichnete sich allerdings bereits 1999 ein so großes Überangebot an Luxusvillen ab, dass die Immobilienpreise rapide sinken und die Realisierung vieler Projekte zweifelhaft ist.

Günter Meyer

Agrarverfassung und Agrarproduktion

Gamal Abdelnasser

Sonja Hegasy

Im Dezember 1996 blockierten ägyptische Bauern Eisenbahnlinien und Landstraßen in Mittelägypten. Unter der Parole "Frieden gegen Erde" demonstrierten sie vor dem Landwirtschaftsministerium gegen ein neues Pachtgesetz, das die Höhe der Pacht dem freien Markt überlassen soll. Die Bauern setzten Scheunen und Kooperativen in Brand. Gewaltsame Ausschreitungen häuften sich auch zwischen Pächtern und Großgrundbesitzern.

Seit der Revolution 1952 sind die Fellachen (Bezeichnung für die Ackerbau treibende Landbevölkerung in den arabischen Ländern) nicht mehr so deutlich an die Öffentlichkeit gegangen. Damals wurde König Faruk von einer Gruppe von Offizieren abgesetzt und Ägypten wandelte sich von einer Monarchie zu einer Republik. Die königlichen Ländereien wurden sofort von den "Freien Offizieren" verstaatlicht. Unter dem sozialistischen Präsidenten Nasser erfolgte in den sechziger Jahren die zweite Stufe der Agrarreform, die auch das Land der einflussreichsten Grundbesitzerfamilien an das Bauernproletariat verteilte. Ganz wurde der Großgrundbesitz jedoch nie abgeschafft: 1990 besaßen noch 9000 Familien 15 Prozent der landwirtschaftlichen Fläche, während fast drei Millionen Kleinbauern weniger als einen Feddan bebauten (ein Feddan entspricht der Größe eines Fußballfeldes).

Ägypten ist ein Land, das weiterhin stark von seiner bäuerlichen Gesellschaft geprägt wird, obwohl nur drei Prozent des Landes landwirtschaftlich genutzt werden können. Ein Drittel aller Beschäftigten arbeitet in der Landwirtschaft. Dabei werden Frauen und Kinder, die mitarbeiten, statistisch noch nicht einmal erfasst. Ein knappes Fünftel des Bruttoinlandsprodukts wird im Agrarsektor erwirtschaftet. Ägyptische Baumwolle, das so genannte weiße Gold, ist aufgrund ihrer langen Fasern die beste Sorte der Welt und gehört zu den wichtigen Devisenbringern des Landes.

Bis der Staat massiv in die Landwirtschaft eingriff, war Ägypten sogar ein Netto-Exportland von Agrarprodukten. Da jedoch an erster Stelle sichergestellt werden sollte, dass ausreichend billige Nahrungsmittel für die städtische Bevölkerung produziert werden, setzte die Regierung staatliche Ankaufspreise für Grundnahrungsmittel fest. Spätere Versuche, den Brotpreis zu erhöhen, zogen die erbitterten Proteste der armen Bevölkerung nach sich. 1977 kam es in Ägypten zu den so genannten Brotrevolten, die in fast allen Entwicklungsländern mit dem Beginn der IWF-Strukturanpassungsmaßnahmen zu verzeichnen sind. Seit Mitte der achtziger Jahre verkraftete der ägyptische Staatshaushalt die Subventionen nicht mehr. Schrittweise mussten sie wieder rückgängig gemacht werden.

Heute ist die Deregulierung im Agrarsektor weit fortgeschritten. Die Bauern können ihre Produkte weitestgehend selbstständig auf dem freien Markt anbieten. Ebenso ist aber auch die Geburtenrate überproportional gestiegen, so dass einige Grundnahrungsmittel (Weizen, Zucker) noch immer knapp sind. Zwischen 1990 und 1995 lag die durchschnittliche Wachstumsrate der Bevölkerung bei 2,2 Prozent. Der überlebenswichtige Weizen muss zu über 50 Prozent aus Australien, den USA und Europa importiert werden. Er wird zu teuren Weltmarktpreisen eingekauft und muss natürlich mit Devisen bezahlt werden.

Als Folge der Deregulierung im Agrarsektor trat 1997 nach einer Vorlaufzeit von fünf Jahren das neue Pachtgesetz in Kraft. Die Regierung zielte darauf ab, dass kapitalkräftige Grundbesitzer wieder stärker in ihre Ländereien investieren und die Produktion stärker auf den Export orientieren würden, wenn auch die Höhe der Pacht stiege. Unter Nasser war die Pacht auf ein siebenfaches der jährlichen Steuer festgesetzt worden.

Mit dem neuen Gesetz sollte sie allein von Angebot und Nachfrage bestimmt werden. Das führte dazu, dass ein Feddan nach 1992 das 21-fache der Steuer kostete. Viele Bauern fürchteten, eine Verdreifachung der Pacht nicht mehr bezahlen zu können und von ihrem Land vertrieben zu werden.

Nach Schätzungen sind etwa fünf Millionen Bauern und ihre Familien von diesem Gesetz betroffen. Landwirtschaftsminister Yousef Wali, dessen Familie vor der Verstaatlichung selbst zu den größten Feudalherren des Landes gehörte, schlug vor, den vertriebenen Bauern neu gewonnenes Land in der Wüste anzubieten. Dadurch würden jedoch sämtliche gewachsenen Dorfstrukturen zerstört werden. Und der Boden, der der Wüste in einem zähen Kampf abgerungen wird, ist nicht mit der äußerst fruchtbaren Erde entlang des Nils zu vergleichen. Tatsächlich ist es aber bislang nicht zu den erwarteten sozialen Verwerfungen gekommen.

Die Ernteerträge sind in den letzten Jahren stetig gestiegen. Obst und Gemüse werden in Ägypten im Überschuss produziert. Von einem Erfolg bei der Erhöhung der Agrarexporte wird es wesentlich abhängen, ob Ägypten die Umstrukturierung seiner Wirtschaft durchführen kann oder nicht. Gerade die Agrarprodukte sind wettbewerbsfähig und werden daher von den südlichen EU-Mitgliedstaaten wie Griechenland oder Spanien gefürchtet. So gehört der Zugang für Obst und Gemüse zum europäischen Markt zu den Schlüsselthemen, die einen Abschluss der Verhandlungen zwischen der Europäischen Union und der ägyptischen Regierung über eine Freihandelszone bis 2001 hinauszögerten (siehe auch Seite 61ff.).Will die Europäische Union tatsächlich einen Beitrag zur Armutsbekämpfung und Stabilität in Ägypten leisten, so muss sie als erstes den Marktzugang für ägyptische Agrarerzeugnisse erleichtern.

Fussnoten