Die amerikanische Gefahr? Handelspolitik aus historischer Perspektive
Seit langem stehen Strafzölle oder andere protektionistische Maßnahmen auf dem Verbotsindex Handel treibender Nationen. Sie zählten aber schon immer zur eisernen Reserve im Handlungsrepertoire hilfloser Politiker, schreibt der Bielefelder Wirtschaftshistoriker Werner Abelshauser.
Straf- oder Schutzzölle, wie sie die USA gegenwärtig vermehrt zum Instrument ihrer Politik machen, haben eine lange Tradition, die bis auf die Konstituierung des nachkolonialen Welthandels in der ersten Phase der Globalisierung zurückgeht. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden bereits zwischen der sogenannten Triade - Nordamerika, Europa, Ostasien - hunderte bilaterale Handelsverträge abgeschlossen, um Regeln zu etablieren. Heute gehören 164 Staaten der Welthandelsorganisation (WTO) an und bekennen sich damit zum Freihandel. Offen verhängte Einfuhrzölle oder auch Importquoten sind daher selten geworden. Völlig verinnerlicht haben die meisten Handelsnationen das Freihandelsprinzip gleichwohl nicht, zumal dessen Grundlagen (Meistbegünstigungsgebot und Diskriminierungsverbot) zahlreiche Ausnahmen einschließen. Zudem ist das Regelwerk der WTO Ergebnis langwieriger, komplexer Deals im Rahmen des General Agreement on Tariffs and Trade (GATT), das 1994 in die WTO überging.
Strafzölle sind auch nicht auf die Handelspolitik der USA beschränkt. So hat auch die EU 2013 (vergeblich) Strafzölle gegen den Import chinesischer Solarmodule erhoben, um die heimische Industrie gegen Dumpingprodukte zu verteidigen. "Handelskriege", wie sie gegenwärtig in einigen Medien im Hinblick auf die US-Sanktionen gegen China oder Iran beschworen werden, sind dagegen eher selten – zielen sie doch auf die Vernichtung der gegnerischen Volkswirtschaft ab. Das 1949 im CoCom-Abkommen von Paris von westlichen Staaten verhängte Embargo „moderner Technologien“ gegen den damaligen Ostblock war indes eine wirksame Waffe im Kalten Krieg: Der politische Einfluss der USA führte dazu, dass die davon betroffenen Waffen, Kernenergietechnik, Industrieanlagen und Mikroelektronik aus dem Westen nicht in den Osten gelangten.
Es lohnt sich also, einen Blick auf frühere, klassische Beispiele für Schutzzollpolitik und Protektionismus zu werfen, weil diese Erfahrungen mögliche Verhaltensweisen in der Gegenwart beispielhaft vorprägen. Dies gilt auch für die machtpolitische Regelbildung nach 1947, die schließlich in die WTO einfloss. Auch hier werden im Konflikt zwischen den USA und Europa Muster erkennbar, die heute noch relevant sein können.
Schutzzoll versus Freihandel: ein klassischer Konflikt
Es war in den 1840er Jahren der Wirtschaftstheoretiker Friedrich List, der als erster auf den Widerspruch hinwies, der der Freihandelsideologie innewohnt. [1]So sehr er die Überlegenheit einer liberalen Öffnung des Weltmarktes anerkannte, war er sich auch im Klaren darüber, dass der Freihandel Länder begünstigt, die schon über eine überlegene Produktivität verfügen. Dagegen sind Entwicklungsländer, die noch an ihrer Wettbewerbsfähigkeit arbeiten, strukturell unterlegen. List befürwortete deshalb Schutzzölle ("Erziehungszölle"), die so lange gelten sollten, bis alle Wettbewerber auf Augenhöhe liegen. Diese noch heute gültige pragmatische Einsicht beflügelte auch die klassische Schutzzollpolitik von Reichskanzler Otto von Bismarck 1878/79, bei der sich der Vergleich mit den amerikanischen "Strafzöllen" der Gegenwart geradezu aufdrängt.
Heute ist die Ausgangslage in den USA ähnlich. Die Westküste boomt, die Ostküste floriert, die Informationstechnologie der USA profitiert von der globalen Nachfrage, aber im Fly-over-country – der riesigen kontinentalen Region dazwischen – gibt es viele Verlierer. Auf den ersten Blick scheint Trump im Prinzip nichts anderes im Sinn zu haben als Bismarck 1878: Er erhebt Zölle, um betroffene Branchen vor der Niedriglohnkonkurrenz auf dem Weltmarkt zu schützen.
Ein entscheidender Unterschied: Es ist kaum vorstellbar, dass heute die amerikanische Stahlindustrie oder andere "alte" Branchen auf diese Weise wieder wettbewerbsfähig werden könnten. Und so hinkt der Vergleich dann doch: Geschichte wiederholt sich nicht. Heute müsste die US-amerikanische Wirtschaftspolitik besser alles tun, damit das Erfolgsmodell der IT-Wirtschaft eben nicht nur an den Küsten, sondern auch im Kernland der USA praktiziert wird. Trump könnte von Bismarck nur dann lernen, wenn er die gesamte Dynamik des wilhelminischen Kapitalismus im Blick hätte. Es ging nicht allein um den Schutz von Arbeitsplätzen. Wichtiger noch war es, einer wichtigen "alten" Industrie Gelegenheit zu geben, Anschluss an die "neuen", nachindustriellen Branchen zu finden, die als Ergebnis der Symbiose von Wirtschaft, Wissenschaft und Technik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert in Deutschland – aber auch in den USA – die Industrielle Revolution des 18. Jahrhunderts alt aussehen ließen. Stahlkonzerne wie die Krupp'sche Gussstahlfabrik in Essen nutzten die Chance, um von der materiellen auf immaterielle Wertschöpfung umzuschalten – hin zur Herstellung technisch innovativer Prototypen im Maschinen- und Anlagenbau. [4]
Leicht wurde Bismarck die Abkehr vom zollpolitischen Mainstream seiner Zeit allerdings nicht gemacht. Sie stand im Mittelpunkt erbitterter Auseinandersetzungen zwischen Freihändlern und den List'schen Pragmatikern, die durchaus an den "medialen Bürgerkrieg" erinnern, wie er gegenwärtig in den USA tobt.
Protektionismus als letztes Mittel: das Beispiel Weltwirtschaftskrise
Die hohe Dynamik der Weltwirtschaft fand mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs ein vorläufiges Ende und setzte sich nach Kriegsende nur zögerlich fort. Immerhin gab es in der Triade ein enges Netz von Handelsverträgen, deren Meistbegünstigungsklauseln den freien Handel sichern sollten. Protektionismus stand auf dem Verbotsindex der weltwirtschaftlichen lex mercatoria (lat. für Handelsregeln) zwar ganz oben, zählte aber nach wie vor zur eisernen Reserve im Handlungsrepertoire hilfloser Politiker.Als die Weltwirtschaft nach dem New Yorker Börsencrash 1929 ins Taumeln geriet, übernahmen die USA die Rolle des enfant terrible. Die Republikaner Reed Smoot, Senator von Utah, und Willis C. Hawley, Abgeordneter aus Oregon, errichteten schon 1930 mit populistischem Furor und gegen den Willen ihres Präsidenten Herbert Hoover hohe Zollmauern (Smoot-Hawley-Tariff Act), um den amerikanischen Binnenmarkt zu schützen. 20.000 Güter, also nicht weniger als zwei Drittel aller Importe, wurden so ausgeschlossen. Diese Abschottung traf nicht zuletzt auch Länder wie Deutschland, die mit Dumpingpreisen die Folgen der Weltwirtschaftskrise abzuwenden versuchten. Reichskanzler Heinrich Brüning wollte so den Abschwung in Deutschland kompensieren. Dem schoben die USA damit den Riegel vor.
Die Weltwirtschaftskrise ist indes nicht vom Welthandel ausgegangen, sondern vom Kapitalmarkt. Eine Zollmauer half da ohnehin wenig. Sie verbesserte lediglich die gefühlte Lage – und lenkte die Aufmerksamkeit auf "unfaire" Handelspraktiken. Sie trug aber auch dazu bei, mit öffentlichem Druck den 1933 folgenden Präsidenten Franklin D. Roosevelt zum New Deal zu ermuntern, dessen gigantische Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen sich – ähnlich wie in Deutschland – als wirksame Strategie gegen die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise erwiesen.
Der New Deal verstand sich ausdrücklich auch als Alternative zur Weltwirtschaft. Auf dem diplomatischen Parkett der frühen 1930er Jahre scheiterten alle Versuche, den Weltmarkt im Einvernehmen der Handelsnationen zu stabilisieren, an der Weigerung der USA, eine Führungsrolle zu übernehmen. Dabei wäre diese dem gewachsenen wirtschaftlichen und politischen Gewicht des Landes angemessen gewesen. Aber Roosevelt segelte lieber vor der Küste von Massachusetts, als auf der Londoner Weltwirtschaftskonferenz im Juni/Juli 1933 die Briten in ihrer ökonomischen Führungsrolle abzulösen. Mehr noch: Er schickte das berüchtigte Bombshell-Telegram, das bei den Konferenzteilnehmern "wie eine Bombe" einschlug, weil es mit seiner Absage an die Globalisierung jede Hoffnung auf einen Konferenzerfolg im Keim erstickte. Nicht in einer funktionierenden Weltwirtschaft – so die Botschaft –, sondern in einem "gesunden inneren Wirtschaftssystem" sah er den größten Faktor für den Wohlstand der USA. [5] Nach dem Motto "America first" setzten die USA lieber auf den eigenen Binnenmarkt, der groß genug war, um die US-Wirtschaft vor den schlimmsten Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise abzuschirmen.
Die USA und Europa im Kampf um die Regeln der WTO
Paradoxerweise waren es dann doch die USA, die ihre Führungsrolle nach 1945 dafür einsetzten, eine neue Arena des Freihandels in der Welt zu schaffen, um ihre wirtschaftliche Dominanz ausspielen zu können. Westdeutschland, das nicht souverän war, musste – ob es wollte oder nicht – auf dem von den USA anfangs im GATT abgesteckten Parcours der Liberalisierung vorpreschen und allen Ländern Meistbegünstigung gewähren. Und zwar unabhängig davon, ob diese gleiches mit gleichem vergalten. Was in Adenauers Republik zunächst als einseitige Last empfunden wurde, sollte sich bald als Einstieg in eine Führungsrolle am Weltmarkt erweisen. Dagegen ließen die USA in der Kleinen Weltwirtschaftskrise der 1970er Jahre ihre protektionistische Tradition erneut aufleben. [6] Der Präsident wurde damals ermächtigt, Zölle und außertarifliche Handelsbarrieren einzuführen, um amerikanische Arbeitsplätze zu schützen. So ausgestattet waren es die USA (und Japan), die in der Tokio-Runde (1973-79) und in der Uruguay-Runde (1986-93) des GATT eine eher protektionistische Position einnahmen.Die Vorstellung, Deutschland könne den Binnenmarkt der Europäischen Gemeinschaft als Sprungbrett in den Weltmarkt nutzen, war in den 1950er Jahren ein Trost, in den 1970er Jahren eine Hoffnung und in den 1990er Jahren Realität. [7] Für das - zusammen mit den USA und Japan - "tonangebende Welthandelsland" [8] lag es nahe, Europa als Basis fürs global playing in einer offenen Weltwirtschaft zu formen, noch bevor dies mit dem Vertrag von Maastricht (1993) und der Schaffung eines europäischen Binnenmarktes Realität wurde. Schließlich bot sich hier die Gelegenheit, in der Nachkriegszeit verlorenes handelspolitisches Terrain zurückzugewinnen – eine Rechnung, die schließlich auch für die wichtigen Märkte in China (1978) und Russland (1990) aufging. Bis dahin ging knapp die Hälfte der deutschen Exporte in den Binnenmarkt der Gemeinschaft – ein Anteil, der nur noch als Folge von Erweiterungen der damaligen EG zu steigern war. Der Weltmarkt gewann nun für Deutschland als Absatzgebiet deutlich an Gewicht.
Die USA folgten aus der Machtstellung des eigenen großen Binnenmarktes heraus und vor dem Hintergrund ihrer restriktiven Handelsgesetzgebung in den Verhandlungsrunden des GATT einer eher protektionistischen Strategie. Dies war prägend für die Uruguay-Runde, die entscheidend für die Regelsetzung in der WTO wurde. In dieser Auseinandersetzung bündelte die Bundesrepublik die Kräfte Europas. Sie war davon überzeugt, dass "in dieser zentralen Frage, die wirkliche, handlungsfähige 'Gegenmacht' die EG ist." [9] Als Sprachrohr der Gemeinschaft verlangte die Regierung in Bonn die "Öffnung der OECD für neue weltwirtschaftliche Mitspieler" - und meinte damit vor allem Osteuropa und die auf nachindustriell maßgeschneiderte europäische Investitionsgüter so sehr angewiesenen Schwellenländer. Aber auch dem Platzhirsch auf dem Weltmarkt wurde "klar zu verstehen gegeben, dass kein Land die internationalen Spielregeln nach eigenem Gusto interpretieren kann." [10] Auf dem Markt konnte der "Exportweltmeister" Bundesrepublik den Amerikanern auf Augenhöhe begegnen. [11] Wenn es um die Macht ging, die Spielregeln auszuhandeln, war er gleichwohl auf den Rückhalt der Europäischen Gemeinschaft angewiesen.
Heute empfindet die US-Regierung das WTO-Regelwerk als "unfairen Deal" und versucht, den Einfluss der Welthandelsorganisation zurückzudrängen. So endete das Gipfeltreffen der Asiatisch-Pazifischen Wirtschaftskooperation (APEC) 2018 handlungsunfähig im Konflikt zwischen den USA und China, weil Washington das Freihandelsprinzip nicht festschreiben wollte. Die EU wird sich auf ähnliche Konflikte einstellen müssen, handelt es sich dabei doch nicht nur um die Laune eines professionellen Dealmakers, sondern um ein vertrautes Muster US-amerikanischer Handelspolitik. Der Blick auf die Geschichte der transatlantischen Handelsbeziehungen sollte den Europäern aber Mut machen, der Herausforderung standzuhalten.