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Die Referenden 1975 und 2016 im Vergleich | Der Brexit und die britische Sonderrolle in der EU | bpb.de

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Die Referenden 1975 und 2016 im Vergleich

Mathias Haeussler

/ 6 Minuten zu lesen

"In" oder "out" hieß es für die Briten am 23. Juni 2016 nicht zum ersten Mal. Bereits 1975 kam es zum Referendum über die Mitgliedschaft in den Europäischen Gemeinschaften. Ein direkter Vergleich offenbart Parallelen und Unterschiede.

Booklet der britischen Regierung zum EG-Referendum 1975. (© Public Domain)

Geschichte wiederholt sich nicht, jedoch reimt sie sich manchmal, soll Mark Twain einst bemerkt haben. In der Tat deckt ein Vergleich des ersten nationalen Referendums über Großbritanniens Mitgliedschaft in den Europäischen Gemeinschaften (EG) im Juni 1975 mit aktuellen Interner Link: Debatten über den Brexit eine Vielzahl erstaunlicher Parallelen auf. Zwar sind auch die Unterschiede zwischen 1975 und 2016 gravierend, dennoch lassen sich durch einen solchen Vergleich Erkenntnisse über die grundsätzlicheren 'Probleme' Großbritanniens mit der europäischen Integration gewinnen.

Langfristige Ursachen

Zum Ende des Interner Link: Zweiten Weltkriegs war Großbritannien eine Macht mit globalem Ausmaß, deren Kolonien und Protektorate sich von Afrika über Asien bis nach Australien erstreckten. In der Interner Link: britischen Außenpolitik nahm Europa daher neben dem Interner Link: Empire/Interner Link: Commonwealth sowie dem vermeintlich speziellen Verhältnis zur USA nur eine untergeordnete Rolle ein. Ebenso führte die unterschiedliche Kriegserfahrung des Landes im Vergleich zu den Europäern zu einer Haltung, welche der französische Politik- und Wirtschaftsberater Jean Monnet, der als einer der Gründerväter der EU gilt, einst als den "price of victory" beschrieben hat: "the illusion that you could maintain what you had, without change".

Dieser Hintergrund ist notwendig, um zu verstehen, weshalb Großbritannien der Interner Link: Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) sowie den anderen Interner Link: Europäischen Gemeinschaften (der Interner Link: Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Interner Link: Europäischen Atomgemeinschaft) in den 1950er Jahren nicht beitrat. Darüber hinaus waren die vorgeschlagenen Institutionen schlichtweg nicht auf britische Interessen zugeschnitten. Wirtschaftlich machte eine Zollunion mit einem gemeinsamen Außenhandelstarif für ein Land mit traditionell großem extraeuropäischem Handel wenig Sinn; politisch war man aufgrund des Glaubens an Stärke und Legitimität des eigenen Parlaments vom Prinzip der Supranationalität nicht überzeugt.

Als sich die Europäischen Gemeinschaften jedoch überraschend schnell politisch und wirtschaftlich konsolidierten, Interner Link: bewarb sich Großbritannien 1961 und 1967 zweimal um den Beitritt; man konnte es sich in britischen Augen nicht mehr leisten, weiterhin außerhalb zu stehen. Beide Anträge wurden jedoch vom französischen Präsidenten Charles de Gaulle abgelehnt, der fürchtete, die französische Führungsrolle in den EG zu verlieren. Der letztendliche Beitritt 1973 fiel dann mit den wirtschaftlichen Turbulenzen der Ölkrise zusammen, welche Großbritannien in eine beinahe existenzielle Krise stürzen sollten.

Das Primat der Innenpolitik

Aufgrund dieser Vorgeschichte wird deutlich, weshalb Großbritannien bis in die 1970er Jahre keinen nationalen Konsens für die europäische Integration entwickeln konnte. Die Europapolitik wurde dementsprechend zum Spielball der Innen- und Parteipolitik. Während sich die konservative Regierungspartei unter Premierminister Edward Heath zum Zeitpunkt des Beitritts für die Mitgliedschaft aussprach, war die oppositionelle Labour-Partei zerrissen. Zwar hatte man während der eigenen Regierungszeit 1964-70 selbst die zweite britische Bewerbung initiiert, doch de Gaulles Veto sowie die Rückkehr der Partei in die Opposition hatte den linken, europakritischen Flügel der Partei gestärkt. Parteichef Harold Wilson, obwohl persönlich weiterhin für die britische Mitgliedschaft, fürchtete, dass die Einheit der Partei an der Europafrage zerbrechen würde. Er schlug deshalb vor, im Falle eines Wahlsiegs die britischen Beitrittsbedingungen neu zu verhandeln und anschließend in einem nationalen Referendum über den EG-Verbleib abstimmen zu lassen. So schaffte er es, die Europaskeptiker in der Partei zu befrieden, ohne sich prinzipiell gegen die Mitgliedschaft zu bekennen.

Booklet der Wilson-Regierung zum EG-Referendum in Großbritannien von 1975

(© Public Domain) (© Public Domain) (© Public Domain) (© Public Domain) (© Public Domain) (© Public Domain) (© Public Domain) (© Public Domain) (© Public Domain) (© Public Domain) (© Public Domain) (© Public Domain) (© Public Domain) (© Public Domain)

Premierminister David Cameron kündigt bei einer Rede am 23. Januar 2013 ein EU-Referendum für nach 2015 an. (© picture-alliance/dpa)

Diese Strategie ähnelt David Camerons heutiger Taktik verblüffend. Seit den späten 1980er Jahren hat sich Camerons konservative Partei in eine zunehmend europaskeptische Richtung entwickelt; zusätzlich sieht man sich nun mit der United Kingdom Independence Party (UKIP) konfrontiert. Dementsprechend war Camerons Europapolitik seit seiner Wahl zum Parteichef 2005 vor allem darauf ausgerichtet, innerparteiliche Grabenkämpfe über Europa zu minimieren. So zog er nach der Europawahl 2009 die konservativen Abgeordneten des Europaparlaments von der Mitte-Rechts-Fraktion der Interner Link: Europäischen Volkspartei ab, wie er bereits 2005 versprochen hatte. Zusammen mit Vertretern anderer EU-Parteien gründeten sie die europaskeptische Fraktion der Interner Link: Europäischen Konservativen und Reformisten. Als sich der europaskeptische Flügel der Partei davon nicht befrieden ließ, verkündete Cameron im Januar 2013, die Rolle Großbritanniens innerhalb der EU neu zu verhandeln und anschließend ein nationales Referendum über die britische Mitgliedschaft abzuhalten. Camerons Strategie war also als wie schon Wilsons Taktik vierzig Jahre zuvor an parteipolitischen Erfordernissen ausgerichtet.

Und auch die Dynamiken der Neuverhandlungen ähneln sich verblüffend. Wilsons Forderungen an Großbritanniens EG-Partner stellten keine umfassenden Änderungen an Großbritanniens Rolle in der Gemeinschaft dar, sondern zielten vor allem auf Reformen in eher marginalen Teilbereichen wie dem britischen Beitrag zum EG-Haushalt oder dem Import von Commonwealth-Produkten. Dennoch stellte sich Wilson anschließend als kompromissloser Kämpfer für britische Interessen dar und verkündete, er sei nun vollends von der britischen EG-Mitgliedschaft überzeugt. Und obwohl auch die 2016 erzielten Ergebnisse kaum eine umfassende Reform der britischen Rolle in der EU darstellen, argumentierte Cameron anschließend, sich aufgrund der Neuverhandlungen nun "mit Herz und Seele" dafür einsetzen zu können, die Briten vom Verbleib in der EU zu überzeugen.

Die Referendumskampagnen

Für die EG-Mitgliedschaft: Margaret Thatcher vor einem Wahllokal am 5. Juni 1975. (© picture-alliance, HIP)

Die vielleicht deutlichsten Unterschiede zwischen 1975 und 2016 sind bei den Referendumskampagnen auszumachen. So wirbt Cameron heute weit stärker für den Verbleib in der EU, als Wilson dies 1975 getan hatte. Dies liegt nicht zuletzt an einem wesentlich gespalteneren politischen Spektrum. Handelte es sich bei den EG-Gegnern 1975 vor allem um Randfiguren des Establishments, wie beispielsweise Enoch Powell aus dem rechten Flügel der Konservativen oder dem Sozialisten Tony Benn, so lassen sich unter heutigen EU-Gegnern eine Vielzahl aktueller und früherer Regierungsminister finden. Prominentester Wortführer der Austrittskampagne ist der ehemalige Londoner Bürgermeister Boris Johnson, der derzeit wohl beliebteste Politiker Großbritanniens. Und auch die Interner Link: öffentliche Debatte zeigt sich 2016 wesentlich heterogener. Während sich die britische Presse 1974-75 fast uniform für den Verbleib in den EG aussprach, befürworten heute marktführende Tageszeitungen wie die konservativen Daily Mail und The Sun den EU-Austritt. Und auch Wirtschaft und Industrie sind heutzutage aufgrund der Eurokrise sowie der als zu eingreifend empfundenen Regulierung der Brüsseler Bürokratie wesentlich skeptischer als in den 1970er Jahren.

Gegen die EG-Mitgliedschaft: Die britische Labour-Politikerin Barbara Castle (l.), ihre Großnichte Rachel und Abgeordneten-Ehefrau Joan Marten vergleichen nach einem Shopping-Trip die Preise aus London und Brüssel. (© picture-alliance, empics)

Skepsis über Zustand und Zukunft der EU ist auch in der öffentlichen Debatte zu erkennen. In den 1970er Jahren war diese vor allem von der damaligen wirtschaftlichen Krise Großbritanniens bestimmt: Die EG-Debatte konzentrierte sich dementsprechend auf Fragen der Wettbewerbsfähigkeit, Arbeitslosigkeit und Lebensmittelpreise. Themen wie Großbritanniens postimperiale Rolle oder nationale Interner Link: Souveränität standen hingegen weniger im Zentrum einer von Zukunftsangst geprägten Diskussion. Demgegenüber zeugt die heutige Debatte von einem wesentlich größeren Selbstbewusstsein Großbritanniens. So werden EU-Regularien zunehmend als Behinderung britischen Wachstums gesehen; auch Themen der nationalen Souveränität stehen stärker im Vordergrund. Der deutlichste Unterschied ist jedoch die prominente Rolle der EU-Zuwanderung in der öffentlichen Debatte ("British jobs for British workers!"), welche in den 1970er Jahren noch überhaupt keine Rolle spielte. Entscheidend für den Ausgang des Referendums wird auch sein, wie stark die 'Leave'-Kampagnen die EU-Zuwanderungspolitik in den Vordergrund der öffentlichen Debatte rücken können.

Ausblick

Zwar stimmten im Juni 1975 über zwei Drittel der Briten für den Verbleib in den Europäischen Gemeinschaften, doch war diese Zustimmung nicht sehr dauerhaft: bereits wenige Jahre später tauchte die Europafrage wieder auf der innenpolitischen Agenda auf. Dies lag nicht zuletzt daran, dass Wilsons Strategie vor allem an parteipolitischen Bedürfnissen ausgerichtet war und daher eine prinzipielle Debatte über das Für und Wider der EG vermeiden wollte. Auch heutzutage versucht Cameron, die öffentliche Debatte vor allem auf die wirtschaftlichen Vorteile der britischen Mitgliedschaft zu konzentrieren und prinzipielle Fragen über Großbritanniens postimperiale Rolle und Identität zu umgehen. Deshalb erscheint gewiss: egal wie das Referendum ausgeht, das grundsätzlichere britische Problem mit der EU wird es nicht lösen können. Bei einer knappen Mehrheit für den Verbleib wird die Frage weiterhin die parteipolitische Agenda dominieren; bei einem Austritt würden sich grundsätzliche Fragen nicht nur Interner Link: zum zukünftigen Verhältnis mit der EU, sondern auch zur Zukunft des Vereinigten Königreichs selbst stellen. Im starken Gegensatz zu 1975 wirbt die schottische Unabhängigkeitspartei SNP heute aggressiv für den Verbleib in der EU; die überwiegende Mehrheit der Schotten ist für die britische Mitgliedschaft. Einem Brexit könnte also ein möglicher 'Sexit' folgen: die Unabhängigkeit Schottlands von Großbritannien.

Quellen / Literatur

Mathias Haeussler, ‘A pyrrhic victory: Harold Wilson, Helmut Schmidt, and the British renegotiation of EC membership, 1974-5’, The International History Review, 37/4 (2015), 768-89.

Julie Smith, ‘David Cameron’s EU renegotiation and referendum pledge: A case of déjà vu?‘ British Politics (2016), im Erscheinen.

David Butler und Uwe Kitzinger, The 1975 Referendum (Basingstoke, 1976).

Hugo Young, This Blessed Plot: Britain and Europe From Churchill To Blair (Oxford, 1999).

John W. Young, Britain and European Unity 1945-1999, 2nd Edition (Basingstoke, 2000).

Fussnoten

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Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Mathias Haeussler für bpb.de

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Weitere Inhalte

Dr. Mathias Haeussler ist Lumley Research Fellow am Magdalene College an der University of Cambridge. Er promovierte zu Helmut Schmidt und den britisch-deutschen Beziehungen von 1974 bis 1982.