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"Ich bin ein Taliban..." | Islamismus | bpb.de

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"Ich bin ein Taliban..." Islamismus und Jugendkultur

Jochen Müller

/ 8 Minuten zu lesen

Pop-Islam oder Jihad-Islamismus: Welche Rolle spielen Islam und Islamismus in Jugendkultur und Schule? Und wie können Lehrerinnen und Lehrer islamistische Einstellungen erkennen? Jochen Müller mit einem Überblick.

Der Rapper Bushido. (© AP)

Schülerinnen, die eines Morgens mit Kopftuch zum Unterricht erscheinen. Junge Muslime, die auf Koran, Scharia oder muslimische Gelehrte als ihre wichtigsten Autoritäten verweisen. Sympathiebekundungen für Osama bin Laden und Al-Qaida, Leugnungen des Holocaust oder die Hervorhebung des Islam als beste aller Religionen, die bald die ganze Welt beherrschen wird – all das sind Verhaltensweisen und Positionen von Jugendlichen muslimischer Herkunft, die in Schule oder Jugendclubs zu beobachten sind. Und nicht zuletzt unter dem Eindruck der aktuellen Debatten um Islam, Islamismus und Integration werfen sie bei Pädagogen eine Reihe von Fragen auf. Darunter steht eine häufig im Vordergrund: Handelt es sich hier um Ausdrucksformen islamistischer Ideologie? Eine Antwort auf diese Frage muss erst einmal unbefriedigend ausfallen. Sie lautet in jedem der genannten und in einer Vielzahl anderer Fälle: Kann sein, muss aber nicht.

Ohnehin müssten Pädagogen, um die Frage nach den charakteristischen Merkmalen des Islamismus befriedigend beantworten zu können, in der Lage sein, einen eher säkularen Islam von Traditionen und Volksislam sowie konservativen Strömungen, Islamismus und Jihadismus zu unterscheiden. Dazu fehlt es ihnen in der Regel an Wissen - Wissen über den Islam und seine Geschichte zum Beispiel, Wissen über die unterschiedlichen Ausdrucksformen islamistischer Ideologien, Wissen über die Bedeutung des Nahostkonflikts für viele Muslime. Dazu gehört auch Wissen darüber, dass bestimmte demokratiefeindliche, antipluralistische Überzeugungen unter Migranten muslimischer, türkischer und arabischer Herkunft vorkommen mögen, nichts mit Islam oder Islamismus zu tun haben müssen. Zu denken wäre dabei etwa an Antisemitismus, Homophobie, traditionalistische Ehrbegriffe und Wertvorstellungen etwa zur Rolle von Frauen sowie gewaltlegitimierende Männlichkeitsnormen. Alles dies sind Einstellungen, die in der Region des Nahen und Mittleren Ostens sowie unter Migranten aus diesen Regionen durchaus verbreitet sind – allerdings weit über die Anhänger islamistischer Ideologien hinaus.

Kurz gesagt: Das zum Erkennen und Einordnen solcher Einstellungen erforderliche Wissen lässt sich so schnell nicht generieren. Vor diesem Hintergrund ist es umso wichtiger, zunächst einige allgemeine Charakteristika des Islamismus zu bedenken, um Schlüsse für den pädagogischen Umgang mit Jugendlichen zu ziehen, die aus muslimisch geprägten Milieus kommen und möglicherweise islamistische Überzeugungen vertreten.

Zentrale Bedeutung für das Verständnis des Islamismus und die pädagogische Praxis hat der häufig vernachlässigte Umstand, dass es sich beim Islamismus zuallererst um eine Gemeinschaftsideologie handelt: Über den Bezug auf das Kollektiv der umma - verstanden als Gemeinschaft der Muslime - verspricht sie dem Einzelnen Orientierung, Identität und ein Gefühl von Sicherheit und Stärke. Zugehörigkeit, Identität und Stärke sind aber gerade für Jugendliche zentrale Themen. Das gilt insbesondere für Jugendliche mit Migrationshintergrund : Zum einen, weil sie in Schule und Gesellschaft aufgrund ihrer Herkunft und Religion ohnehin häufig marginalisiert oder diskriminiert werden. Zum anderen aber auch, weil vielen Jugendlichen der zweiten oder dritten Generation traditionelle Glaubenspraktiken und Wertvorstellungen ihrer Eltern in der deutschen Umgebung unpassend und inhaltsleer erscheinen. Viele Jugendliche aus islamisch geprägten Milieus sehen sich zwischen Baum und Borke und suchen nach Lebensentwürfen, mit denen sich "alte" und "neue" Identitäten verbinden lassen. Solche Jugendlichen sind es, denen islamistisches Weltbild und islamistische Lebenspraxis attraktiv erscheinen können.

Gangsta-Rap und Pop-Islamisten

Ihre Suchbewegung kann indes sehr verschiedene und widersprüchlich erscheinende Formen annehmen. Das sollen zwei Beispiele aus dem Spektrum islamischer Jugendkultur verdeutlichen, die islamistische Züge aufweisen und derzeit im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses stehen. Auf der einen Seite der stark migrantisch geprägte Gangsta-Rap: Hier zählt die provokative Bewunderung für Bin Laden und die Anschläge vom 11.9. ebenso so zum Repertoire wie eine verbal-militante Abwendung von Deutschland und den Deutschen oder ein extremer Bezug auf Tradition und Ehre. All das klingt mitunter schwer nach radikalem Islamismus - etwa wenn Bushido in seinem Song "11. September" rappt:

"Der 11. September, der Tag der Entscheidung, ich bin dieser Junge über den man las in der Zeitung, wenn ich will seid ihr alle tot, ich bin ein Taliban, ihr Mißgeburten habt nur Kugeln aus Marzipan... ich lass dich bluten wie die Typen aus den Twin Towers, meine Freunde tragen Lederjacken und sind stinksauer... ich bin King Bushido, zweiter Name Mohammed, ich hab ein Flächenbrand über deine Stadt gelegt...".

Tatsächlich haben wir es hier aber kaum mit einer militant-islamistischen Weltanschauung, sondern eher mit den Fantasien pubertierender Jungs zu tun. Solche Fantasien kommen an im Kiez und unter Jugendlichen mit Migrationshintergrund, wo sie vor allem für junge Männer attraktiv sind, die sich auf ihrer Suche nach Identität und Perspektive in der Gesellschaft als Verlierer erleben. Kulturell und sozial marginalisiert wird ihnen unter Bezug auf den 11.9. oder mit der Ikonisierung Bin Ladens die Option von Stärke, Macht und Autonomie des Outlaws im Ghetto suggeriert. Wenn schon ganz unten, dann wenigstens oben auf – oder in den Worten Bushidos: "wir stürzen ab und ich ficke die Stewardess".

Ganz anders, betont angepasst und explizit gewaltlos, erscheint dagegen die Strömung des so genannten Pop-Islam. Ihr gehören muslimische Jugendliche beiderlei Geschlechts an, die sich, aus eher besser gestellten Elternhäusern stammend, auf der Grundlage des Islams erfolgreich in die Gesellschaft integrieren wollen. Sie wollen gute Bürger und gute Gläubige sein, dafür engagieren sie sich in sozialen Projekten. Sie sind Teil einer weltweiten Reislamisierungsströmung, die Internetseiten, TV-Sender, Modelabels oder Musikstars umfasst und wollen dort, wo sie wohnen, als Muslim leben. Dazu gehört auch, dass sie das öffentliche Bild vom Islam verbessern wollen und sich entschieden gegen islamistischen Terror wenden – etwa wenn Sami Yussuf, ein Idol der Bewegung, singt:

"Jeden Tag seh ich die Headlines, Verbrechen im Namen des Herrn. Menschen verüben Grausamkeiten in seinem Namen, sie morden und entführen, ohne sich zu schämen. Aber hat er uns Hass, Gewalt und Blutvergießen gelehrt? Nein... oh nein!".

Trotz dieser klaren Abgrenzung vom Jihad-Islamismus stehen diese Jugendlichen den gängigen Islamismus-Kriterien in vielen Punkten näher als die Fans von Bushidos Sprüchen: Sie sind ausgesprochen fromm und folgen in punkto Bekleidung, Heirat, Sexualität und Familie in der Regel sehr konservativen Maßstäben. Sie betreiben Dawa, d.h. sie wollen "den richtigen" Islam verbreiten – unter Muslimen wie Nichtmuslimen. Viele von ihnen orientieren sich stark an international aktiven islamistischen Predigern wie Yussuf al-Qaradawi und berufen sich auf die islamischen Quellen Koran und Sunna als Vorgaben nicht nur des privaten Lebens, sondern auch des politischen Handelns und der anzustrebenden Gesellschaftsordnung.

Letzteres würde sie nach den üblichen Kategorien (etwa der Ämter für Verfassungsschutz) zu Islamisten und Verfassungsfeinden machen. Tatsächlich müssen sich in ihren Augen aber Scharia und Grundgesetz gar nicht widersprechen – es käme, so sagen viele von ihnen, nur auf die Auslegung an (ijtihad).

Zwar üben dem Pop-Islam zuzurechnende Bewegungen und Gruppen wie die Lifemakers oder die Muslimische Jugend moralischen Druck auf Muslime aus, die anders leben, überlassen diesen aber die individuelle Entscheidung, ob sie etwa ein Kopftuch tragen oder Alkohol trinken wollen. Damit unterscheiden sie sich ausdrücklich von radikal-islamistischen Gruppen wie der verbotenen Hizb ut-Tahrir. Diese erklären Muslime, die nicht ihren Glaubensvorstellungen folgen wollen, zu Ungläubigen (takfir) und lassen auch in puncto Staat- und Gesellschaftsordnung nur ihr eigenes Islamverständnis gelten.

Pädagogische Konzepte

Mit Gangsta-Rap und Pop-Islam sind nur zwei jugendkulturelle Ausdrucksformen genannt, in denen sich der Bezug auf den Islam in Deutschland heute äußert. Allerdings wird schon anhand dieser Beispiele deutlich, wie schwer es meist ist, einzelne Aussagen, Einstellungen und Positionen herauszugreifen und sie im weiten Feld zwischen säkularem Islam und Jihadismus einzuordnen. Das gilt schon für Experten wie Politik- und Islamwissenschaftler. Und es gilt erst recht, wenn es um das Verhalten, die Überzeugungen und Einstellungen von Kindern und Jugendlichen geht.

Mehr noch, Etikettierungen und Zuordnungen würden eher etwas verdecken, was für die pädagogische Praxis von zentraler Bedeutung ist - das nämlich die einzelnen Formen, in denen sich Muslime in Deutschland zunehmend auf den Islam beziehen, etwas gemeinsam haben: In ihrer Gesamtheit bringen sie eine legitime und nachvollziehbare Suchbewegung nach individueller und kollektiver Identität, nach Selbstbewusstsein und Orientierung zum Ausdruck. Dass im Zuge dieser Bewegung auch essentialistische, traditionalistische und demokratiegefährdende Islaminterpretationen zutage treten (bis hin zu den Überzeugungen von "home grown terrorists"), macht den pädagogischen Umgang mit muslimisch geprägten Jugendlichen zu einem Balanceakt – ein Balanceakt zwischen Grenzsetzung und Empathie:

Auf der einen Seite muss anti-demokratischen und anti-pluralistischen Positionen und Einstellungen deutlich widersprochen, den Jugendlichen – notfalls mit Hilfe von Sanktionen – müssen klare Grenzen gesetzt und auf einer allgemeinen Geltung von Menschen- und Frauenrechten sowie von Meinungs- und Religionsfreiheit bestanden werden. Dabei kann es hilfreich sein, auf ein persönliches Gespräch mit dem örtlichen Imam oder anderen Vertretern muslimischer und Migranten-Organisationen vor Ort und deren Meinung verweisen zu können. Pädagogen müssen den Koran also nicht besser kennen als muslimische Schüler, die sich vielleicht auf ihn berufen. Aber sie sollten eine Vorstellung von der aktuellen wie historischen Vielfalt islamischer Glaubens- und Lebensformen besitzen. Das schließt zum Beispiel Wissen über das Denken und Handeln moderater, liberaler und reformorientierter muslimischer Philosophen, Theologen und Politiker ein. Vorbildfunktion können auch Boxer oder Fußballclubs wie Oktay Urkal und Türkiyemspor erfüllen, die sich in Kampagnen gegen Homophobie einsetzen. Pädagogen können hier Impulse auch für eine innermuslimische Debatte geben, die monolithische Ideologien aus ihrer Nische in die offene Auseinandersetzung zwingt – im Klassenzimmer und darüber hinaus.

Auf der anderen Seite bringen solche Initiativen und die Aneignung von interkultureller Kompetenz durch Lehrkräfte und Schule bereits zum Ausdruck, worum es neben der Grenzsetzung auch geht: einen partnerschaftlichen Ansatz, der den Jugendlichen und ihren religiös begründeten Überzeugungen kritisch, aber mit grundsätzlichem Respekt begegnet. Wenn Pädagogen Interesse am Islam oder an den Herkunftsregionen der Jugendlichen (bzw. ihrer Eltern und Großeltern) und deren Geschichte zeigen, signalisiert dies eine Akzeptanz der Religion und Herkunft der Jugendlichen in der "deutschen" Umgebung. Dies ist gerade vor dem Hintergrund sozialer und kultureller Marginalisierung vieler Jugendlicher mit Migrationshintergrund wichtig – gewinnt doch der Islamismus einen Großteil seiner Attraktivität daraus, dass er neben einer klaren Weltanschauung das Gefühl von Zugehörigkeit und Stärke verspricht. Um zu verhindern, dass junge Muslime sich abwenden und in abgeschottete Gegenwelten zurückziehen, muss Pädagogik in Konkurrenz zu diesem Angebot treten. Pädagogik muss auf Akzeptanz, Anerkennung und Teilhabe setzen und demonstrieren, dass muslimische Jugendliche in ihren unterschiedlichen Glaubens- und Lebensformen in Deutschland selbstverständlich "dazugehören". Denn das ist es doch, was die allermeisten von ihnen am allermeisten wollen.

Dr. Jochen Müller ist Islamwissenschaftler, arbeitet als freier Publizist und ist Mitarbeiter und Mitbegründer des Berliner Vereins "ufuq.de - Medienforschung & politische Bildung in der Einwanderungsgesellschaft" (www.ufuq.de).