Bevor wir zu den Möglichkeiten des Einsatzes von künstlicher Intelligenz (KI) an der inklusiven Schule kommen – was verstehen Sie unter Inklusion?
Robert Kruschel: Wir schließen uns dem Inklusionsverständnis der Vereinten Nationen an. Demnach ist Inklusion ein Prozess, bei dem alle Schülerinnen und Schülern unabhängig von ihren individuellen Fähigkeiten, Bedürfnissen oder sozialen Hintergründen gemeinsam in einer Schulumgebung lernen, statt nur einzelne Individuen irgendwie in sie zu integrieren. Das ist der zentrale Unterschied zur Integration. Es geht darum, systemisch Barrieren abzubauen und Bildungseinrichtungen so zu gestalten, dass sie auf die Vielfalt und die Individualität aller Lernenden eingehen können. Dieses Verständnis geht über den Fokus auf Behinderung hinaus.
Was kann KI für die inklusive Schule leisten?
Katharina Hamisch: KI bietet für den Abbau von Barrieren viele Einsatzmöglichkeiten: KI-Assistenzsysteme können individualisierte Lernmaterialien bereitstellen, sprachliche oder andere kompensatorische Unterstützung leisten und bieten außerdem die Möglichkeit von permanentem Feedback. Auch kann durch KI sehr schnell der jeweilige Lernstand von Schülerinnen und Schülern ermittelt werden, so dass eine individualisierte Lernbegleitung möglich wird. Darüber hinaus können administrative Prozesse, beispielsweise bei sonderpädagogischen Gutachten, beschleunigt werden.
Welche Schülerinnen und Schüler können von KI-Technologie besonders profitieren?
Robert Kruschel: Ich bin der Meinung, alle können von Künstlicher Intelligenz profitieren. In Bezug auf Schülerinnen und Schüler, die bislang besonders stark von Bildungsausschluss oder Sonderbeschulung betroffen sind, sehe ich besonders viele Einsatzmöglichkeiten.
Einige Beispiele: Für sehbeeinträchtigte und blinde Schülerinnen und Schüler kann die neueste Version von ChatGPT (Anm. d. Red.: GPT-4) beispielsweise ziemlich genau beschreiben, was auf Bildern zu sehen ist. Außerdem können durch KI gedruckte Texte vorgelesen werden.
Für Kinder mit einer Hörschädigung oder gehörlose Kinder gibt es 3D-Gebärdensprache-Avatare, die als Sprachassistenten zur automatisierten Gebärdenübersetzung eingesetzt werden. Mit diesen kann simultan gedolmetscht werden, was eine Lehrkraft oder Mitschülerinnen und Mitschüler sagen. Für neurodiverse Schülerinnen und Schüler gibt es verschiedene assistive Technologien, etwa Text-zu-Sprache- oder Sprache-zu-Text-Anwendungen, die den Lernenden helfen können, Informationen leichter aufzunehmen und zu verarbeiten.
Eine weitere Gruppe sind geflüchtete Kinder – für sie bieten KI-Tools ebenfalls viele Möglichkeiten. Zum Beispiel durch automatisierte Übersetzung für die Kommunikation im Unterricht und mit den Eltern oder vereinfachtes Lernen von Sprache durch individuell differenzierte Lernmaterialien.
Und als eine weitere stark marginalisierte Gruppe sind Kinder zu nennen, die von Armut betroffen sind. Hier wäre die Hoffnung, dass KI-Systeme eventuell fehlende Unterstützung, die Kinder aus sogenannten bildungsnahen Haushalten erfahren, ausgleichen und so einen Beitrag zur Bildungsgerechtigkeit leisten können.
Welche KI-Tools werden bereits für inklusiven Unterricht eingesetzt?
Robert Kruschel: Es gibt momentan noch keine empirischen Studien, welche verschiedenen KI-Tools aktuell in Schulen Verwendung finden. In meiner Wahrnehmung gibt es aber gerade viele digitale Foren, in denen sich Lehrende über ihre Erfahrung beim Ausprobieren verschiedener KIs austauschen. Und das auch unter dem Aspekt von Inklusion.
Katharina Hamisch: Es gibt einerseits KI-Tools, die für die Allgemeinheit und andererseits welche, die speziell für die Bildung entwickelt wurden. Zu den allgemeinen KIs zählen prominente Beispiele wie ChatGPT oder Perplexity AI, mit denen sich in inklusiver Hinsicht zum Beispiel Inhalte auf allen Lernstandsebenen darstellen lassen.
Ein Beispiel für ein schulspezifisches KI-Programm ist HyperMind. Das ist ein intelligentes, adaptives Physiklehrbuch, das sich gerade in der Entwicklungsphase befindet. Es misst über Eye-Tracking, Temperatur- und Pulsmessung, ob Lernende gerade aufmerksam und motiviert sind oder das Gelesene womöglich nicht verstehen. Die KI verfolgt zum Beispiel die Augenbewegung und registriert, wenn langsamer gelesen wird (weil etwa die Augen müde werden) und hat die Möglichkeit die digitale Buchumgebung daran anzugleichen.
Ein anderes Beispiel ist das adaptive Lernsystem Area9 Rhapsode, das bereits in den Bundesländern Sachsen, Mecklenburg-Vorpommern und im Saarland in der Schulpraxis ausprobiert wurde und wird. Das Programm erkennt richtige Lösungsansätze, Fehler und sogar lückenhaftes Vorwissen der Lernenden. Das ermöglicht der KI Tipps, Erklärungen und Übungen vorzuschlagen.
Stichwort Datenerhebung und Kontrolle. Sehen Sie Risiken oder haben Sie ethischen Bedenken, wenn eine KI für diagnostische Zwecke eingesetzt wird?
Katharina Hamisch: Es ist wichtig zu verstehen, dass KIs über Informationen und Daten lernen, die Menschen eingeben. Menschen können jedoch vorurteilsbehaftet sein und der KI sogenannte Bias, das heißt Vorurteile, antrainieren. So besteht die Gefahr, dass eine KI Ein- und Ausschlüsse von Schülerinnen und Schülern herbeiführt.
Bei diagnostischen Programmen wie z.B. HyperMind oder Area9 Rhapsode, ist es wichtig, dass wir die pädagogische Verantwortung nicht an die Programme abgeben. Wir sollten den diagnostischen Output immer genau prüfen, damit keine fehlerhaften Diagnosen gestellt werden. KI-Programme können uns unterstützen, aber wir sollten die Schülerinnen und Schüler nicht unbegleitet mit den Programmen arbeiten lassen.
Wie verändert sich das inklusive Lernen durch KI?
Robert Kruschel: Bei all den oben genannten Chancen für die Inklusion, sehe ich auch die Gefahr der Vereinsamung beim Einsatz von KI-Tools. Dass Schülerinnen und Schüler nicht im Miteinander lernen, sondern lediglich mit dem eigenen Endgerät auf individuellen Lernwegen. Dabei würde aber verloren gehen, was ganz wichtig ist im inklusiven Kontext, nämlich dass Kinder mit anderen Kindern lernen und in den Austausch kommen. Wir sollten im Zusammenhang mit KI-Tools also nicht vergessen, dass es ein ausgewogenes Verhältnis zwischen individualisiertem- und Gruppenlernen geben muss.
Katharina Hamisch: Genau, darum sollte KI mit zeitgemäßen Unterrichtskonzepten verbunden werden, damit genau so etwas nicht passiert. Darauf gehe ich gern gleich ein.
Wie könnte Ihrer Meinung nach die Zukunft KI-gestützten inklusiven Lernens aussehen und was braucht es dafür?
Robert Kruschel: Inklusives Lernen richtet sich nach den Interessen und Neigungen aller Schülerinnen und Schüler. Lernbots werden individualisierte Lernwege eröffnen. Der Einsatz von KI-Systemen wird automatisiertes und adaptives Feedback ermöglichen, was Lehrkräfte in einem klassischen Unterricht zeitlich und kognitiv aktuell kaum leisten können. Eine Frage, die damit aufkommt: Brauchen wir vielleicht in Zukunft weniger oder gar keine Sonderschulen mehr, weil wir KI-Tools als permante Unterstützung im regulären Unterricht haben? Denn was heute im Kontext von Inklusion von Lehrkräften ganz häufig zu Recht bemängelt wird, ist die fehlende Unterstützung aufgrund mangelnder personeller Ressourcen. Meine Hoffnung ist, dass KI diese Lücke teilweise füllen kann.
Welche weiteren Auswirkungen sehen Sie mit Blick auf das inklusive Lehren mit Hilfe von KI?
Katharina Hamisch: Wichtig ist, dass wir KI-Anwendungen mit weiteren digitalen Tools, wie zum Beispiel Erklärvideos, Augmented Reality, Schulclouds und vor allem mit zeitgemäßen Konzepten verbinden. Solche zeitgemäßen Unterrichtskonzepte können sein: Deeper Learning, agiles Lernen, Flipped Classroom und mehr. Die Schülerinnen und Schüler können sich so – ausgehend von ihren individuellen Fähigkeiten und Herausforderungen – die Skills des 21. Jahrhunderts aneignen. Hierzu zählen zum Beispiel die berühmten 4K: also Kommunikation, Kollaboration, kritisches Denken und Kreativität.
Robert Kruschel: KIs werden vielerlei unterstützende Funktionen für Lehrkräfte haben: bei administrativen Aufgaben, bei der Anpassung von Lernmaterialien an individuelle Lernstände, bei der didaktischen Unterrichtsplanung oder auch im Unterricht als Assistenz. Viele Lehrerinnen und Lehrer, die KIs ausprobieren sagen: "Ich habe jetzt plötzlich mehr Zeit, mich um die Bedarfe meiner Schülerinnen und Schülern zu kümmern." Und das ist aus der inklusiven Perspektive sehr spannend. Beim Lehren wird es in Zukunft mehr darum gehen, Basiskompetenzen zu vermitteln, um z.B. Information, die KIs generieren, einordnen und reflektieren zu können.
Meine Hoffnung ist, dass der Einsatz von KI mit ihren vielen Möglichkeiten als Katalysator für Forderungen wirkt, die schon lange von Inklusions- und Reformpädagogik gestellt werden: die Abkehr von einem gleichförmigen, auf Mittelkopf orientierten und lehrendenzentrierten Lernen und die Hinwendung zu einer Individualisierung des Lernens, bei dem die Lehrenden zu Lernbegleitenden werden. Ich hoffe, dass KI-Tools sozusagen der "Sargnagel" für tradierte Formen von Unterricht sind und dass wir jetzt wirklich anfangen müssen, darüber nachzudenken: Wie können wir einen tatsächlich inklusiven Unterricht gestalten?
Das Interview führten Philine Janus und Sebastian Rossbach.