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Islam und Recht

Dr. Nadjma Yassari Nadjma Yassari

/ 8 Minuten zu lesen

Immer wieder berufen sich religiöse Fanatiker auf angebliche Gebote, die sie aus dem Koran ableiten. Dabei ist das islamische Recht durch die Notwendigkeit der Interpretation und Ableitung vielseitig ausgestaltet und regional sehr verschieden. Was steht hinter Begriffen wie Fiqh und Scharia?

Scheidungsverfahren vor einem islamischen Gericht in Ahmadabad, Indien, am 25.11.2008. (© AP)

Der Islam

Im Jahre 610 AD beginnen die Offenbarungen, die Mohammad aus der Sippe der Qureish in Mekka im heutigen Saudi Arabien erfährt. "Rezitiere im Namen Deines Herrn, Der erschaffen hat" (Sure 96) sagt Gottes Engel Gabriel - so die Überlieferung - und Mohammad spricht ihm nach. So bedeutet auch das arabische Wort "Qur'an" Rezitation. Im Laufe der nächsten 22 Jahre verkündet der Prophet Mohammad zunächst in Mekka und dann in Medina die Lehre von dem einen unsichtbaren Gott. Der Islam ist keine neue Religion, wie der Koran selber betont, sondern setzt das Judentum und das Christentum fort. Der Islam erhebt allerdings den Anspruch, die letzte und universale Gestalt der Religion zu sein, der die reine Form der Religion wieder herstellen soll.

Mohammads Predigten sind revolutionär und erregen den Unmut der Mekkaner. Im Jahre 622 muss er nach Medina emigrieren. Dort wird Mohammad Richter und Oberhaupt der islamischen Gemeinde, die aus 75 Personen besteht. Das Recht, das er spricht, besteht nicht aus feststehenden Regeln, sondern leitet sich aus den Offenbarungen und der Praxis der islamischen Gemeinde ab. Dies stellt die einzige Zeit in der islamischen Geschichte dar, in der man von der Einheit von Politik, Religion und Recht sprechen kann. Mohammad ist als einziger in der Lage alle aufkommenden Fragen zum Koran aufzufangen und ungeklärt gebliebene Probleme zu interpretieren.

Der Islam breitete sich schnell aus. Hundert Jahre nach dem Tod Mohammads reicht das islamische Reich im Nordwesten bis nach Spanien, im Osten bis Malaysia und Indonesien. Heute bekennen sich rund 1,5 Milliarden Menschen, also etwa ein Fünftel der Weltbevölkerung, zum Islam. Diese Menschen und die Traditionen, denen sie verhaftet sind, haben ihr eigenes Bild des islamischen Glaubens geprägt und regionale und soziale Faktoren trugen zu einer außergewöhnlichen Vielfalt in der Ausgestaltung der islamischen Religion bei. Einer dieser Faktoren ist das Recht.

Das Recht

Das Verhältnis zwischen der Religion und der Rechtsordnung eines Landes hängt insbesondere davon ab, wie die Staatsform ist. So ist etwa der Iran seit 1979 als theokratischer Gottesstaat konzipiert, während die Republik Türkei seit ihrer Entstehung laizistisch ist. Nachdem beide Staaten eine mehrheitlich muslimische Bevölkerung haben, stellt sich die Frage, welchen Anspruch der Islam auf die Rechtsordnung und ihre Gestaltung erhebt. Der Koran enthält keine präzisen Angaben über die Verfassung oder sonstige politische Organisation der islamischen Gemeinde. Nach dem Koran ist Gott das Oberhaupt der Gemeinde, alle Muslime sind gleich vor Gott und die Frömmsten unter ihnen genießen das höchste Ansehen. Der Koran gebietet den Gläubigen Gehorsam gegenüber Gott, dem Propheten und jenen, die an der Macht sind (Sure 4 Vers 59). Auch hinterlässt Mohammad bei seinem Tode im Jahre 632 keinen vollendeten Staat, sondern vielmehr ein Gemeinwesen mit einem hohen Grad an Zentralisation und einer Vorstellung vom Primat des Gesetzes oder einer höheren Autorität bei der Beilegung von Konflikten. Die Entwicklung politischer Institutionen, wie das Kalifat oder das Imamat bei den Schiiten, erfolgte durch die Muslime selbst.

Wie alle monotheistischen Religionen, beinhaltet auch der Islam den Glauben an einen Schöpfer, der durch das Medium von Offenbarern mit dem Menschen, seinem Geschöpf, kommuniziert, um ihm den richtigen, zum Heil führenden Weg zu weisen. Die Religion, hier der Islam, nimmt also für sich in Anspruch, neben den Pflichten der Individuen gegenüber Gott auch das Verhältnis der Menschen zueinander zu regeln. Diese Verhaltensvorschriften - moralische und ethische sowie alle Gebote und Verbote, die weltliche Belange berühren und die Glaubenslehre - haben alle ein gemeinsames Ziel: die Verwirklichung des Willen Gottes auf Erden. Das hat zur Folge, dass idealerweise die Religion den Rahmen festlegt, in dem sich das geistige, gesellschaftliche und soziale Leben der Gläubigen abspielt. Alle Bereiche des sozialen Seins sollen sich an den ethischen Grundlagen der Religion orientieren, um dem Ideal einer moralisch-religiösen, ethischen Gesellschaft so nah wie möglich zu kommen. Würden alle moralischen Vorschriften der Religion in jedem Aspekt des menschlichen Verhaltens eingehalten, wäre das Ideal erreicht, und es wäre nicht notwendig, ein Rechtssystem zu entwickeln.

Die heute identifizierbaren sozialen Kategorien von Recht, Moral und Ethik bilden das Ganze der Religion. Werden sie einzeln und isoliert voneinander betrachtet, so erscheinen sie in einem verfälschten Licht. Das bedeutet aber nicht, dass es kein Eigenleben des Rechts im Islam gibt. Es bedeutet nur, dass der Rechtsbegriff aus der Religion besondere Charakteristiken und Funktionen hat, die ein weltliches, säkulares System nicht hat. Während in säkularen Systemen Veränderungen in der Gesellschaft, Veränderungen im Recht verlangen, ist es Aufgabe des religiösen Rechts die Gesellschaft zu verändern, sie zu erziehen, und ihre Verhaltensweisen derart zu lenken, dass sie diesem unterstellten Willen Gottes entsprechen. Das Recht und die Rechtsordnung sind daher nicht unbedingt Instrumente im Dienste der Gesellschaft, sondern im Dienste Gottes.

Will man den rein religiösen, theologischen Teil des Glaubens von einem rechtlichen Teil unterscheiden, so kann man funktional vorgehen. Die Rolle der Theologie wäre dann, das, woran der Mensch glauben und die Ziele, die er verfolgen soll (etwa Gerechtigkeit, Keuschheit, Bescheidenheit, die fünf Säulen der Religion), zu definieren; die Rolle des Rechts, dem Menschen den Weg zu zeigen, wie diese Ziele verwirklicht werden können. In diesem Sinne ist auch das Wort Scharia (arab. aš-šarīca) zu verstehen, welches in der europäischen Rechtsliteratur oft mit "islamischem Recht" übersetzt wird, im wörtlichen Sinn jedoch "Weg zur Tränke" bedeutet und mit "religiösem Recht" wiederzugeben ist. Im übertragenen Sinne bezeichnet Scharia den Weg, den der Mensch gehen muß, damit er wieder zur Quelle (Gott) kommt.

Unter der Scharia darf man sich kein Gesetzeswerk, vergleichbar dem BGB, vorstellen. Scharia ist vielmehr ein Oberbegriff für die Gesamtheit der dem Menschen auferlegten Handlungsweisen. Ihre primären Quellen sind der Koran, und die Überlieferungen über die Taten und Worte Mohammads (arab. sunna). Daneben gibt es die sekundären Quellen: der Konsens (arab.arab. al-iğmā´) der Rechtsgelehrten und die Rechtsfindung durch die Juristen mittels Analogie (arab. al-qiyās) und Logik (arab. al-´aql).

Die Endredaktion des heute vorliegenden ist unter dem dritten Kalifen Othman (644-656 AD) erfolgt. Der Koran ist weder wissenschaftliches Werk noch Gesetzestext. Von den rund 6.200 Versen des Korans werden etwa 500 als Gesetzesverse bezeichnet, wobei sich der größte Teil mit dem rituellen Recht, wie dem Gebet, den Waschungen oder dem Fasten auseinander setzt. Aus etwa 80 bis 100 Versen können rechtliche Regeln entnommen werden. Diese Verse werden dem Erb-, Straf-, Prozess-, Ehe- und das Kaufrecht zugeordnet. Es handelt sich dabei um solche Bereiche, bei denen ein Regelungsbedarf bestand. Das gilt insbesondere für die Einführung eines Vermögens- und Erbrechts für die Frau, den Schutz der Waisen, die Anordnung von Treu und Glauben im Geschäftsverkehr und das Glücksspiel- und Zinsverbot. Da die Verse vor allem ethische Grundsätze setzen sollen, sehen sie meist von der Anordnung weltlicher Sanktionen ab. Aussagen in der Form "X ist, bei sonstiger Sanktion, verboten oder geboten" sind im Koran kaum zu finden. Der Zuwiderhandelnde und der Zurechthandelnde erfahren ihre Strafe oder ihre Belohnung meist erst im Jenseits.

Zur Ergänzung und Interpretation des Korans wurden die Überlieferungen des Propheten herangezogen. Das sind Sammlungen von Berichten über das Verhalten des Propheten und über das, was er verkündet oder geduldet hat; es handelt sich dabei um eine Kompilation von Rechtsfällen und vorbildlichen Verhaltensweisen.

Identifiziert man die Scharia im Wesentlichen mit diesen primären Quellen, so erhält man zunächst den Eindruck großer Geschlossenheit. Aber schon hier ist mehr Spielraum als gedacht: Koran und die Überlieferungen sind vielschichtig, nicht leicht zu verstehen und erlauben eine Vielzahl von Auslegungen. Dementsprechend unterschiedlich sind sie in Vergangenheit und Gegenwart gedeutet und angewandt worden. Die Anfänge der islamischen Rechtsgeschichte stehen ganz im Zeichen der Ableitung und der Entdeckung des göttlichen Willens in und aus den Quellen.

Die Aufgabe, die Verhaltensprinzipien zu entdecken bzw. sie aus den primären Quellen abzuleiten, oblag besonders qualifizierten Spezialisten, die al-muğtahid genannt werden und die Arbeit, die sie verrichteten, al-iğtihād. Iğtihād bedeutet im Arabischen "das Bemühen"; im juristischen Sinne geht es darum, eine selbständige Entscheidung zu treffen, um eine Rechtsfrage durch Interpretation der Quellen zu lösen.

Die von den Rechtsgelehrten erzielten Erkenntnisse konnten jedoch nicht ohne Weiteres allgemeine Gültigkeit beanspruchen, denn sie waren zunächst lediglich Ausdruck einer "subjektiven Vermutung" des einzelnen Gelehrten. Wenn in den Quellen die Antwort auf eine Frage eindeutig war, dann musste man sich nicht um ihr Verständnis bemühen, d.h. iğtihād anwenden, sondern man konnte die Vorschrift unmittelbar anwenden. Im Gegensatz dazu müssten jene Aussagen, die nicht direkt aus den Texten hervorgingen und die der Jurist unter Aufwendung seiner eigenen Fähigkeiten herausgearbeitet hatte, die also lediglich seine persönliche Meinung darstellten, auch als solche gekennzeichnet werden. Kam eine Mehrheit der Gelehrten zu den gleichen Ergebnissen, oder fanden gewonnene Einsichten die eindeutige Anerkennung der Mehrheit, steigerte sich die subjektive Vermutung zu sicherem Wissen. Die durch Konsens getragenen Rechtssätze wurden zur Rechtsquelle erhoben. Durch die Lehre vom Konsens fanden auch die Ansichten der jeweils herrschenden akademischen Kreise ihren Ausdruck. Er entwickelte sich zu einem wichtigen Instrument der Anpassung an soziale Veränderungen; der Konsens bildete in der Tat die Grundlage vieler Rechtsfiguren, die weder aus dem Koran noch aus den Überlieferungen hervorgehen. Der Konsens war in dem sich rasch ausbreitenden Islam durchaus ortsgebunden, beschränkt auf den jeweiligen geographischen Einflussbereich der sich langsam konkretisierenden Rechtsschulen, die es heute noch gibt.

Das als vierte Rechtsquelle genannte selbständige Denken der Juristen ist im Grunde nichts anderes als die Anwendung von iğtihād. Nach einem westlichen Verständnis ist es als Methode zu qualifizieren, um Vorschriften abzuleiten, die die Qualität einer Rechtsquelle erlangen. Diese Methode wird bei den Sunniten al-qiyās (Analogie), bei den Schiiten ´aql (Vernunft oder Logik) genannt. In der Sprache des islamischen Rechts bedeutet al-qiyās "die Übertragung einer Vorschrift von einem vorgegebenen, ausdrücklich formulierten Fall auf einen neuen, nicht im Text genannten." So wurde zum Beispiel das Verbot des Genusses von Rebwein auf andere berauschende Getränke, etwa Dattelwein, ausgedehnt, weil sie beide den Verstand trüben und zur Erfüllung der Gebote Gottes unfähig macht.

Das Ergebnis dieser Deduktionsarbeit wird Fiqh genannt. Fiqh bedeutet wörtlich das Verstehen oder die Einsicht. Die islamische Tradition unterscheidet akribisch zwischen dem abgeleiteten, entdeckten Fiqh-Recht und der Scharia als solche. Die Scharia ist göttlichen Ursprungs und versteckt sich in der Offenbarung, ohne eine juristisch präzise Artikulation erfahren zu haben. Der islamische Jurist bildet das notwendige Bindeglied zwischen Gott und den Menschen, in dem er das Fiqh-Recht formuliert. Dieses Fiqh-Recht ist daher das Ergebnis menschlicher, daher fehlbarer Analyse. Eine andere Art, dieses Verhältnis zu umschreiben, ist, Scharia-Recht als Gottesrecht und Fiqh-Recht als Juristenrecht zu bezeichnen.

Es bleibt somit festzuhalten: Das islamische Recht ist durch die Notwendigkeit der Interpretation und Ableitung vielseitig ausgestaltet und regional sehr verschieden. Es ist daher besser von den islamischen Rechten zu sprechen, je nachdem welche konkrete Rechtsschule oder welche Epoche der Geschichte angesprochen ist. Das islamische Recht ist das Recht der Muslime einer bestimmten Zeit und einer bestimmten Gesellschaftsordnung. Es spiegelt deren Lebensarten und Bedürfnisse wieder. Es ist ein von Menschen mitgestaltetes Recht, welches durchaus fehlbar ist und einem menschlichen Eingriff nicht entzogen werden darf.

Geb. 1971 in Teheran/Iran, studierte Rechtswissenschaften in Wien und Innsbruck sowie International Business Law an der School of Oriental and African Studies an der Universität in London. Sie promovierte zum Thema: "The Concept of Freedom of Contract in Islamic and Western Legal Cultures". Seit Februar 2000 ist sie Referentin für das Recht islamischer Länder am Max-Planck-Institut.