Selbstmordattentäter
Islamische Positionen zu Selbstmordattentaten
Selbstmordattentäter oder Märtyrer? Dies ist eine der brisantesten Fragen im gegenwärtigen islamischen Diskurs über dieses Phänomen. Schon aus religiöser Sicht kommt dieser Unterscheidung große Bedeutung zu, denn grundsätzlich ist der Selbstmord im Islam verboten. Dies wird aus zwei Suren des Korans hergeleitet. So heißt es in Sure 2, 195: "... und stürzt euch nicht mit eigner Hand ins Verderben..." und in Sure 4, 29: "... und begeht nicht Selbstmord...". Ein Selbstmörder (arab. intihari) wird nach islamischer Tradition mit ewiger Verdammnis in der Hölle bestraft.Dagegen ist der Märtyrer (arab. schahid oder mustaschhid) eine verehrte und respektierte Figur. Der bedeutendste Märtyrer ist derjenige, der für Gott (arab. fi sabil Allah) auf dem Schlachtfeld stirbt. Ihm wird direkter Zugang zum Paradies noch vor dem Tag des Jüngsten Gerichts gewährt. Ob ihm dort 72 Jungfrauen zur Seite stehen und daher ein sexuelles Motiv eine Rolle spielt, ist in der islamischen Tradition umstritten. Daneben existieren noch andere Märtyrer, z.B. die Opfer von Naturkatastrophen. Während auch diesen das Paradies versprochen ist, müssen sie noch bis zum Tag des Jüngsten Gerichts warten. Selbstmordattentäter werden oftmals als Märtyrer verehrt. Sie drehen Abschiedsvideos, tauchen auf Plakaten und einschlägigen Internetseiten auf. Um den Selbstmordattentäter herum hat sich eine Medienmaschine gruppiert, die das Ereignis mit allen modernen Mitteln der Öffentlichkeitsarbeit ausschlachtet. Der Märtyrer soll nicht vergessen werden, seine Tat dient als Vorbild für die Lebenden.
Weder unter muslimischen Rechtsgelehrten noch in der islamischen Öffentlichkeit gibt es eine einhellige Meinung zu Selbstmordattentaten. Betrachtet man das arabische Meinungsbild – in Zeitungen, Internet und Fernsehen – so kann eher von einer generellen Zustimmung zu Selbstmordattentaten gesprochen werden, die jedoch stark kontextabhängig ist.
In der theologischen Diskussion über Selbstmordattentate kursieren verschiedene Meinungen. Einige muslimische Rechtsgelehrte haben aus oben genannten Koranversen das absolute Verbot des Selbstmords abgeleitet. Ihrer Ansicht nach ist jeder, der mit der festen Absicht in den Kampf zieht zu sterben, ein Sünder.
Andere Rechtsgelehrte meinen, dass die Absicht differenziert bewertet werden muss. Falls die Absicht die Selbsttötung ist, so handelt es sich um Selbstmord. Ist die primäre Absicht jedoch die Tötung des Feindes, so ist es eine erlaubte Tat. Diese Erlaubnis wird aus der Pflicht zum Jihad abgeleitet. "Jihad", wörtlich übersetzt "Bemühung" oder "Streben", taucht im Islam als doppeldeutiges Konzept auf. Der "große Jihad" bezeichnet das Streben eines jeden Muslims nach einem guten und gottgefälligen Leben. Der "kleine Jihad" ist hingegen als Verteidigungskrieg gegen nicht-muslimische Eindringlinge zu verstehen. In der klassischen Rechtstheorie wurde daraus ein komplexes Regelwerk von erlaubten und verbotenen Kriegshandlungen und –zielen entworfen. In der Tradition islamistischer Denker hat sich der Jihad als Pflicht zum Kampf gegen Kolonialismus und Imperialismus und schließlich das gewaltsame Vorgehen gegen alles "Unislamische" durchgesetzt.
Neben den Interpretationen von Rechtsgelehrten spielen auch die öffentliche Meinung und staatliche Positionen eine wichtige Rolle. Während die Anschläge vom 11. September 2001 in der islamischen öffentlichen Meinung und seitens der meisten staatlichen Führungen, zumindest bis zum amerikanischen Einmarsch im Irak, weitgehend auf Ablehnung gestoßen sind, werden Anschläge – ob konventionell oder als Selbstmord – im israelisch-palästinensischen Konflikt und im Irak zumeist gutgeheißen. Aus islamischer Sicht handelt es sich bei diesen Konflikten um Abwehrkämpfe - Jihad im Sinne einer Verteidigung von muslimischen Gebieten - in denen das Selbstmordattentat angesichts der militärischen Überlegenheit des Gegners erlaubt ist.