Ägyptens Weg in die Moderne
Gesellschaftliche und räumliche Disparitäten
Sonja HegasyDen wirtschaftlichen Fortschritt Nordafrikas kann man sich von zwei Seiten anschauen. Aus Regierungsperspektive, aber auch aus der Perspektive der Weltbank werden positive Entwicklungen sichtbar, denn die makroökonomischen Indikatoren haben sich in den neunziger Jahren deutlich verbessert. So gilt Ägypten als Musterschüler in Sachen makroökonomische Stabilisierungspolitik. Klassische Ökonomen ziehen hier das so genannte magische Viereck zu Rate. Sie fragen nach den vier Eckdaten Preisniveaustabilität, Wirtschaftswachstum, Arbeitslosenquote und Zahlungsbilanz, um die Entwicklung eines Landes zu messen.
1998 wies Ägypten mit 3,6 Prozent eine relativ niedrige Inflationsrate auf (Tunesien: 3,5 Prozent; Marokko: 0,7 Prozent; Algerien –4,2 Prozent; Quelle: United Nations Development Program, UNDP, Bericht zur menschlichen Entwicklung, Bonn 2000). Auch das jeweilige Wirtschaftswachstum kann sich sehen lassen. In Ägypten stieg das jährliche Bruttosozialprodukt (BSP) von 1990 bis 1998 durchschnittlich um 4,6 Prozent. Im selben Zeitraum erreichte Tunesien eine Wachstumsrate von 4,5 Prozent, Marokko 2,6 Prozent und Algerien 1,4 Prozent. Die Arbeitslosenquote sank nach offiziellen Angaben in Ägypten von 1995 bis 2000 von 9,2 Prozent auf 7,4 Prozent (Quelle: www.economy.gov.eg). Die Handelsbilanz dagegen belastet das positive Bild. Sie ist in den meisten nordafrikanischen Staaten negativ. Außer Algerien importierten sie mehr Güter, als sie exportierten. Dadurch verringern sich die Devisenreserven ständig und die Schuldenlast steigt.
Aus der Perspektive der Mehrheit der armen Landbevölkerung ist wenig vom wirtschaftlichen Aufschwung zu spüren. Ihr bringt die Verbesserung einiger ausgewählter abstrakter Zahlen nichts. Kennzeichnend für die arabische Welt sind starke Ungleichheiten zwischen Stadt und Land, aber auch zwischen wohlhabenden Landbesitzern und landlosen Kleinbauern.
Deutlich werden diese Unterschiede in Ägypten, wo das Bruttoinlandsprodukt 1996 in Kairo bei durchschnittlich 2800 DM pro Kopf lag, während es in Oberägypten 1200 DM betrug (Institute of National Planning, INP, Egypt Human Development Report 1996). Während der Anteil der in absoluter Armut lebenden Bevölkerung in Kairo mit 0,75 Prozent angegeben wird, sind es insgesamt für Oberägypten 6,3 Prozent.
Zwar wurde schon 1952 ein kostenloser Schulbesuch für alle Kinder eingeführt, aber noch 1995 konnten nur 73 Prozent der Kinder in ländlichen Gebieten eine Schule besuchen, da sie zum Lebensunterhalt der Familien beitragen mussten. In den Großstädten werden dagegen schon fast 90 Prozent der Kinder eingeschult (INP 1996). 1996 konnten 48 Prozent der Frauen sowie 65 Prozent der Männer lesen und schreiben (INP 1996). Tatsächlich besuchen in den Großstädten Kairo, Alexandria, Port Said und Sues sogar mehr Mädchen eine weiterführende Schule als Jungen, da die Jungen vorzeitig in den Arbeitsprozess eingegliedert werden.
Jedes Jahr drängen 500000 neue Schulabgänger auf den Arbeitsmarkt. Unter Nasser wurde eine Beschäftigungsgarantie für Hochschulabsolventen erlassen, die dazu führte, dass der öffentliche Sektor bis heute überbesetzt und ineffizient ist, obwohl diese Garantie offiziell nicht mehr gilt. Auch sind die Gehälter im öffentlichen Dienst so gering, dass niemand allein davon leben kann. Ein Lehrer verdient beispielsweise 75 DM monatlich. Um sein Gehalt zu verbessern, wird er nachmittags private Nachhilfestunden geben und abends Taxi fahren. Nur dann kann er eine Familie ernähren. Die schwierige Lage auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt erschwert es insbesondere jungen Menschen, eine Familie zu gründen.
Trotz der offiziell verbesserten Arbeitslosenzahlen wird die beschäftigungspolitische Katastrophe in den nordafrikanischen Ländern immer deutlicher. In fast allen Ländern sind über die Hälfte der Bürgerinnen und Bürger unter 25 Jahre alt. Hochschulabgänger sowie Analphabeten suchen ein Einkommen. Die Chancen stehen erstaunlicherweise für beide Gruppen schlecht. Und so wartet am südlichen Mittelmeerrand ein Heer arbeitsloser und unzufriedener Jugendlicher auf eine Chance, die sie dem Teufelskreis von Armut und Unterentwicklung entreißen könnte. Manche riskieren ihr Leben und versuchen, mit Fischerbooten nach Europa überzusetzen. Für sie hat die Weltbank noch keine Lösung gefunden.