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Wirkungsvolle Ansätze zur Prävention und Deradikalisierung islamistisch gefährdeter bzw. islamistischer Personen

Ahmad Mansour

/ 20 Minuten zu lesen

Islamismus beginnt nicht erst mit Terrorgruppen wie dem IS. Auch islamistische, aber nicht gewalttätige Gruppen wie die Muslimbruderschaft tragen ihre religiös motivierten Theorien der Ungleichwertigkeit in die Gesellschaft. Für die Präventionsarbeit sind aber vor allem junge Menschen relevant, deren Werte und Einstellungen nicht mit denen von demokratischen Gesellschaften übereinstimmen. Und die damit zum Ziel radikaler Gruppen werden.

Der Islamist Murat K. 2014 vor dem Bonner Landgericht. K. hatte bei einer Demo zwei Polizisten mit einem Messer gezielt schwer verletzt. Der Kammervorsitzende Reinhoff bezeichnete den Salafisten als "Prototyp eines Fanatikers". K. wurde nach seiner Haft im Jahr 2018 in die Türkei abgeschoben. (© picture-alliance/dpa)

Islamismus stellt die Gesellschaft immer wieder vor große Herausforderungen. Speziell die fundamentale Spielart des Islamismus, der Salafismus, übt eine nicht zu unterschätzende Anziehungskraft vor allem auf Jugendliche und junge Erwachsene aus. Oft wird übersehen, dass schleichende Radikalisierungsprozesse nicht immer mit einem expliziten "Jargon der Gewalt" verbunden sind und daher weitgehend unterschätzt werden. Dennoch sind sie als Nährboden für Extremismus demokratiefeindlich. Wenn wir erst dort ansetzen, wo sich der Islamismus in gewalttätigen Aktionen zeigt, haben wir bereits verloren. Der Begriff "radikal" umfasst ein Spektrum an Personen, das man sich als Pyramide vorstellen kann: An der Spitze stehen gewaltbereite Gruppierungen wie der IS, in der Mitte nicht-gewaltbereite, fundamentale Gruppen wie die Muslimbrüder. Die Basis der Pyramide bildet jedoch die, wie ich sie nenne, "Generation Allah", eine Gruppe von vor allem jungen Personen, deren Werte und Einstellungen nicht mit jenen von demokratischen Gesellschaften übereinstimmen. Diese ideologischen Werte und Inhalte sind Teil ihrer Identität geworden und begünstigten ein Denken, das unter bestimmten Voraussetzungen in Islamismus umschlagen kann. Aus diesem Personenkreis können radikale Gruppierungen ihre zukünftigen Anhänger fischen.

Radikalisierung ist ein Prozess

Um die Problematik der Radikalisierung angehen zu können, müssen wir die psychologischen, soziologischen und ideologischen Mechanismen verstehen, die dem Radikalisierungsprozess zu Grunde liegen. Anfälligkeiten für, aber auch Resilienzen gegen Radikalisierungen werden häufig im Jugendalter ausgebildet. Stärker noch als bei Erwachsenen ist diese Lebensphase psychologisch gesehen durch Identitätsbrüche, Unsicherheiten und Abgrenzungsbedürfnisse geprägt. Besonders Jugendliche, die in patriarchalen Strukturen aufwachsen und/oder eine Vaterfigur vermissen, stehen hier vor einer Herausforderung. Gibt es im patriarchalisch geprägten Haushalt keine entscheidende, wegweisende Instanz, fehlt es speziell männlichen Jugendlichen an einer Vorbildfigur. Solche Jugendlichen suchen nach Entlastung und einem Ende dieser Krise. Weitere psychologische Aspekte einer Radikalisierung sind Unzufriedenheit, Konflikte in der Familie oder der Schule, Depressionen, kritische Lebensereignisse und labile Persönlichkeitsstrukturen.

Aber auch auf soziologischer Ebene finden sich Risikofaktoren, welche eine Radikalisierung begünstigen können: Wir leben in einer globalen, sich stets und schnell verändernden Welt. Ideologische Rattenfänger schlagen daraus Kapital, indem sie Jugendlichen und Erwachsenen das Gefühl vermitteln, die politische Lage werde immer instabiler. Sie bieten einfache Lösungswege und Haltungen, bei denen die Welt in Schwarz und Weiß unterteilt wird. Dies geht mit einem Wahrheitsanspruch einher, der innerhalb der Gruppe ein elitäres Machtgefühl erzeugt, beispielweise die Auffassung, ein Nazi sei der bessere Deutsche oder ein Islamist sei der bessere Mensch. Aus diesem "guten" Innen und "schlechten" Außen können die Jugendlichen auch eine sichtbare, klare Identität konstruieren, um sich von den Eltern oder der Mehrheitsgesellschaft abzugrenzen. Dieses identitätsstiftende Angebot macht radikale Ideologien attraktiv.

In ideologischer Hinsicht basieren Radikalisierung und Islamismus auf einem bestimmten Islamverständnis. Dessen zentrale Aspekte sind folgende:

Buchstabenglauben: Es fehlt an einer allgemeinen Offenheit innerhalb der islamischen Community gegenüber Exegesen, die die heiligen Schriften im lokal-historischen Kontext interpretieren.

Angstpädagogik ist im Islam wie in anderen Religionen ein weit verbreitetes Instrument. Der Glaube ent- und besteht nicht aus Überzeugung, sondern durch die Angst vor der göttlichen Bestrafung. Im Übrigen lassen sich diese Muster in den patriarchalen Strukturen vieler muslimischer Familien wiederfinden: Der Vater bestimmt die Regeln, und wenn man sie nicht befolgt, hat dies (körperliche) Bestrafungen zur Folge. Antisemitismus befördert auf der ideologischen Ebene die Radikalisierung junger Muslime. Zwar ist Antisemitismus herkunftsübergreifend, aber gerade in salafistischen Ideologien ein offen zur Schau gestellter, zentraler Bestandteil. Er geht mit der Schaffung klarer Feindbilder einher, die zwar schon vor der Radikalisierung vorhanden waren, jetzt aber eine religiöse Dimension bekommen. Dadurch kann man Emotionen erzeugen. Durch Schwarz-Weiß-Bilder über den Nahost-Konflikt und einen vermeintlich unfairen Umgang der Mehrheitsgesellschaft, der Medien und der Regierung mit den Muslimen können ein Drang zur Abgrenzung und eine Handlungsmotivation erzeugt werden.

Geschlechterrollen und die damit einhergehende Tabuisierung von Sexualität im Mainstream-Islamverständnis unterstützen Radikalisierungspotenziale. Wer in einer Familie aufwächst, die Sexualität als religiöse Angelegenheit der "Glaubens-Community" betrachtet, die individuelle Sexualität ablehnt und mit Schmutz und Sünde verbindet, bei dem entstehen Sehnsüchte, die beim Ausleben der Bedürfnisse massive Schuldgefühle hervorrufen. Aber nicht nur die Ideologie, sondern auch das soziale Angebot beeinflusst Jugendlichen, wenn sie sich für salafistische Gruppierungen interessieren. Dort finden sie Orientierungshilfen, einen ritualisierten Alltag, einen emotionalen Zufluchtsort und persönliche Anerkennung in der Gemeinschaft.

Prävention oder Deradikalisierung?

Salafisten schaffen es immer wieder, Jugendliche anzusprechen, die beim Erwachsenwerden ins Straucheln geraten und nach Orientierung suchen. Sie machen ihnen Angebote und holen sie dort ab, wo sie stehen. Auf dieser Basis ist es für Salafisten ein Leichtes, Menschen zu beeinflussen. Wir müssen Alternativen parat haben, um dieser Manipulation zuvorzukommen. Das Vorgehen hängt davon ab, an welchem Punkt des Radikalisierungsprozesseses man sich befindet. Im Wesentlichen muss zwischen Präventions- und Deradikalisierungsarbeit unterschieden werden. Im ersten Fall ist das Ziel die Vorbeugung einer potenziellen Radikalität, weshalb die Zielgruppe hier auch viel weiter gefasst werden muss als im zweiten Fall, in dem das sprichwörtliche Kind schon in den ideologischen Brunnen gefallen ist.

Ziel von Präventionsarbeit ist Mündigkeit

Wer selbst denkt, wer mündig ist, wird in der Regel nicht radikal. Was aber, wenn junge Menschen in repressiven, patriarchalen Strukturen aufwachsen? In Strukturen, die es ihnen kaum ermöglichen, Teil einer demokratischen Gesellschaft zu werden? Oft sind sie mit einem Islamverständnis groß geworden, das genauso patriarchalisch und autoritär ist wie ihre Familien. Allah bestraft darin genau wie die Väter. Sie müssen nicht viel vom Islam kennen: Allein die Worte, die angeblich von oben kommen, aktivieren Gefühle von Angst und Schuld. Dann fühlen sie sich hilflos gegenüber dem Vater – und gegenüber Allah. Diese jungen Menschen haben gelernt zu gehorchen. Aus diesem Grund geht es darum, sie zum kritischen Denken zu befähigen und sie damit mündiger zu machen im Umgang mit Themen wie patriarchalischen Erziehungsstrukturen, Antisemitismus, Geschlechterrollen oder Verschwörungstheorien, die bei Radikalisierungsprozessen als Risikofaktoren wirken.

Theaterpädagogischer Ansatz

In analogen Kontexten haben sich Workshops bewährt, die theaterpädagogische, systemische Methoden beinhalten. Sie ermöglichen, verschiedene Haltungen und Rollen zu erproben. Mal Akteur, mal Beobachter zu sein, erweitert den gedanklichen Horizont, indem aus den gelernten Strukturen herausgetreten und eine andere Perspektive eingenommen werden kann. Das stärkt nicht zuletzt die Reflexionsfähigkeit der Teilnehmer-/innen solcher Workshops. Insbesondere das Rollenspiel bietet sich an, um sich emotional in andere Positionen hineinzuversetzen. Es wirkt als Hebel, um kritische Themen und Narrative neu zu besetzen. Inhalte dieser Rollenspiele sind stets Konfliktsituationen aus dem Alltag der Teilnehmer/-innen, für die neue Lösungswege aufgezeigt werden, und Themen, die als Risikofaktoren für eine Radikalisierung anzusehen sind. Diese Fähigkeit zur Problemlösung ermöglicht auch nachhaltige Einstellungsänderungen. Zu diesem Zweck werden Rollenspiele nach der sog. Fischteichmethode durchgeführt: Ein Kreis aus Beobachter/-innen umringt die spielenden Akteure. Angebote dieser Art befinden sich an der Schnittstelle von primärer (alle) und sekundärer Präventionsarbeit (Personen mit Risikofaktoren).

Maßnahmen sollen weder belehrend noch religiös sein. Es geht nicht darum, den Teilnehmer/-innen eine vorgefertigte Wahrheit zu präsentieren, vielmehr sollen Denkprozesse angestoßen werden. Statt theologisch zu argumentiert ("Gott will es so oder so"), sollte es darum gehen, sie selbst auf Ideen und Alternativen kommen zu lassen. Nur wer selbst denkt, ist mündig – Freiheit beginnt im Kopf. Unser Ziel ist es, Dialogplattformen zu schaffen, wo frei von Tabus, frei von Ängsten, offen und auf Augenhöhe mit den Teilnehmer/-innen diskutiert wird. Wir greifen niemanden in seinem Glauben an, lassen Gedankenspielen ihren Raum und stellen Meinungen anschließend mit der Methode des begleiteten Entdeckens in Frage. Das schafft einen Raum, in dem die Jugendlichen ihre Meinung äußern können, ohne dafür verurteilt zu werden. Es ist ebenso Teil unserer Methode, dass alle Workshopleiter/-innen einen pädagogischen Hintergrund haben und, dass sie den gleichen religiösen wie kulturellen Hintergrund aufweisen wie die Teilnehmer. So können sie verschiedene Meinungen durch Hinterfragen und Emotionalität diskutieren. Zu den Themen der Workshops zählen Geschlechterrollen und religiöse Geschlechterverhältnisse: Männlichkeit, Ehre, Ansehen, Druck und Anerkennung in der Gruppe, patriarchalische Strukturen in Bezug zum Islam-Verständnis und Traditionen der Eltern oder Herkunftsländern, kritisches Denken, Hinterfragen von Dogmen, Erziehung in den Familien, aktuelle politische Themen in Bezug auf Islamismus (Opferrolle, Verschwörungstheorien und Schwarz-Weiß-Bilder), Identität, Antisemitismus und Missionierung. Diese Themen werden in Form von alltagsnahen Rollenspielen aufgegriffen.

Ein Blick in die Praxis

Ein Workshop, irgendwo in Deutschland. Ein junger Mann hat sich in ein Mädchen verliebt. Er erzählt seinem Vater davon, dessen Freude zunächst groß und überschwänglich ist. Doch als der Name der Freundin – Lisa – fällt, wandelt sich die Reaktion des Vaters ins Gegenteil. Er ist wütend, dass sein Sohn eine Deutsche heiraten möchte, eine Christin. Seine Argumentation ist nicht mal religiös, sondern es geht ihm um Kultur und Identität, und es schwingen Vorurteile mit, die er gegenüber Deutschen hat. Die Szene endet damit, dass der Vater seinen Sohn hinauswirft und ihm den Segen verwehrt. Danach findet eine Diskussion über das Rollenspiel statt. Wie findet ihr den Vater? Was soll der Sohn jetzt tun? Zu diesen Fragen kommen viele unterschiedliche Meinungen zur Sprache, manche können den Vater verstehen, andere nicht. Nach der Diskussion spielen wir die Szene weiter. Der Sohn ist ängstlich und wütend, vor allem aber durcheinander. Also sucht er Rat bei einem langjährigen Freund, dem er alles erzählt. »Bruder, was ist los mit dir? Du kommst zu mir, erzählst mir eine Geschichte, dass du dich in eine Deutsche verliebt hast. Und das Einzige, was dich interessiert, ist, was dein Vater denkt und wie er reagiert hat?« »Ja.« »Bruder! Hast du dich gefragt, wie Allah dazu steht?« »Also …« »Obwohl wir jahrelang zusammen gebetet haben, geweint haben, Gott angefleht haben, dass er uns richtig leitet? Dass wir uns von dieser Gesellschaft nicht beeinflussen lassen, von diesem sündenhaften Leben? Und du kümmerst dich nicht darum, was Allah davon hält? Du möchtest eine Frau heiraten, die dich nicht näher ans Paradies bringt?« »Ich liebe sie.« »Aber du fragst dich nicht, ob sie Muslima ist. Was wird aus euren Kindern? Werden sie Laternenfeste mitmachen, Weihnachten feiern? Werde ich bei dir zu Hause in Zukunft Wein finden und Salami zum Frühstück bekommen? Haben wir uns nicht immer gewünscht, eine Frau zu haben, die uns in die richtige Richtung bringt? Oder bewegst du dich gerade mit 180 Stundenkilometern in Richtung Hölle?« »Wieso soll mich Liebe in die Hölle bringen?« »Du bist blind, Bruder. Verliebtsein ist Teil dieser Dunja, dieses Lebens. Das und Sexualität sind genau die Methoden des Teufels, der uns beeinflussen will. Liebe ist vergänglich. Im Paradies bekommst du die Liebe deines Lebens. Für immer. 72 Jungfrauen. In diesem Leben musst du eine Frau suchen, die dich näher zu Gott bringt. Die dich morgens um 5:00 Uhr aufweckt, damit du beten kannst. Die nicht fremdgeht, die ihre Reize nicht zur Schau stellt.« »Aber ich kann Lisa doch jetzt nicht einfach verlassen. Ich möchte das auch nicht.« »Nein, musst du nicht. Aber du solltest deine Prioritäten anders setzen. Du solltest immer Gott und Allah vor Augen haben. Dein Ziel muss sein, in den Himmel zu kommen, nicht in die Hölle. Du musst Verantwortung für deine Kinder übernehmen. « »Aber das werde ich.« »Verantwortung für deine Kinder bedeutet aber, dass du alles dafür tun musst, dass sie als gute Muslime aufwachsen können. Und dann kommst du mit einer Deutschen an? Und das soll die Beste für dich sein? Bruder! Ich sag das alles, weil ich dich liebe. Weil ich mit dir im Paradies sein will. Ich will nicht an deinem Grab weinen, weil du dieses Leben nicht genutzt hast, weil du dich von diesem Leben hast verblenden lassen.« »Was soll ich denn tun?« »Du weißt, Allah ist barmherzig. Bring Lisa mal mit in die Moschee. Die Schwestern reden mit ihr. Und wenn sie ein guter Mensch ist, eine reine Frau, dann wird sie begreifen, dass der Islam das Beste ist. Dann ist sie vielleicht eine gute Ehefrau für dich. Im Islam ist es nicht wichtig, aus welchem Land du kommst, darum geht es mir nicht, es geht um den Glauben und die Nähe zu Gott. Nur das zählt. Bring sie mal mit.« »Ich hab aber Angst, dass sie das nicht möchte und dass das zu offensichtlich ist, wenn ich sie mit in die Moschee nehme.« »Nein, nein. Die Schwestern wissen schon, was sie machen. Komm am Samstag nach dem Mittagsgebet. Dann wird sie auch den Unterricht vom Imam mitbekommen. Danach wird es genügend Frauen geben, die mit ihr sprechen und sie bestimmt überzeugen werden. Aber mir ist viel wichtiger, dass auch du wieder in die Moschee kommst. Denn auch eine gute Frau ist nicht ausreichend, wenn dein Herz nicht rein ist.« Ende. Applaus.

Reflexion des Rollenspiels

Noch während die anderen applaudieren, ruft ein junger Teilnehmer: »Brutal. Ich hab Gänsehaut. Das ist echt ein guter Freund. Brutal. Der versteht ihn. Ich wünsche mir auch so einen Freund.« »Das ist kein Freund, das ist ein Terrorist!«, ruft ein älterer.

So wie der jüngere Teilnehmer reagieren viele, wenn wir dieses Rollenspiel zeigen. Immer wieder stellt sich dann heraus, dass die, die am lautesten applaudieren, den Islam am wenigsten kennen. Sie tragen Narrative in sich, die sie von den Imamen in ihren Moscheen und zu Hause gelernt haben. Wir bedienen diese Narrative in unserem Rollenspiel absichtlich und merken immer wieder, wie positiv diese Männer darauf reagieren, welche magische Ausstrahlung die Worte des Freundes auf sie haben, und wie sprach- und widerstandslos sie einem solchen Freund ausgeliefert sind.

Es ist wichtig, das zu erzählen, denn genau so arbeiten Salafisten. Diese müssen gar nicht viel theologisches Wissen mitbringen. Sie müssen nur so tun, als würden sie im Namen Gottes sprechen. Und sie müssen Macht ausüben – freundlich, aber bestimmt. Das aktiviert Schuldgefühle und Ängste, die die Jugendlichen bereits aus ihren patriarchalischen Familienstrukturen kennen. Die Angst vor dem strafenden Vater wird zu einer Angst vor Gott, gepaart mit dem Gefühl, die eigene Identität zu verlieren. Gelähmt von der Sorge, kein guter Muslim zu sein und vom eigenen Umfeld bloß gestellt zu werden, macht das viele sprachlos, sie wissen nicht mehr, wie sie damit umgehen sollen. Und die Radikalen erlangen einen einfachen Zugang zu ihnen, ohne viel Widerstand befürchten zu müssen.

Ich frage mich, wie viele junge Menschen sich von solchen Worten überzeugen lassen. Diese selbsternannten Stellvertreter Gottes oder Allahs gibt es zuhauf, und es reicht, den richtigen Moment und den richtigen Jungen zu treffen, die richtigen Worte zu wählen und sie zu wiederholen, hier und da »Allah« zu sagen und »Maschallah«, »Satan«, »Hölle«, »Ehre«, »Paradies«, »Jihad«. Wörter, die ganz bestimmte (Schuld-)Gefühle auslösen. Wörter, die die Jungen empfänglich für die Ideologie machen, für die Rattenfänger aller Sorten, die im Namen der Religion auf Jagd gehen. Ich sehe immer wieder Teilnehmer, die bei diesem Rollenspiel eifrig und zustimmend nicken. Sie wären bereit, alles zu tun. Es tut mir leid, das zu sehen. Aber es spricht Bände. Diese jungen Menschen haben nicht gelernt zu reflektieren, sich ihre eigene Meinung zu bilden und mündig zu werden. Wäre das der Fall, könnten sie andere Meinungen aushalten und respektieren oder ihnen konstruktiv widersprechen und darüber streiten. Genau deshalb ist es unsere Aufgabe, diese Menschen zu gewinnen und widerstandsfähiger zu machen. Ihnen zu zeigen, dass es möglich ist, solchen Narrativen zu widersprechen. Ihnen den Unterschied zwischen Glauben und Ideologie zu verdeutlichen und ihnen die Angst zu nehmen, dadurch ein schlechter Muslim zu sein. Wir wollen Schuldgefühle abbauen und die Möglichkeit eröffnen, einen Glauben zu entwickeln, der selbstbewusst und sicher ist – ohne Angst. Wir wollen diese Menschen mündig machen gegenüber Gott, Propheten, Imamen und radikalen Missionaren.

Orte der Präventionsarbeit

Jugendarbeit und Jugendsozialarbeit sind – neben schulischer Präventionsarbeit, die in diesem Text nicht behandelt werden soll – zentrale Bausteine der Radikalisierungsprävention. Mit altersgerechten und fallorientierten Stützangeboten helfen sie nicht nur jungen Menschen, ihre eigene Identität herauszubilden, sondern sie sind auch ein wichtiges "Frühwarnsystem", um islamistische Radikalisierung möglichst noch im Entstehungsprozess zu erkennen. Zusätzliche außerschulische Orte der Präventionsarbeit sind außerdem Moscheen, Integrationskurse, Gefängnisse und das Internet.

Das Internet

Junge Menschen nutzen heute das Internet, um sich über aktuelle Entwicklungen zu informieren. Ebenso dient ihnen das Netz zum kulturellen und religiösen Austausch. Salafistische und jihadistische Organisationen haben das erkannt und nutzen mittlerweile ihrerseits sehr professionell vor allem soziale Netzwerke, um Anhänger zu rekrutieren und für ihrer Ideologie zu werben. Diesem medialen Angebot gilt es entgegenzutreten und gemeinsam mit der Zivilgesellschaft alternative Narrative zu entwickeln. Innerhalb der schulischen und außerschulischen Bildungsarbeit mit Jugendlichen muss zukünftig die Stärkung ihrer Medienkompetenz eine herausgehobene Stellung einnehmen, damit sie sich online einmischen und mitdiskutieren. Zu dieser Form digitaler Sozialarbeit gehört es, den Jugendlichen beizubringen, Fake News oder Verschwörungstheorien als solche zu identifizieren.

Gefängnisse

In unserer Arbeit im Gefängnis bei unserem Projekt "ReStart – Freiheit beginnt im Kopf" von MIND prevention (Mansour-Initiative für Demokratieförderung und Extremismusprävention) bieten wir Präventionsarbeit gegen Islamismus an. Es geht darum, junge Menschen gegen Ansprachen und Missionierungsversuche von Radikalen zu schützen. Das gelingt, indem wir mit ihnen über die Themen sprechen, die Radikale ansonsten für sich beanspruchen.

Warum sind Gefängnisse ein wichtiger Ort für Präventionsarbeit? In der Haft befinden sich Jugendliche in der Regel in einer persönlichen Krise, sie haben die Anerkennung der Gesellschaft verloren, werden in ihrem Umfeld und in der Familie stigmatisiert, manchmal sogar ausgestoßen. Sie sind allein mit ihren Sorgen, haben enorm viel Zeit und suchen meistens nach einem Neuanfang. In den letzten Jahren hat die Zahl inhaftierter Islamisten zugenommen. Somit ist vor Ort auch die Zahl der Missionierungsversuche gestiegen.

Integrationskurse

In Integrationskursen sind Menschen, die zur Zielgruppe für Präventionsarbeit zählen, in mehr oder weniger feste und regelmäßige Strukturen eingebunden, die man für die Immunisierung gegen Islamismus fruchtbar machen könnte. Sie lernen dort bisher Dinge, die für eine erfolgreiche Integration zwar wichtig, aber nicht ausreichend sind. Nach einer Definition "integriert ist, wer Arbeit hat, die Sprache spricht und nicht kriminell ist ", wäre auch Mohammed Atta, der Attentäter vom 11. September 2001, als gut integriert zu bezeichnen gewesen. Es wäre daher zielführend, mit den Anbietern von Integrationskursen zu kooperieren und Präventionsarbeit, wie beispielsweise Workshops der beschrieben Art, in die Curricula einzubinden. Am wichtigsten sind dabei Einheiten zur Wertevermittlung und Dialogplattformen auf Augenhöhe.

Jugend- und Sozialarbeit

Generell kommt auch der allgemeinen außerschulischen Jugend- und Sozialarbeit eine wichtige Rolle bei der Präventionsarbeit zu. Die Möglichkeiten sind breit gefächert. Zentral ist, dass die Angebote von den Jugendlichen als attraktiv wahrgenommen werden. Eine zeitgemäße Präsentation ist daher unumgänglich. Ziel muss es stets sein, nicht nur eine sinnvolle Freizeitgestaltung zu ermöglichen, sondern auch einen demokratischen Mehrwert zu schaffen. Projekte, die die Jugendlichen aktivieren, die sie dazu bringen, sich mit für die Präventionsarbeit relevanten Themen auseinandersetzen, sind wünschenswert. Insbesondere Formen des Debattierens und diskursiven Streitens sind mit einer Reihe positiver Effekte verbunden. Aber auch sportliche oder künstlerische Tätigkeiten (in der Gruppe) reduzieren die Gefahr, dass junge Menschen sich für radikale Ideologien öffnen. Auf der anderen Seite gilt es, die Pädagogen und Sozialarbeiter schon im Rahmen ihrer Ausbildung dazu zu befähigen, Islamismus zu erkennen und Netzwerke zu aktvieren (wie Eltern, Schule, Beruf, Jugendamt und Polizei), um in Fällen von Radikalisierung schnell reagieren zu können.

Sicherer Umgang mit und Erkennung von Islamismus

Neben den Menschen, die potenziell gegen radikale Missionierungsversuche immunisiert werden sollten, gibt es noch eine zweite Zielgruppe für Präventionsarbeit: All jene Berufsgruppen, die in der Schule, im Jugendamt oder in Justizvollzugsanstalten mit den Jugendlichen arbeiten. Beamte, Pädagogen und Sozialarbeiter müssen Grundkurse bekommen, die sie zu professionellem Handeln gegenüber Radikalen befähigen. Sie müssen lernen, zwischen normaler Religiosität und radikaler Ideologie zu unterscheiden. Sie müssen lernen, wie sie in ihrer Arbeit präventiv agieren können, um Islamismus zu bekämpfen. Und sie müssen lernen, wie sie radikalisierte Personen erkennen. Dabei beobachten wir viel Unsicherheit. Die Gefahr der Radikalisierung betrifft Männer und Frauen, wenngleich das Verhältnis bei etwa 70:30 liegt. Die Gründe und Ursachen sind dabei nahezu deckungsgleich, auch Frauen leiden unter einer fehlenden Vaterfigur oder patriarchalischen Strukturen.

Zu den wichtigsten Anzeichen gehören dabei, dass Betroffene

  1. ihr Verhalten ändern und/ oder sich zurückziehen. Indizien sind hier beispielsweise die Aufgabe von Hobbys, die Änderung des Freundeskreises oder die Ablehnung "westlicher" Produkte/Lebensweise.

  2. nicht nur etwas glauben, sondern massiv in ihrem Umfeld für diesen Glauben werben und missionieren, teilweise auch andere religiös konnotiert mobben. (Insbesondere bei Aussagen, die andere bekehren sollen, die sich vermeintlich unislamisch verhielten oder kleideten, sollte man hellhörig werden.)

  3. ihren Alltag von der Religion bestimmen lassen, und nicht umgekehrt. Sie bestehen also auf Sonderrechte oder verweigern Dinge. Konfliktpunkte, an denen dies deutlich wird, betreffen zum Beispiel das Fasten im Ramadan, die Teilnahme am Schwimmunterricht oder der Klassenfahrt sowie andere religiöse Essens- oder Gebetsvorschriften. Ebenso der Wunsch, in der Schule zu beten und die Verteufelung von Musik.

  4. einschlägige Symbole verwenden. Der radikale Islamismus weist Züge einer Popkultur auf, wozu unter anderem die Verwendung von Erkennungszeichen wie Kleidung oder schriftsprachlicher Symbole gehört. Die Verwendung der IS-Fahne, das Hören von Nasheeds anstelle von Musik oder die Zugehörigkeit zu einschlägigen Gruppen in den sozialen Medien können hier als Beispiele genannt werden.

  5. ihr Verhalten dem anderen Geschlecht gegenüber grundlegend verändern. Insbesondere, dass sie nicht mehr bereit sind, Kontakt zu haben. Besonders auffallend ist die Verweigerung des Handschlags mit Frauen, es gibt aber auch subtilere Formen, der Trennung und der Ungleichheit der Geschlechter Nachdruck zu verleihen, beispielsweise nicht mehr neben einer Frau sitzen zu wollen, obwohl es vorher keine Probleme damit gab.

  6. eine binäre Rhetorik verwenden, die in Schwarz und Weiß, in Opfer- und Feindbildern denkt und vom Kampf gegen den Islam und Verschwörungstheorien bestimmt ist. Einfache Antworten machen den Salafismus attraktiv. So auch die Legende, die ganze Welt sei gegen die Muslime, besonders die Juden oder die Medien, und was im Nahostkonflikt passiere, verdeutliche diese Ungerechtigkeit. Auffällig ist zudem die Verweigerung, über bestimmte religiöse Themen offen zu reden.

Richtlinien zur Präventionsarbeit

Aus den aus meiner Sicht notwendigen Aspekten lassen sich folgende Richtlinien für wirkungsvolle Präventionsarbeit ableiten:

  1. Präventionsarbeit muss professionell und daher religiös neutral sein.

  2. Die Arbeit muss durch gut ausgebildete Pädagogen, Sozialarbeiter oder Psychologen geleistet werden. Träger und Mitarbeiter müssen einer Sicherheitsprüfung durch den Staats- oder Verfassungsschutz unterzogen werden. (Demokratie-Klausel)

  3. Die Arbeit muss in erster Linie dazu dienen, die Teilnehmer zu mündigen Menschen zu machen.

  4. Die Arbeit muss nachhaltig sein.

  5. Folgende Themen müssen Bestandteil der Präventionsarbeit sein:

    1. Kritisches Denken

    2. Das Hinterfragen religiöser Dogmen, wie Buchstabenglaube, Exklusivitätsanspruch und Angstpädagogik

    3. Opfer- und Feindbilder

    4. Den Nahostkonflikt, Verschwörungstheorien und (religiöse) Argumente des Antisemitismus ansprechen.

    5. Meinungsfreiheit. Es geht darum, das Debattieren zu erlernen, andere Meinungen und Argumente auszuhalten und in der Gruppe zu diskutieren.

    6. Religionsfreiheit – positiv und negativ: Es gilt, die Freiheit von Religionen sowie die Gleichberechtigung der Religionen zu thematisieren.

    7. Rollenbilder thematisieren: Patriarchalische Strukturen, Tabuisierung von Sexualität und sexuelle Selbstbestimmung.

  6. In den Einrichtungen, in denen Präventionsarbeit stattfindet, wie Schulen, Jugendzentren oder Justizvollzugsanstalten, müssen alle Mitarbeiter miteinbezogen werden oder als Beobachter und aktiv teilnehmen dürfen.

  7. Präventionsarbeit darf nicht "bemuttern", sondern sie soll intellektuell herausfordern. Sie darf nicht belehrend sein, sondern muss auf Augenhöhe stattfinden. Beispielsweise durch Imame, die von vorneherein als Respektspersonen gelten und in der patriarchalischen Struktur ganz oben stehen, sind viele junge Menschen ein solches Diskussionsverhältnis nicht gewohnt. Ihnen zu vermitteln, Gott wolle dies, jenes aber nicht, mag für den Moment dazu geeignet sein, sie zum Nachdenken und von Gewalt abzubringen. Auf Dauer werden durch Bevormundung aber keine mündigen Menschen entstehen, die selbst denken und handeln. Dies birgt die Gefahr, dass über Autoritätspersonen, die ihre Position missbrauchen, auch in Zukunft ein Einfallstor für die Vermittlung von Inhalten geöffnet bleibt, die als Risikofaktoren für eine Radikalisierung wirken könnten (z. B. Angstpädagogik, Buchstabenglaube, Tabuisierung von Sexualität, Opfer- und Feindbilder usw.).

Deradikalisierungsarbeit

Deradikalisierungsarbeit unterscheidet sich konzeptuell grundsätzlich von Präventionsarbeit. Durch den viel späteren Zeitpunkt Im Verlauf des Radikalisierungsprozesses steht bei dieser Intervention nicht die Immunisierung gegen Ideologie durch die Fähigkeit zum kritischen Denken im Vordergrund. Vielmehr geht es um die allmähliche Loslösung einer radikalisierten Person von ihrer Ideologie und der dazugehörigen sozialen Gruppe, und zwar in Zusammenarbeit mit Experten und persönlichen Bezugspersonen. Als zweiter Schritt folgen nach der Distanzierungsarbeit die Hilfe, Betreuung und Begleitung bei der Ausstiegsarbeit. Während die Präventionsarbeit breiter aufgestellt ist und oft in Gruppenarbeit erfolgt, erfordert Deradikalisierung stets eine sehr individuelle Begleitung, die maßgeblich von der zu erreichenden Person und ihrem Umfeld abhängt. Zudem ist die Erfolgsquote geringer und weniger vorhersagbar. Weiterhin ist ein Deradikalisierungsprozess langwierig und kann sich über mehrere Jahre hinweg vollziehen.

Deradikalisierungsarbeit folgt unterschiedlichen Konzepten. Bei jedem individuellen Fall muss beurteilt werden, welche Methode am besten funktioniert. In manchen Fällen ist die Beratung und Begleitung von Eltern erfolgreich. Sie verfolgt das Ziel, die Angehörigen zu befähigen, positiv auf die Radikalen einzuwirken. So arbeitet beispielsweise die Beratungsstelle Hayat in Berlin. In anderen Fällen ist eine direkte und individuelle Begleitung von bereits radikalen Jugendlichen am besten. Hier geht es vor allem um eine psychologische Begleitung, um die Faktoren der Radikalisierung zu erkennen und in einer Gesprächstherapie zu analysieren. Damit soll den Betroffenen eine Auseinandersetzung und schließlich Distanzierung ermöglicht werden. Am Anfang der Deradikalisierung steht oftmals ein Gespräch in der Beratungsstelle oder an einem anonymen Ort wie einem Café. Zu Beginn geht es um Brüche im Leben der Jugendlichen, um das Verhältnis zu den Eltern, um die Persönlichkeit des Betroffenen. Anschließend werden die Eltern "gecoacht". Sie sollen wieder ein Verhältnis zu ihren Kindern entwickeln – und zwar durch Zuhören, ohne die eigene Meinung zu verleugnen. Ziel ist, die Radikalisierung zu stoppen. Das gelingt in etwa 60 Prozent der Fälle. Entscheidend für eine erfolgreiche Deradikalisierung ist nicht die Religiosität des Kindes, sondern vielmehr, dass die missionierenden, ausgrenzenden und abwertenden Elemente aus Verhalten und Denken verschwunden sind. Die Einführung eines runden Tisches wäre sehr wichtig, um alle Akteure (Eltern, Lehrer, Freunde und Polizei) zusammenzubringen und gemeinsam eine Strategie zu entwickeln, um positiv auf den Betroffenen einzuwirken.

Orchestrierung einer gesamtgesellschaftlichen Aufgabe

Was also können wir tun, um die "Generation Allah" vor Radikalisierungsmechanismen zu schützen, um letztlich unsere Demokratie zu schützen? Ebenso wie die Islamisierung selbst muss auch Präventionsarbeit als ein Prozess verstanden werden. Der Staat kann durch Reformen und Festlegung bestimmter Richtlinien die Weichen für eine gesamtgesellschaftliche Veränderung stellen. Er kann die Orchestrierung dieser gesamtgesellschaftlichen Aufgabe steuern. Klar sein muss aber auch, dass es hierbei eines "langen Atems" bedarf.

Folgende Aspekte sollten auf der institutionellen Ebene beachtet werden, damit langfristig nicht nur das Symptom "Radikalisierung" behandelt wird, sondern auch dessen Ursachen: Die institutionellen Reformen, die ich für unumgänglich halte, müssen von einer zentralen Stelle, einem/einer Bundesbeauftragten zur Prävention und Bekämpfung ideologischer Radikalisierung, gesteuert und kontrolliert werden. Die Funktion dieser Stelle ist die Koordinierung eines bundesweit einheitlichen Präventionsprogramms, wobei regionale Besonderheiten, wie beispielsweise die demografischen Unterschiede zwischen den alten und neuen Bundesländern, Unterschiede zwischen Städten und Land mitbeachtet werden. Gleichzeitig muss es in dieser Zentrale auch einen steten Kontakt mit anderen internationalen Präventionsprojekten geben. Sämtliche in Deutschland anlaufenden Präventionsprojekte müssen sich an den von der Bundesstelle aufgestellten Leitlinien orientieren. Das muss transparent ablaufen. Neben Präventionsprojekten sollten folgende Bereiche gefördert werden: Der Aufbau kommunaler Netzwerke, der Ausbau des sozialen Lernens an Schulen, die Aufnahme des Themas "Islamismus" als zentraler Bestandteil der Lehreramtsausbildung, die Förderung von digitaler Sozialarbeit und die Institutionalisierung der Integrationsarbeit.

In der täglichen Arbeit sprechen wir mit den Workshop-Teilnehmern viel über Feindbilder und Antisemitismus, über Homosexualität, über Respekt und Offenheit, Toleranz und Akzeptanz, über Gleichberechtigung und die Freiheit, eine eigene Meinung vertreten zu dürfen. Die Teilnehmer sollen verstehen, dass dies Grundpfeiler für ein friedliches Zusammenleben sind – in unseren Familien und in unserer Gesellschaft. Nur wenn Differenzen ausgehalten und nicht in einem Kräftemessen entschieden werden, ist das möglich. Bei der Arbeit mit ihnen denke ich immer wieder: Trotz aller Hindernisse und Probleme können wir es schaffen, aufeinander zuzugehen. Wir können eine Gesellschaft werden, die offen, integrativ und vielfältig ist – wenn wir endlich begreifen, wie tiefgreifend diese Aufgabe ist und wie lange sie uns begleiten wird.

ist Diplom-Psychologe. An der Universität in Tel- Aviv studierte er Psychologie, Soziologie und Philosophie und führte sein Studium im Fach klinische Psychologie an der Humboldt Universität zu Berlin fort. Er ist Geschäftsführer der "Mansour-Initiative für Demokratieförderung und Extremismusprävention (MIND) GmbH", die Beratung und Schulungen in den Bereichen Radikalisierung unter muslimischen Jugendlichen, Antisemitismus in der muslimischen Community und Unterdrückung im Namen der Ehre anbietet. Außerdem ist er als Autor tätig. Zuletzt erschien: "Klartext zur Integration. Gegen falsche Toleranz und Panikmache" (2018).