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Totale Transparenz käme einem Denkverbot gleich | Globaler Handel | bpb.de

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Totale Transparenz käme einem Denkverbot gleich

Friedrich Heinemann

/ 4 Minuten zu lesen

Für den Ökonomen Friedrich Heinemann spricht vieles dagegen, die TTIP-Verhandlungen in jeder Phase unter der Lupe der medialen Öffentlichkeit zu führen. Auch in Deutschland würden wichtige Gesetzesvorhaben zunächst ohne Publikum erörtert.

(© ZEW)

Der Vorwurf, die TTIP-Verhandlungen seien ein undemokratisches Geheimprojekt, wiegt schwer. Angesichts ohnehin großer Vorbehalte vieler Menschen gegenüber dem Abkommen verschärft dieser Vorwurf noch die Skepsis. Die Argumentation der Kritiker klingt plausibel: Wenn die Verhandlungsführer tatsächlich ehrliche Makler der Interessen von Bürgerinnen und Bürgern wären, dann hätten sie eigentlich nichts zu verbergen. Jegliche Geheimhaltung ist in dieser Sichtweise nur ein weiterer Beleg dafür, dass es bei dem gesamten Projekt eher um Sonderinteressen von Lobbys als um die Interessen der Menschen geht. Was ist also dran am Vorwurf der mangelnden Transparenz? Was wäre für die TTIP-Verhandlungen eigentlich eine angemessene Transparenz? Sollten alle Verhandlungen der US- und EU-Delegationen am besten gleich vor laufenden Kameras erfolgen?

TTIP-Fundamentalkritiker machen es sich mit ihrem Intransparenz-Vorwurf einfach. Sie bewerten jegliches Element der Vertraulichkeit als Beweis ihrer These der unzulässigen Geheimhaltung. Bezeichnend für diese „Beweisführung“ war eine Episode im Mai 2015. Greenpeace veröffentlichte zu diesem Zeitpunkt nicht für die Öffentlichkeit bestimmte TTIP-Dokumente. Allein die Überschrift „TTIP-Leak“ war ausreichend, um einen angeblichen Skandal und Anti-TTIP-Reflexe auszulösen. Kaum ein Journalist interessierte sich anschließend für die Substanz der veröffentlichten Dokumente. Denn tatsächlich war der Inhalt alles andere als substanziell neu oder skandalös, bestätigte er doch lediglich seit langem bekannte unterschiedliche Verhandlungspositionen der europäischen und amerikanischen Seite.

Betrachtet man einmal nüchtern die Frage nach der angemessenen Transparenz, spricht vieles dagegen, die TTIP-Verhandlungen in jeder Phase unter der Lupe der medialen Öffentlichkeit zu führen. Es ist völlig normal für die Verhandlungskultur einer Demokratie, dass es Ebenen vertraulicher Verhandlungen gibt und geben muss, die mit Foren öffentlicher Diskussionen zusammenspielen. Typischerweise laufen frühe Phasen der Entscheidungsfindung (zum Beispiel erste Entwürfe von neuen Gesetzen) vertraulich und gehen erst in einer späteren Phase in eine öffentliche parlamentarische Behandlung über. Auch das politische System der Bundesrepublik Deutschland ist durch dieses Zusammenspiel von Vertraulichkeit und Öffentlichkeit gekennzeichnet. Auch in Deutschland ist es normal und akzeptiert, dass beispielsweise Koalitionsausschüsse oder regierungsinterne Abstimmungen von Gesetzentwürfen zunächst hinter verschlossenen Türen und ohne Pressemitteilungen und journalistische Zeugen stattfinden.

Auch bei anderen wichtigen Themen laufen Verhandlungen weitgehend im Verborgenen ab

Sogar sehr weitreichende Reformentscheidungen werden dabei in Deutschland mit sehr geringer Transparenz vorverhandelt, bevor sie das Licht der öffentlichen parlamentarischen Debatte erreichen. Ein Beispiel ist etwa die Verhandlung zur Neuordnung des deutschen Finanzausgleichs, die erhebliche Auswirkungen auf die Finanzkraft der Länder haben werden. Selbst bei einem für die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland derart wichtigen Thema verliefen die Verhandlungen über lange Zeit für die Öffentlichkeit weitgehend verborgen, bevor Bund und Länder im Oktober 2016 eine Grundsatzeinigung präsentierten, die nun im Rahmen des Gesetzgebungsprozesses konkretisiert werden muss. Diese Vertraulichkeit wird akzeptiert, weil parlamentarische Debatte und Öffentlichkeit nur aufgeschoben sind, bis die Pläne sich in Gesetzentwürfen konkretisieren und die Parlamente erreichen. Was also für die TTIP-Verhandlungen scharf kritisiert wird, ist im nationalen Politiksystem eine völlige Selbstverständlichkeit.

Es lohnt auch, sich die Funktion der vertraulichen Phasen in Entscheidungsfindungs- und Verhandlungsprozessen einmal klar zu machen. Wenn die Beteiligten wüssten, dass alle geäußerten Gedanken und Gesprächsinhalte direkt öffentlich würden, käme das einem Denk- und Diskussionsverbot gleich. Es ist wichtig, in geschütztem Raum unterschiedliche Sichtweisen und Optionen ohne Rücksicht auf kurzfristige mediale Reaktionen oder Lobbyinteressen zu reflektieren, auch wenn von diesen Optionen anschließend 90 oder sogar 99 Prozent verworfen werden.

Betrachtet man mit dieser ausgewogeneren Sichtweise zur Rolle von Vertraulichkeit in komplexen Projekten einmal die Balance zwischen Öffentlichkeit und Transparenz in den TTIP-Verhandlungen, ergibt sich kein ungünstiger Befund. Bei TTIP ist das Pendel inzwischen sogar in einem Ausmaß in Richtung Transparenz geschwungen, wie man es zuvor in internationalen Verhandlungen noch nicht erlebt hat.

Interessierte können sich mit wenigen Mausklicks in zentrale TTIP-Materialien einarbeiten

Unter anderem auf den Webseiten von Europäischer Kommission und Bundeswirtschaftsministerium können sich Interessierte mit wenigen Mausklicks in einer weit reichenden Detailtiefe in zentrale TTIP-Materialien einarbeiten. Es werden beispielsweise angeboten: das TTIP-Verhandlungsmandat, das die Mitgliedstaaten der Europäischen Kommission erteilt haben, zahlreiche informative Faktenblätter, Textvorschläge und Positionspapiere der EU und umfangreiche Informationen zeitnah zu den aktuellen TTIP-Verhandlungsrunden. Bundestagsabgeordnete haben inzwischen auch in Berlin Zugang zu einem TTIP-Leseraum, in dem sie vollen Zugang zum aktuellen Verhandlungsstand haben.

Natürlich sind all diese Texte komplex und für Nichtexperten schwer zu verstehen. Aber hier helfen gut lesbare Zusammenfassungen in Form von prägnanten Frage-Antwort-Texten weiter. Es ist jedem TTIP-Interessenten dringend zu empfehlen, den Intransparenz-Vorwurf nicht einfach ungeprüft zu übernehmen und stattdessen einmal unvoreingenommen durch diese reich bestückten Websites zu surfen und sich selber einen Eindruck von der Fülle der Detailinformationen zu verschaffen. Es fällt schwer, nach einer solchen Entdeckungstour noch unkritisch am Vorwurf der angeblich so großen TTIP-Intransparenz festzuhalten.

Das Fazit lautet: Vermutlich haben EU-Kommission und Mitgliedstaaten die Transparenz- und Informationserfordernisse in Sachen TTIP anfangs wirklich unterschätzt. Gerade Verhandlungen um ein inhaltlich kontroverses Thema sollten mit besonders hoher Transparenz begleitet werden. Inzwischen kann der Vorwurf eines schlechten Informationsstands für Parlamentarier und die allgemeine Öffentlichkeit aber nicht mehr überzeugen. Dies gilt umso mehr, als die totale und sofortige Öffentlichkeit jeglichen Gedankengangs in den Verhandlungen keine sinnvolle Zielsetzung ist. Ein vertraulicher Kernbereich der Verhandlungen bleibt unverzichtbar und ist nicht zuletzt deshalb legitim, weil letzten Endes jeder endgültige TTIP-Entwurf parlamentarisch und damit öffentlich diskutiert werden wird.

(© dpa, Fredrik von Erichsen)

Ernst-Christoph Stolper:



Interner Link: "Wir brauchen deshalb einen transparenten Neuanfang bei der Aushandlung von Handelsabkommen. Wer am Ende eine breite Zustimmung möchte, tut gut daran, schon zu Beginn Zivilgesellschaft und Parlamente zu fragen."

Friedrich Heinemann ist Leiter des Forschungsbereichs „Unternehmensbesteuerung und Öffentliche Finanzwirtschaft“ am Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) in Mannheim. Der Wirtschaftswissenschaftler ist zudem außerplanmäßiger Professor für Volkswirtschaftslehre an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg.