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Muslimische Verbände und Moscheegemeinden und die Frage nach der Radikalisierung junger Menschen

Mouhanad Khorchide

/ 10 Minuten zu lesen

In Deutschland gibt es Moscheegemeinden, die Ungleichwertigkeitsvorstellungen verbreiten. Öffentlich distanzieren sie sich zwar von Gewalt, Salafismus und Dschihadismus, aber sie gründen auf Ideologien, die im Widerspruch zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung stehen. Welche Gefahr geht von ihnen aus? Mouhanad Khorchide fordert einen Islam in und für Deutschland – und statt Lippenbekenntnissen echte Gegenangebote zum Fundamentalismus.

Ünal Kaymakci (l-r), Vorstandsmitglied der Islamischen Gemeinschaft der Schiiten, Norbert Müller, Vorstandsmitglied SCHURA, Rat der Islamischen Gemeinschaften Hamburg, Zekeriya Altug, Außenabteilungsleiter der Türkisch-Islamischen Union (DITIB), Ayman Mazyek, Vorsitzender des Zentralrats der Muslime in Deutschland, Ali Kizilkaya, Ratsvorsitzender des Islamrats für die Bundesrepublik Deutschland, und Jawad Mohagheghi nehmen am 10.01.2015 im Islamischen Zentrum in Hamburg (IZH) an einer Konferenz der SCHURA zum Thema "Extremismus als islamische und gesellschaftliche Herausforderung" teil. Der Hamburger Verfassungsschutz stuft das IZH als extremistisch ein. (© picture-alliance/dpa)

Wenn ein jahrelang im interreligiösen Dialog engagierter Funktionär der größten Moscheegemeinde Deutschlands Hasspostings gegen Juden und Armenier veröffentlicht, dann fragen viele, und dies zu Recht, nach der Rolle der muslimischen Moscheegemeinden bei der Radikalisierung bzw. Deradikalisierung junger Menschen in Deutschland. Dieser Funktionär hat eine gemeinsame Erklärung für Frieden und gegenseitigen Respekt unterschrieben, in der es unter anderem heißt: „Bei uns haben Verunglimpfungen keinen Platz. Wir verstehen Vielfalt als Chance und plädieren für einen achtsamen und offenen Umgang in der gesellschaftlichen Debatte um religiöse und kulturelle Pluralität.“

Aber welche Glaubwürdigkeit haben nun solche und ähnliche Erklärungen, wenn deren Unterzeichner gegenteilige Aussagen und Handlungen tätigen? Welche Glaubwürdigkeit haben Appelle gegen Homophobie, wenn solche Themen in den Moscheegemeinden weiterhin tabuisiert werden? Dienen sie lediglich als politische Statements nach außen, der Vermittlung einer mit der freiheitlich-demokratischen Grundordnung vereinbarten Haltung, werden aber nach innen nicht wirklich vertreten und vermittelt?

Viele Moscheegemeinden nehmen an interreligiösen Dialogveranstaltungen teil und äußern sich hierzu positiv. Wie sieht es aber mit der Bereitschaft zum innerislamischen Dialog aus? Möchten diese Moscheegemeinden und Verbände auch mit anderen muslimischen liberalen Verbänden gleichberechtigt und auf Augenhöhe am selben Tisch sitzen? Wie glaubwürdig ist hier die Rede von Pluralität und Anerkennung von Vielfalt? Was ist mit innerislamischen theologischen Positionen, die etwa den Koran mit historisch-kritischen Methoden erforschen wollen? Und welche Bilder von Andersgläubigen und von Juden werden in den Moscheegemeinden vermittelt? Das sind berechtigte Fragen, die nur die Funktionäre und Verantwortlichen in den Moscheegemeinden selbst beantworten können. Nur sie können für Transparenz sorgen, indem sie konkrete Schritte der Aufklärung in der eigenen Bildungsarbeit leisten und diese sichtbar machen.

Mit dem Aufkommen der dschihadistischen Organisation al-Qaida in den 1990er-Jahren konzentrierte sich die wissenschaftliche Aufmerksamkeit zunehmend auf die enge Verbindung von islamischem Fundamentalismus und Terrorismus. Damit kam es, vor allem nach dem 11. September 2001, zu einer gewissen Verschiebung der Perspektive auf den politischen Islam in Richtung Sicherheitspolitik, weshalb Thorsten Hasche davon spricht, dass der politische Islam „versicherheitlicht“ wurde. Diese Verschiebung, von der auch die Wissenschaft stark betroffen war, führte allerdings dazu, dass das Phänomen des politischen Islams in seiner nicht gewalttätigen Ausprägung aus dem Blickfeld geriet. Zurzeit zeichnet sich jedoch eine erneute Veränderung des wissenschaftlichen Interesses an der Erforschung des politischen Islams ab, und der legalistische Islamismus gerät zunehmend in den Fokus.

„Der legalistische Islamismus zeichnet sich dadurch aus, dass er im Unterschied zum salafistischen und jihadistischen Islamismus vordergründig die bestehenden Rechts- und Politikverhältnisse anerkennt und bereit ist, im Rahmen der gültigen Gesetze zu handeln (= legalistisches Handeln). Es geht in erster Linie darum, weder durch Abwertung und Delegitimierung des Rechtsstaates noch durch Straftaten aufzufallen, die eine Loyalität zur bestehenden Ordnung in Frage stellen würden. Gleichzeitig werden aber übergeordnete ideologische Ziele verfolgt, Anhänger rekrutiert und alternative (vor allem liberale) Islamvorstellungen delegitimiert und verdrängt. Langfristig ist es das Ziel, die bestehenden Verhältnisse und Gesetze so zu verändern, dass sie dem islamistischen Verständnis der Scharia entsprechen. Insofern unterscheiden sich legalistische Islamisten nur in der Methode, nicht aber in ihren Zielen von salafistischen und jihadistischen Islamisten.“
Diese Entwicklung stellt eine neue Herausforderung dar, denn wir stehen heute vor einer neuen Ausprägung des Phänomens der Radikalisierung, das weniger mit Gewalt und unmittelbarer Ablehnung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung zu tun hat, sondern darauf abzielt, den Rechtsstaat zu unterwandern, um mit demokratischen Mitteln die freiheitliche demokratische Grundordnung abzuschaffen und eine islamistische Gesellschaftsordnung durchzusetzen.

Zu solchen Organisationen werden zum Beispiel die Muslimbruderschaft und Millî Görüş gezählt. Erstere ist im Zentralrat der Muslime (ZMD) vertreten, und Letztere gilt nach DITIB als die zweitgrößte islamische Organisation in Deutschland. Die Muslimbruderschaft gründet auf der Ideologie von Hasan al-Bannā, der von den Anhängern der Bruderschaft bis heute hochgeehrt wird. Dieser schreibt: „Wir erkennen kein Regierungssystem an, das nicht seine Regeln und Prinzipien vom Islam ableitet. Wir erkennen diese politischen Parteien nicht an. (…) Wir werden nach der Wiederbelebung der Scharia in seiner Gesamtheit streben. Und wir werden so handeln, damit die islamische Regierung auf der Grundlage dieses Systems etabliert wird.“ Solche Ideologien verstehen sich als Herrschaftsideologien, weil sie, wie aus anderen Schriften der Bruderschaft ersichtlich wird, anstreben, ihre Vorstellung einer auf der Scharia basierenden Gesellschaftsordnung in der jeweiligen Gesellschaft, in der ihre Anhänger leben, sukzessive und langfristig durchzusetzen. Bei der Millî Görüş besteht nicht nur eine nicht zu übersehende Nähe zur Muslimbruderschaft, ihre auf Necmettin Erbakan zurückgehende Ideologie zeigt klare Elemente des legalistischen Islamismus auf. Die Millî Görüş unter Erbakan kann daher als prominenteste Bewegung des politischen Islams türkischer Prägung gesehen werden. Während Millî Görüş inzwischen keine homogene Gruppe mehr darstellt, bleibt die Frage offen, inwieweit sich die neuen Generationen der Bewegung von den Positionen Erbakans verabschiedet haben, die im Widerspruch zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung stehen.

Ist die Bewegung heute bereit, sich von der Muslimbruderschaft zu distanzieren? Inwieweit setzen sich die moderaten Stimmen innerhalb der Bewegung durch? Und wenn sich die Bewegung von Erbakans problematischen Positionen verabschieden würde, wie definiert sich die Bewegung heute? Welche religiösen sowie politischen Grundlagen machen ihr Profil aus? Diese Fragen können nur die Verantwortlichen bei Millî Görüş selbst beantworten. Dies wäre deshalb von großer Bedeutung, weil Millî Görüş auf Jugendarbeit setzt und dadurch viele in Europa lebende muslimische Jugendliche erreicht. Doch mit welchem Inhalt, mit welcher Ideologie und Zielsetzung?

Die Ideologie des Gründervaters Erbakan ist antisemitisch, antiwestlich und antidemokratisch. Wird diese Ideologie in den zur Millî Görüş gehörenden Moscheegemeinden vertreten und vermittelt, dann leisten die betreffenden Moscheegemeinden einen Beitrag zur Herausbildung von Generationen, die die freiheitlich-demokratische Grundordnung als nicht mit dem Islam zu vereinbaren betrachten und eine eigene Ordnung anstreben, die sie als islamisch definieren.

Diese beiden genannten Organisationen (Muslimbruderschaft und Millî Görüş) sind nur zwei Beispiele für in Deutschland vertretene Moscheegemeinden, die sich zwar öffentlich von Gewalt, Salafismus und Dschihadismus distanzieren, aber dennoch auf Ideologien gründen, die im Widerspruch zu den demokratischen und rechtsstaatlichen Werten Deutschlands stehen.

Die Unterstützung der Etablierung einer deutsch-islamischen Identität als wichtiges Kriterium gelungener Moscheearbeit

Sich diskursiv mit der Frage nach der Etablierung einer multidimensionalen Identität junger Muslim*innen auseinanderzusetzen, in der das Muslimsein und das Deutschsein keine Gegensätze darstellen, sondern miteinander harmonieren, setzt nicht nur ein fundiertes theologisches Wissen voraus, sondern erfordert auch umfangreiche Kenntnisse der Lebenswirklichkeit junger Muslim*innen in Europa.

Es geht darum, ebendiese in Deutschland als Ausgangspunkt und Anker der Moscheearbeit ins Zentrum zu rücken. In seiner Studie über den außerschulischen islamischen Religionsunterricht in Nordrhein-Westfalen betont Hasan Alacacıoğlu zwar die Bedeutung des Unterrichts in den sogenannten Koranschulen für die Sozialisierung der Kinder und Jugendlichen sowie seine Rolle bei der Erziehung der muslimischen Jugendlichen zu gesetzestreuen Bürger*innen. Die Zielsetzung des Religionsunterrichts wird positiv bewertet, denn sie „entspricht dem modernen religionspädagogischen Verständnis von Religionsunterricht“. Er stellt allerdings fest, dass dieser Unterricht stärker im Sinne affirmativer Vermittlung normativ-religiöser Vorgaben ausgerichtet ist: Der Katechismus bestimme „(…) eindeutig die Ziele und Inhalte des Religionsunterrichts sowie das didaktische Vorgehen. Die Aussagen des Katechismus gelten als nicht zu hinterfragen und werden den Schülern in den didaktischen Formen des Memorierens und der Textanalyse nahegebracht. Dieses Verständnis des Religionsunterrichts hat ebenso weitreichende Auswirkungen auf das Lehrer-Schüler-Verhältnis: Der Lehrer gilt hier als Verkünder der Wahrheiten des Katechismus, der Schüler als jemand, der zu diesen Wahrheiten geführt werden muß [sic!]“.

Daraus ergibt sich die Herausforderung, die Moscheearbeit so zu gestalten, dass sie dem Bedürfnis der Muslim*innen nach der Wahrung einer islamischen Identität gerecht wird und zugleich einen Beitrag dazu leistet, eine Harmonie zwischen dem Muslimsein und der Lebenswirklichkeit herzustellen. Durch die religiöse Erziehung in den Moscheen sollten die jungen Muslim*innen dazu befähigt werden, ihr Leben in eigener Verantwortung zu führen. Hierzu gehört auch, ihren Verpflichtungen gegenüber dem Staat und der Gesellschaft gerecht zu werden.

Dies setzt allerdings voraus, den Islam so zu verstehen und zu interpretieren, dass er gläubigen Muslim*innen eine Grundlage liefert, die Traditionen, die mit modernen Werten wie Menschenrechten, Pluralismus und Demokratie schwer vereinbar sind, kritisch zu reflektieren. Die letzten Jahre zeigen zunehmend, dass eine falsch verstandene Religion, die für politische Zwecke instrumentalisiert wird, zu einer Gefahr für den gesellschaftlichen Zusammenhalt werden kann. Die Arbeit der Moscheen und muslimischen Organisationen muss daher darauf ausgerichtet sein, die lebenswirkliche Dimension der Muslim*innen in Europa in die theologische Reflexion zu implementieren. Dabei kommt den Imamen eine wichtige Rolle zu, denn das Bild des Islams vieler Muslim*innen hängt davon ab, welche religiösen Inhalte durch die Moscheegemeinden kommuniziert werden.

Da der Islam kein Lehramt und keine Kirche kennt, gibt es eine große Bandbreite von religiösen Auslegungen des Islams, die in den Moscheegemeinden unterschiedlich vertreten sind. Die integrative Rolle der Moscheen hängt also von deren religiösen Angeboten ab. Die Ergebnisse empirischer Studien zeigen, dass Moscheegemeinden für junge Muslim*innen immer unattraktiver werden. In seiner Studie über türkischstämmige Muslim*innen in Deutschland aus dem Jahr 2016 kommt der Soziologe Detlef Pollack zu dem Ergebnis, dass Angehörige der zweiten und dritten Generation weniger häufig die Moschee besuchen als die erste Generation (23 vs. 32 Prozent „wöchentlich oder öfter“) und auch deutlich seltener bekunden, mehrmals am Tag das persönliche Gebet zu verrichten (35 vs. 55 Prozent). Gleichzeitig gewann die salafistische Szene gerade unter jungen Muslim*innen in den vergangenen Jahren an Attraktivität, bevor ihr Zulauf im vergangenen Jahr insbesondere durch die Kontaktbeschränkungen in der Corona-Pandemie stagnierte.

Es reicht nicht aus, sich vom Salafismus und Extremismus zu distanzieren und diese zu verurteilen. Was die Jugendlichen dringend benötigen, sind Gegenangebote zum Fundamentalismus. Es geht darum, sie nicht vor die Wahl zu stellen, entweder Deutsche*r oder Muslim*in zu sein, sondern ihnen stattdessen die Grundlagen für eine mehrdimensionale Identität zu bieten: Deutsche und Muslim*innen zu sein.

Ein Islam in und für Deutschland

In der öffentlichen Debatte wurde und wird weiterhin in Deutschland über die Notwendigkeit diskutiert, dass Imame auch auf Deutsch predigen sollen. Zweifellos wird die Predigt muslimischer Imame auf Deutsch (zumindest eine deutschsprachige Zusammenfassung der Predigt) für mehr Transparenz der Arbeit der Imame sorgen. Zugleich, und das ist genauso wichtig, ergibt sich eine bessere Verständlichkeit der Predigten für Muslim*innen, vor allem für muslimische Jugendliche, die die deutsche Sprache viel besser beherrschen und verstehen können als die Sprachen der Herkunftsländer ihrer Eltern. Allerdings ist die Sprache nicht das alleinige Problem, denn es kommt ebenso auf die Inhalte an, die den Menschen in den Moscheegemeinden vermittelt werden. Es stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, inwieweit der Islam, der in den Moscheen vermittelt wird, mit dem Leben der Muslim*innen hier und heute harmoniert.

Diese Frage ist deshalb zentral, weil viele Muslim*innen nicht selbst im Koran nachlesen oder sich mit islamischer Literatur auseinandersetzen, sondern sich auf das religiöse Wissen verlassen, das ihnen vermittelt wird. Und da Imame für viele Muslim*innen als Vorbilder gelten, prägen diese das Islambild vieler Muslim*innen. Hinzu kommt, dass Imame für viele Ansprechpartner nicht nur in rein religiösen, sondern teilweise auch in sozialen Fragen sind. Imame fungieren dabei als Multiplikatoren und soziale Mediatoren zugleich.

Die Ergebnisse der Studie von Pollack lassen erahnen, dass die religiösen Angebote der Moscheen wenig mit der Lebenswirklichkeit junger Muslim*innen korrelieren. Moderne religiöse Bildung sollte allerdings im Dienst des Subjekt-Werdens des Individuums und seiner Selbstbestimmung stehen. Hierbei steht der Mensch mit seinen Erfahrungen, Erwartungen, Wünschen oder Bedürfnissen als Subjekt des Prozesses der religiösen Bildung im Zentrum.

In einer modernen islamischen Bildung geht es also nicht um die autoritäre Vermittlung von Glaubensgrundsätzen oder endgültigen Antworten, sondern darum, Menschen zu befähigen, ihre eigene Religiosität zu entwickeln und auszuüben. Dazu müssen sie die Bedeutung religiöser Inhalte reflektieren können, damit sie ihre Religiosität selbst verantworten können.

Das Subjekt muss sich also selbst einbringen. Wenn es bei religiöser Bildung um ein subjektives Betroffensein von Religion geht, wird eine dialogische Theologie benötigt, welche die Beziehung Gott–Mensch nicht als Gehorsamkeitsbeziehung, sondern eben als dialogische Beziehung entfaltet.

Hier kann den Moscheegemeinden noch ein großer Nachholbedarf attestiert werden. Dazu kommen weitere Herausforderungen, um einen positiven Beitrag zur Herstellung von Harmonie zwischen dem gelebten Islam und der Identifikation mit der freiheitlich-demokratischen Grundordnung zu leisten. Dazu gehören: die Überwindung des religiösen Exklusivismus – und somit des Insistierens auf den alleinigen Wahrheitsanspruch der eigenen Überzeugungen; die Akzeptanz historisch-kritischer Hermeneutik als Methode der Koranauslegung; die Trennung religiöser und politischer Institutionen; die Entfaltung vom Liebesethos als Friedenspotenzial. Sich diesen Herausforderungen zu stellen ist eine Bedingung dafür, dass Moscheegemeinden einen Islam vermitteln können, der junge Menschen vor einer Radikalisierung jeglicher Art schützt.

Weitere Inhalte

Prof. Dr. Mouhanad Khorchide ist Leiter des Zentrums für Islamische Theologie und Professor für Islamische Religionspädagogik an der Universität Münster. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören Islamische Religionspädagogik und deren Didaktik, Moderne Zugänge zur Koranhermeneutik, Systematische Islamische Theologie und Islam in Europa.