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Dschihad zwischen Frieden und Gewalt

Rüdiger Seesemann

/ 14 Minuten zu lesen

Unter Dschihad versteht der Duden den "Kampf der Muslime zur Verteidigung und Verbreitung des Islams", den "Heiligen Krieg". Zugleich bezeichnet Dschihad das zu den muslimischen Grundpflichten gehörende Streben, nach dem islamischen Glauben zu leben. Wie ist das Dschihad-Konzept historisch zu verstehen? Welche modernen Auslegungen gibt es?

Mitglied der Terrorgruppe "Palästinensischer Islamischer Dschihad" (© picture-alliance)

Der Islam – Religion des Friedens oder Religion des Schwerts?

Gängigen Definitionen von Islamismus zufolge streben seine Träger nach der Errichtung eines Gottesstaates auf Grundlage des islamischen Rechts und verfolgen dieses Ziel gegebenenfalls auch mit Gewalt, d.h. per Dschihad. Doch was genau hat es mit dem Dschihad auf sich? Inwieweit können sich Islamisten, die den Dschihad im Munde führen oder in seinem Namen kämpfen, tatsächlich auf ihn berufen?

Spätestens im Gefolge der terroristischen Anschläge auf das World Trade Center in New York und das Pentagon in Washington D.C. vom 11. September 2001 ist das Wort Dschihad in das Lexikon aller Weltsprachen eingegangen. Der Duden erklärt den Begriff als Kampf der Muslime zur Verteidigung und Verbreitung des Islams und fügt hinzu, dieser Kampf werde oft "Heiliger Krieg" genannt. Zugleich bezeichne Dschihad das zu den muslimischen Grundpflichten gehörende Streben, nach dem islamischen Glauben zu leben; als Beispiel wird der "große Dschihad" angeführt, der sich auf die religiöse und ethische Pflicht zur Selbstbeherrschung und Selbstvervollkommnung beziehe.

Mit dieser brauchbaren, wenn auch aus islamwissenschaftlicher Sicht nicht ganz präzisen Definition ist bereits das Spektrum umrissen, in dem sich die divergierenden Auslegungen des Konzepts von Dschihad bewegen. Im umgangssprachlichen Gebrauch verhält es sich mit dem Dschihad im Übrigen ähnlich wie mit dem Kreuzzug: So, wie dem Bundesgesundheitsministerium ein "Kreuzzug gegen das Rauchen" nachgesagt werden könnte, lässt sich auch von einem "Dschihad gegen den Tabakgenuss" sprechen. George W. Bush hat, vermutlich eher unbedacht, nach dem 11. September 2001 ein Schlaglicht auf die übertragene Bedeutung des Wortes Kreuzzug geworfen, als er den "Krieg gegen den Terror" mit der Aussage kommentierte, "Wir befinden uns auf einem Kreuzzug." Sicherlich dachte er dabei an Krieg, jedoch nicht an einen Krieg im Namen des Christentums gegen die Muslime. Wenn die US-amerikanische Studentenorganisation "Campus Crusade for Christ" an nordamerikanischen Universitäten ihre Mission mit dem Kreuzzug im Namen betreibt, so tut sie dies mit radikaler Rhetorik, aber nicht mit militanten Mitteln. Dieser vergleichende Blick auf den Sprachgebrauch ist hilfreich, um beim Hören des Wortes Dschihad nicht gleich in Reflexe zu verfallen und den "Heiligen Krieg" heraufzubeschwören.

Zugleich ist es unverkennbar, dass sich in der jüngeren Vergangenheit militante Muslime zur Rechtfertigung ihrer Gewalttaten verstärkt auf den Dschihad im Sinne des bewaffneten Kampfes gegen Feinde des Islams beziehen. Dabei hat sich insofern eine bemerkenswerte Konstellation ergeben, als das Dschihad-Verständnis der gewaltbereiten Muslime mit islamkritischen und islamfeindlichen Sichtweisen weitgehend kongruent ist: Unter Dschihad wird hier wie dort der Kampf für die Sache Gottes unter Einsatz von Gewalt verstanden. Solchen Muslimen, die den Dschihad als spirituelle Anstrengung begreifen und Gewalt höchstens zu Verteidigungszwecken für gerechtfertigt halten, wird sowohl von Befürwortern des bewaffneten Kampfes als auch von Vertretern islamfeindlicher Positionen vorgeworfen, die Wahrheit zu verfälschen. Diese Wahrheit laute, dass der Islam nicht die Religion des Friedens sei, sondern die Religion des Schwerts.

Aus islam- wie auch allgemeiner gesprochen aus religionswissenschaftlicher Perspektive ist jede Aussage, in der "Islam" (oder Christentum, Judentum, etc.) grammatikalisch als Subjekt fungiert, fragwürdig. Nicht "die Religion" ist das handelnde Subjekt, sondern die Akteure sind ihre Angehörigen. Es ist nicht ein abstrakter, zeitloser Islam, der die Muslime zu dem machen würde, was sie sind, sondern die Muslime sind es, die den Islam auslegen, umsetzen oder über ihn streiten. Muslime sind ebenso wenig religionsgesteuert wie die Angehörigen anderer Religionen. Demzufolge ist "der Islam" nicht der Produzent von Gewalttätern oder Friedenstauben.

Im Laufe seiner über 1400 Jahre alten Geschichte haben sich auf dem Boden des Islams zahlreiche unterschiedliche religiöse Strömungen entwickelt. Im Namen des Islam wurden Kriege geführt und Andersgläubige verfolgt; in seinem Namen wurde Frieden geschlossen und religiöse Toleranz praktiziert. Unter dem Banner des Islam wurde Wissenschaft gefördert, aber auch freies Denken unterdrückt. Der Islam diente als Rechtfertigung ganz unterschiedlicher, teils einander widersprechender Positionen und Handlungen, und was als "wahrer" Islam zu erachten sei, war stets Gegenstand von Auseinandersetzungen. Allein die Vielzahl der vergangenen und gegenwärtigen Protagonisten, die den "wahren" Islam für sich beanspruchen, zeigt bereits, dass es den einen "wahren" Islam nur als theologische Kategorie, aber nicht in der gesellschaftlichen Wirklichkeit gibt. Schon aus diesem Grund ist es falsch, "den Islam" allgemein als friedlich oder gewalttätig zu charakterisieren.

Eine kleine Geschichte des Dschihad

Will man ein differenziertes Bild der Entwicklung unterschiedlicher Konzepte von Dschihad gewinnen, so gilt es zunächst, seine Ursprünge zu betrachten. Relevant sind hier insbesondere die Aussagen zum Dschihad im Koran sowie die Kriegszüge des Propheten Muhammad. Die koranischen Passagen über den Kampf gegen Ungläubige lassen sich in vier Phasen untergliedern und sind ein Spiegelbild der Entwicklung der frühen muslimischen Gemeinschaft. Der 632 gestorbene Muhammad empfing – so die islamische Lehrmeinung – die im Koran niedergelegten göttlichen Offenbarungen über einen Zeitraum von 20 Jahren. Das wohl wichtigste Ereignis in diesem Zeitraum war die Hidschra, die Auswanderung aus Mekka im Jahr 622: Angesichts der Anfeindungen seiner Stammesmitglieder, die Muhammads monotheistische Verkündigungen mehrheitlich ablehnten und weiterhin die Vielgötterei pflegten, zogen sich die Muslime aus Mekka zurück und bauten im etwa 340 km nördlich gelegenen Medina eine Gemeinschaft auf, die auf den offenbarten Regeln beruhte.

Mohammed schickt Truppen in die Schlacht von Badr. Illustration aus dem "Siyer-i Nebi (Das Leben des Propheten)" von 1388. (© Public Domain, Quelle: wikimedia commons)

In der ersten, mekkanischen Phase gibt es keinen Dschihad. Muhammad wird verspottet und bekämpft, doch Gott befiehlt ihm Geduld. Die Hidschra läutet eine neue, zweite Phase ein: In Medina erhält der Prophet eine Offenbarung, die ihm gestattet, gegen diejenigen zu kämpfen, die ihn bekämpfen (Sure 22, Verse 39-40); dies bezieht sich auf die Mekkaner, die die wenigen in Mekka zurückgebliebenen Muslime drangsalieren. In der dritten Phase, die mit der Schlacht von Badr (Muslime aus Medina gegen die Mekkaner) im Jahre 624 beginnt, ergeht der göttliche Befehl zum Kampf gegen die Verfechter der Vielgötterei (Sure 2, Verse 190-193 sowie Sure 47, Verse 4-6). Die vierte und letzte Phase schließlich ist durch Offenbarungen gekennzeichnet, die in zeitlichem Zusammenhang mit der Kapitulation der Mekkaner und der Einnahme Mekkas durch die Muslime Ende 629 stehen. Exemplarisch lassen sich die so genannten "Schwertverse" in Sure 9 anführen. In Vers 5 erhalten die Muslime den Befehl, den Kampf gegen die "Götzenanbeter" weiterzuführen; Vers 29 ruft auch zum Kampf gegen die sogenannten "Buchbesitzer" (gemeint sind insbesondere Juden und Christen als Empfänger früherer, schriftlich niedergelegter Offenbarungen) auf, bis sie den Tribut entrichten und ihre Unterwerfung anerkennen. Ein weiterer Koranvers befiehlt den Muslimen, so lange zu kämpfen, bis es keine Unterdrückung (oder: Verführung zum Abfall vom Glauben; fitna) mehr gebe und die Religion ganz und gar Gottes sei (Sure 8, Vers 39).

Inwieweit lassen sich diese Verse und historischen Ereignisse in konkrete Handlungsanweisungen für spätere Generationen von Muslimen übersetzen? Müssen sie wörtlich verstanden und ebenso direkt umgesetzt werden, oder bedürfen sie einer kontextabhängigen Interpretation und damit einer umfassenden Exegese? Sowohl für die eine als auch für die andere Umgangsweise mit den Quellen und geschichtlichen Vorbildern gibt es zahlreiche Beispiele. Allerdings hat die islamische Gelehrtentradition, die sich in den ersten drei Jahrhunderten des Islams herausgebildet hat, weitgehend den Weg der Kontextualisierung und der Exegese beschritten. Der bewaffnete Kampf für die Sache Gottes war stets Teil dieser Gelehrtentradition, doch der Begriff des Dschihad, der im Koran übrigens nur 41 Mal zur Bezeichnung des Kampfes und damit deutlich weniger verwendet wird als der Begriff qital (wörtlich, Kämpfen; insgesamt 170 Mal einschließlich verbaler Ableitungen), erfuhr eine spirituelle Aufladung, indem (wie selbst der Duden andeutet) zwischen einer "großen" und einer "kleinen" Variante unterschieden wurde. Diese Interpretation stützte sich auf ein Prophetenwort: Nach der Rückkehr von einer Schlacht soll Muhammad gesagt haben, "Nun sind wir vom kleinen Dschihad zum großen Dschihad zurückgekehrt." Auf die Frage eines seiner Begleiter, was denn der große Dschihad sei, habe Muhammad geantwortet, "Das ist der Kampf gegen die eigenen schlechten Eigenschaften."

Bei der Umsetzung der koranischen Handreichungen zum Thema Dschihad stießen die Muslime schon nach dem Tod des Propheten auf Probleme. Zunächst standen die so genannten rechtgeleiteten Kalifen an der Spitze des weiter expandierenden islamischen Staatswesens und führten den Kampf gegen die "Götzenanbeter" auf der Arabischen Halbinsel weiter. Binnen weniger Jahre schlossen sie sich dem Islam an. Doch die Einigkeit der umma, der Gemeinschaft der Muslime, war nicht von langer Dauer. Bereits im dritten Jahrzehnt nach Muhammads Tod standen Muslime sich als Gegner auf dem Schlachtfeld gegenüber. Ali, der vierte Kalif und zugleich Vetter und Schwiegersohn des Propheten, musste seinen Führungsanspruch gegen ein unter anderem von Muhammads Lieblingsfrau Aischa organisiertes Bündnis verteidigen. Alis Seite ging aus der Kamelschlacht (so genannt, weil Aischa sie vom Rücken eines Kamels aus verfolgte) siegreich hervor, doch dies war nur der Auftakt zu weiteren Bruderkriegen, die letztlich in die Spaltung der Muslime in Sunniten und Schiiten mündeten. Bereits die Frühzeit des Islam ist also vom Dilemma der Gewalt unter Muslimen gekennzeichnet, welche dem göttlichen Gebot der Einigkeit der Gläubigen zuwiderläuft. Häufig blieben Kriege nicht auf die im Koran spezifizierten Gegner des Dschihads beschränkt. Besonders die als Charidschiten bezeichnete Gruppe, aus deren Reihen auch der Mörder Alis kam, ist für ihre Legitimation von Gewalt gegen andere Muslime bekannt geworden. Indem sie ihre muslimischen Widersacher als Ungläubige abstempelten, schufen sie die religiöse Basis, Gewalt auch gegen solche Gruppen auszuüben, die eigentlich nicht als legitime Gegner des Dschihad gelten. Gleichwohl blieben die Charidschiten trotz mancher spektakulärer Aktionen eine Randgruppe. Die muslimischen Rechtsgelehrten, die sich ab Mitte des 8. Jahrhunderts in juristischen Denkschulen organisierten, lehnten die pauschalisierende charidschitische Praxis des takfir, d.h. andere Muslime zu Ungläubigen zu erklären, ab und warnten davor, Glaubensbrüder leichtfertig aus dem Islam auszuschließen. Ende des 9. Jahrhunderts, zur Zeit des letzten großen Charidschiten-Aufstands im Gebiet des heutigen Irak, hatten sich bereits die großen Rechtsschulen formiert, aus denen schließlich vier sunnitische und eine schiitische Schule hervorgingen. Letztere weicht in verschiedener Hinsicht von der sunnitischen Lesart ab, unter anderem auch darin, dass in ihr religiös legitimierte Gewalt gegen Andersgläubige weniger ausgeprägt ist.

Die einschlägigen Rechtshandbücher der vier sunnitischen Rechtsschulen befassen sich – neben vielen anderen Fragen – mit den Situationen, in denen Gott den Muslimen den Dschihad im Sinne von bewaffnetem Kampf vorschreibt. Im Verteidigungsfall gilt die Pflicht zum Dschihad für alle waffenfähigen Männer, in anderen Fällen genügt es, wenn einige aus der Gemeinschaft stellvertretend für andere den Kampf führen. In jedem Fall kann sich der Kampf aber nur gegen genau definierte Gegner richten und keinesfalls gegen Zivilisten. Zudem ist Dschihad stets an die Bedingung gebunden, dass er unter der Führung des als Imam bezeichneten obersten Befehlshabers aller Muslime steht.

Dieses Kriegsrecht hat seine Wurzeln im historischen Kontext eines islamischen Einheitsstaats. Das "Gebiet des Islams" vereinte in seinen Grenzen die umma, also die Gemeinschaft aller Muslime, unter einem Herrscher, dem Kalifen. Außerhalb dieses Gebietes lag das "Gebiet des Krieges", das potenzielle Angriffsziel des Dschihad. Es galt als Pflicht der Gemeinschaft, das islamische Territorium zu vergrößern; damit ging jedoch keine kollektive Zwangskonversion der Bevölkerung in den eroberten Gebieten einher, was sich bis heute unter anderem an der Präsenz christlicher Gruppen in zahlreichen Ländern des Nordafrikas und des Mittleren Ostens zeigt. Im Falle eines Angriffs auf das "Gebiet des Islam" war es die individuelle Pflicht eines jeden Muslims, am Dschihad zur Verteidigung des islamischen Bestandes teilzunehmen. Schließlich sehen die Handbücher der Rechtsschulen einen Dschihad für den Fall vor, dass ein Teil der Muslime dem Herrscher die Gefolgschaft versagt. Die Rebellen werden durch Verweigerung des Gehorsams zum legitimen Gegner im Dschihad, selbst wenn sie weiterhin als Muslime erachtet werden.

Das Ideal eines geeinten islamischen Staatswesens, auf dem diese Konzeption von Dschihad basiert, hat in der Realität nicht lange existiert. Mit dem bereits im 10. Jahrhundert einsetzenden Zerfall der zentralen Autorität des Abbasidenkalifats (750-1258) etablierten sich zahlreiche Sultanate und Emirate, die, wenn auch formell dem Kalifen unterstellt, jeweils eigenständig das Kriegsrecht auslegten und anwandten. Gleichwohl war jeglicher Kampf im Namen des Islam stets an die Befehlsgewalt des jeweiligen Herrschers gebunden, die er in Abstimmung mit den religiösen Gelehrten ausübte; es gab gewissermaßen ein Gewaltmonopol des Staates, das dieser im Einklang mit der Scharia durchsetzen sollte. Einer der vorerst letzten Versuche, das klassische Dschihad-Konzept der Rechtsschulen zu mobilisieren, datiert auf die Zeit des Ersten Weltkriegs, als der osmanische Sultan auf Drängen von Kaiser Wilhelm II muslimische Rekruten für den Kampf gegen Russland, Frankreich und Großbritannien zu mobilisieren suchte.

Moderne Deutungen des Dschihad-Konzepts

Dieser Exkurs in die islamische Geschichte zeigt, dass der sunnitische Islam, wie er jahrhundertelang verstanden und praktiziert wurde, nichts von dem billigte oder forderte, was seit etwa fünf Jahrzehnten unter dem Banner des Dschihad geschieht. Die Gewalttäter, die nunmehr den Islam als Rechtfertigung für terroristische Akte heranziehen, stützen sich auf eine ganz andere Auslegungstradition als die Rechtsschulen. Da sie beanspruchen, den sogenannten salaf, d.h. den Muslimen der ersten drei Generationen des Islam, zu folgen, hat sich für sie im 20. Jahrhundert die Bezeichnung Salafiyya (neudeutsch: Salafisten) eingebürgert. Maßgeblich ist für sie nicht, wie Generationen von Gelehrten auf der Basis breiter und tiefer Kenntnisse der islamischen exegetischen Tradition Gotteswort und Prophetenwort verstanden haben, sondern wie sie selbst, oft ohne profunde Ausbildung in den islamischen Wissenschaften, den Koran und das Beispiel des Propheten interpretieren.

Gewiss beruft sich die salafistische Auslegung auf historische Vorläufer, insbesondere Muhammad ibn Abdalwahhab (gest. 1792), den Begründer der wahhabitischen Lehre, die in leicht modifizierter Form in Saudi-Arabien den Status einer Staatsreligion hat, sowie den hanbalitischen Rechtsgelehrten Ibn Taymiyya (gest. 1328). Letzterer hatte entscheidenden Anteil an der Entwicklung der Vorstellung, dass ein nicht nach den Regeln der Scharia handelnder Herrscher per Dschihad bekämpft werden müsse. Trotz dieser Rückbezüge ist die Salafiyya ein durch und durch modernes Phänomen; daran ändert auch ihre rückwärtsgewandte Ideologie nichts. Sie bedient sich einer Auslegung, die das Primat des Gelehrten durch den direkten Zugriff auf Gottes- und Prophetenwort ersetzt und mithin das hermeneutische Gepäck der Rechtsschulen abwirft.

Die moderne dschihadistische Strömung innerhalb der Salafiyya stellt nur eine kleine Randgruppe neben den beiden anderen Strömungen dar, für die sich die Bezeichnungen puristisch und politisch eingebürgert haben. Eines ihrer Kennzeichen ist, dass sie das Recht zur Ausübung von Gewalt für sich selbst beansprucht und nicht an die Existenz eines islamischen Staates knüpft. Indem die Dschihadisten das Gewaltmonopol des Staates unterlaufen, brechen sie den Konsens der in der Tradition der Rechtsschulen stehenden Islamgelehrten. Sie fordern die autoritären Herrscher der Staaten, in denen sie leben, heraus, indem sie die Regierenden zu Ungläubigen und damit zu legitimen Angriffszielen erklären. Die Ausrufung des "Islamischen Staats" (IS) in Irak und Syrien Mitte 2014 ist unter anderem Ausdruck des Versuchs, der Gewaltausübung im Namen des Islam größere Legitimität zu verleihen.

In der Wahrnehmung der Dschihadisten führt der Westen einen Krieg gegen den Islam. Die Glaubenskämpfer sehen sich als Avantgarde, die im Gegensatz zum muslimischen Establishment die Initiative ergreift, um den Islam verteidigen. Von den etablierten Islamgelehrten, die Dschihad in erster Linie als den Kampf des Individuums gegen seine niederen Leidenschaften interpretieren, sei dies schließlich nicht zu erwarten. Auf Grundlage dieser Weltsicht konstruiert die dschihadistische Logik die Ziele und Gegner ihres Kampfes: Der Dschihad ist von den aufrechten Muslimen gegen diejenigen zu führen, die den Islam bekämpfen. Dazu zählen alle Repräsentanten der islamisch geprägten Staaten, in denen die Scharia nicht angewendet wird oder die mit "dem Westen" gemeinsame Sache machen, vom Staatsoberhaupt bis zum Verkehrspolizisten. Bestimmte islamistische Strömungen, darunter die Ideologen des IS, folgen der takfir-Praxis der Charidschiten und erklären ihre muslimischen Gegner pauschal zu Ungläubigen und entfernen sich damit noch weiter von der "klassischen" Dschihad-Lehre.

Es liegt auf der Hand, dass das herkömmliche islamische Kriegsrecht, welches in der veränderten Welt der Nationalstaaten ohnehin Makulatur ist und heute im Gewand von Dschihad als Verteidigungskrieg daherkommt, damit ausgehebelt wird. An die Stelle sorgfältiger Exegese treten aus dem Zusammenhang gerissene eklektische Auslegungen, die suggerieren sollen, dass man dem Propheten und seinen Gefährten folge. Der an Regeln gebundene Krieg von Armeen zur Verteidigung des islamischen Bestandes wird abgelöst durch den mit allen Mitteln zu führenden Guerillakrieg, in dem alles, vom Selbstmordattentat bis zum Bombenanschlag, erlaubt ist, solange es "den Westen" und seine nur noch nominell muslimischen Verbündeten trifft. Selbst wenn ihre Stimmen in der westlichen Medienlandschaft kaum zur Geltung kommen, haben sich gelehrte Repräsentanten des sunnitischen Islam häufig und eindeutig gegen diese Ideologie der Gewalt im Namen Gottes ausgesprochen. In ihrer modernen Deutung des Dschihad-Konzepts stehen der "große Dschihad" im Sinne der inneren Reinigung sowie der Dschihad als Verteidigungskrieg im Vordergrund. Dennoch ist aus nicht-muslimischen Kreisen häufig der Vorwurf zu hören, die Muslime würden sich nicht klar genug von der Gewalt distanzieren. Warum schrecken viele Gelehrte davor zurück, ihrerseits den takfir gegen die Führer und Anhänger dschihadistischer Gruppen auszusprechen? Der Grund für diese Zurückhaltung liegt darin, dass sie dann den gleichen Fehler machen würden wie die Dschihadisten: nämlich ein Urteil über andere Menschen fällen, das – sofern nicht eindeutige Indizien vorliegen – ihrer Auffassung zufolge allein Gott vorbehalten ist.

Vergiftete Früchte im Garten des Islams

Die Frage, ob der Islam nun friedlich oder gewalttätig sei, wird in der westlichen Öffentlichkeit seit Jahren immer wieder kontrovers diskutiert. An der deutschen Debatte des Jahres 2015 fällt auf, dass beide Aussagen weniger durch sorgfältige Analyse oder Fakten, sondern vorwiegend durch Interessen geleitet sind. Politiker, die den friedlichen Charakter des Islam betonen und auf der Unterscheidung zwischen Islam und Islamismus beharren, tun dies in dem Bestreben, der kollektiven Ausgrenzung einer signifikanten Bevölkerungsminderheit entgegenzuwirken und so den sozialen Frieden zu wahren. Muslime, die sich von den Terrorakten distanzieren, suchen ihre Religion gegen pauschale Verurteilungen in Schutz zu nehmen und wehren sich dagegen, unter Generalverdacht gestellt zu werden. Das Lager der Islamfeinde macht "den Islam" für die Gewalt verantwortlich und zeichnet das Bild von einer Welt im Kulturkonflikt, in dem sich nicht miteinander kompatible Wertesysteme gegenüberstehen. Diese Sichtweise offenbart deutliche Parallelen zur Rhetorik der Dschihadisten, die den Islam zur Legitimation ihrer Gewalttaten benutzen.

Islamkritische Stimmen, ob von linken oder der rechten Seite des politischen Spektrums, können nach jedem im Namen des Islam verübten Anschlag mit neuem Nachdruck darauf verweisen, dass doch etwas faul sein müsse mit einer Religion, die zur Rechtfertigung solcher Gräueltaten dient. Der bekannte amerikanische Fernsehsatirist Bill Maher hat es so formuliert: Wo es so viele faule Äpfel gebe, stimme etwas nicht mit dem Garten. Dieser Logik zufolge ist es überflüssig, ganze Bibliotheken füllende islamische exegetische Literatur zur Kenntnis nehmen. Generationen von Islamgelehrten wollen schließlich nur verschleiern, was Islamkritiker und militante Islamisten von heute sofort und ohne Umschweife verstehen.

Tatsächlich hat nicht der islamische Garten die Früchte verdorben, sondern das Gift, das viele Gärtner darin verspritzt haben, morgen- wie abendländische. "Der Islam", wie er jahrhundertelang von der überwiegenden Mehrheit der Muslime gelebt wurde und auch heute noch vielfach gelebt wird, hilft daher bei der Suche nach den Gründen für das Blutvergießen im Nahen und Mittleren Osten des 20. und 21. Jahrhunderts nicht weiter. Im Gegenteil, der "mittelalterliche" Islam war in mancher Hinsicht sogar toleranter als der heutige Islam salafistischer Prägung. Will man verstehen, warum dort die giftige Frucht des Dschihadismus gedeiht, so gilt es die Umstände zu analysieren, unter denen das salafistische Spektrum in den vergangenen fünf Jahrzehnten einen so militanten Flügel hervorgebracht hat.

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