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"Diese Art des Preisgebens fand ich nicht gut" Jürgen Ludwig

/ 4 Minuten zu lesen

Jürgen Ludwig kritisiert, wie die Wiedervereinigung verlaufen ist. Sein Wunsch für die Zukunft: Die unglückselige Diskutiererei von Deutschland-Ost und Deutschland-West solle endlich aufhören.

1. Wie haben Sie den Herbst 1989 erlebt?
Wir haben an dem Tag der Grenzöffnung von der IG-Stadtökologie eine Umweltveranstaltung gehabt, hier in Arnstadt. Ich bin an dem Tag sehr spät nach Hause gekommen, nach 22:00 Uhr, und habe noch so zu meiner Frau gesagt: Nachrichten tue ich mir heute nicht mehr an. Es ist eh' alles nicht so erfreulich, in letzter Zeit, und sonst schläft man wieder die halbe Nacht nicht. Die Grenzöffnung habe ich eigentlich auf diese Art und Weise verschlafen. Und ich habe dann früh, durch den Radiowecker geweckt, gehört, dass die Grenzen offen sind. Und da waren meine ersten Worte: Das hätte nie passieren dürfen. Also, diese Art des Preisgebens fand ich damals schon nicht gut. Wir haben eine gewisse Angst vor der Entwicklung gehabt, dass der Prozess, den wir in der DDR in Gang gesetzt hatten, dass der sich jetzt verselbständigt, unseren Händen entgleitet, dass wir kaum noch Einflussmöglichkeiten haben. Was sich, zum großen Teil, dann ja auch bestätigt hatte. Das waren also meine Bedenken.

2. Was hat sich nach dem Ende der DDR für Sie verändert?
Nach der Wende bin ich sehr stark engagiert gewesen, in der ersten Wahl 1990. Wir sind dann auch ins Stadtparlament gekommen. Das war ein grün-alternatives Bündnis. Das waren unabhängige Fragen, Initiative für Menschenrechte und so, diese entstehenden Grünen. Als dieser Zusammenschluss waren wir im Stadtrat. Und das hat natürlich doch viel, viel Zeit erfordert. Und die Wende selber habe ich natürlich aktiv mitbegleitet. Ich bin seinerzeit auch bei den ganzen Demos mit dabei gewesen, habe aber damals immer dieses Ideal gehabt: Ich möchte eigentlich eine andere DDR. Das war mein Anliegen, und auch von vielen derer, die mit uns mit gegangen sind, immer. Ja, und dann hat sich das alles ein bißchen anders ergeben. Für mich war die erste große Enttäuschung eigentlich die Wahl 1990. Da bin ich eigentlich davon ausgegangen, dass das Volk der DDR jetzt mal die Geschicke in die Hand nimmt und versucht, wirklich etwas Eigenes auf die Beine zu stellen und dann versucht, mit der Bundesrepublik auf gleicher Augenhöhe zu sprechen und zu verhandeln und so Sachen: Lasst uns mal gemeinsam aus der ganzen Geschichte eine Chance erkennen. Und ich bin im Nachhinein immer mehr bestätigt worden. Wir hatten 1989/90 als Gesamtdeutschland eine Riesenchance. Und die Chance haben wir ein weiteres Mal tüchtig vertan.

3. Wie haben Sie sich 1989 die Zukunft vorgestellt?
Ich habe mir Anfang '89 für die Zukunft der DDR vorgestellt, dass sie mehr gelebte Demokratie entwickelt, dass sie sich den Herausforderern, auf der ökologischen Seite vor allen Dingen, stellt.. Da hatte man ja sehr viel zu tun. Und dass wir versuchen, das, was auf wirtschaftlicher Ebene gut war – und das muss man nach wie vor sagen – dass man dieses Potential weiter ausbaut und auch ein Stück weit in Kooperation mit anderen Staaten weiter entwickelt, so, dass man also wirtschaftlich sich hätte stärken können. Und dann hatte ich schon auch als fernes Ziel, dass es mit Europa mal irgendwie weitergehen sollte. Und dass wir dazu finden, in einem vereinigten Europa, oder einem Staatenbund von Europa, aktiv zu sein – aber immer noch lange Zeit als DDR. Und dass man auf gleicher Augenhöhe mit uns spricht. Nicht, wie es dann gekommen ist, dass wir also im Grunde genommen behandelt worden sind, als hätten wir einen Weltkrieg verloren.

4. Welche Erinnerung an die DDR ist für Sie die Wichtigste?
Es gab, vielleicht auch aus einem gewissen Druck heraus, ein größeres menschliches Miteinander. Und das fand ich eigentlich gut. Man kann auch über die Bildungspolitik der DDR denken, wie man will, dass man jetzt sagt, meinetwegen, die Kinder sind schon von früh auf im Geiste des Sozialismus erzogen worden. Aber es war zumindest noch eine Bildung. Und jetzt habe ich zunehmend den Eindruck, dass eine Entbildung der ganzen Gesellschaft stattfindet. Das sieht man im Fernsehen, das kriegt man in den Printmedien mit, auch in der Kultur gibt es Einflüsse, die nicht dazu beitragen, ein kritisches Volk heranzuziehen, ein Volk, dass auch in der Lage ist, Geschicke selbst in die Hand zu nehmen. Das macht mir für die Zukunft ein wenig Sorgen. Damit geht eine gewisse Entmündigung der Bevölkerung einher, derer, die noch Willens wären. Und die anderen werden gar nicht erst in die Lage versetzt, eines Tages Verantwortung zu übernehmen.

5. Was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Für die Zukunft würde ich mir wünschen, dass wir endlich aufhören mit dieser unglückseligen Diskutiererei von Deutschland-Ost und Deutschland-West. Auch dieses Neue Länder und Alte Länder finde ich eine peinliche Diskussion. Wir sind ein Deutschland, ein kleines Deutschland in diesem großen Europa. Dieses große Europa ist ein ganz kleines Mosaiksteinchen in dieser Welt. Ich würde mir wünschen, dass alle Menschen und alle Nationen begreifen: Wir haben dieses Schiff Erdball nur geliehen. Und wenn wir uns nicht ganz gewaltig anstrengen – denn es ist nicht fünf vor zwölf, sondern eigentlich fünf nach zwölf – wenn wir uns nicht ganz gewaltig anstrengen, uns den Herausforderungen der Zukunft zu stellen, ganz gleich, welcher Rasse, welchen Glaubensbekenntnisses wir sind, welcher Partei wir angehören, wir haben die gemeinsame Aufgabe. Das ist so ähnlich, wie bei der deutschen Wiedervereinigung. Wir haben eine Riesenchance. Noch haben wir sie. Aber die Zeit läuft uns davon. Und die Chance sollten wir nutzen. Das ist eigentlich mein Wunsch für die Zukunft.

Juni 2004

Fussnoten

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