Bernd Roth, geb. 1951, war ab 1967 Inoffizieller Mitarbeiter des MfS in Thüringen,1973 wurde er Hauptamtlicher MfS-Mitarbeiter und 1990 im Range eines Majors entlassen.Ein direktes Interview hat er gescheut, aber von sich aus angeboten, auf die Fragen zu antworten, die ihm bei Lesungen aus seiner Autobiografie am häufigsten gestellt werden. Zunächst versucht er zu begründen, wie es dazu kam, dass die Stasi bedenkenlos zu seinem Lebensinhalt wurde, wie er IM geworden ist und dann eine Festanstellung beim MfS in Gera fand. Dann erläutert er, wie verengt dort gedacht und gehandelt wurde - und wie Menschen missbraucht worden sind. "Die Motive für eine Spitzeltätigkeit waren mannigfaltig", berichtet er, "Selbstdarsteller waren die lohnenswertesten Subjekte".
"Die Spitzel waren nur Mittel zum Zweck" Selbst-Interview eines "Stasi-Täters"
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"Der IM, der Spitzel, war immer zuerst eine missbrauchte Person", berichtet der ehemalige Geraer Stasi-Major Bernd Roth und macht das Ziel von SED und Stasi deutlich, Querdenker „zu einer staatskonformen Einstellung umzuerziehen“.
Dieses Gespräch ist fiktiv. Es hat so nie stattgefunden, aber es fasst eine Reihe von Fragen zusammen, die mir im Verlauf der letzten vier Jahre bei unterschiedlichen Gelegenheiten gestellt wurden. Vor etwa vier Jahren ging ich mit meiner Lebensgeschichte in die Öffentlichkeit, in einem kleinen Verlag. Mein Buch „Berichte eines Stasi-Täters“ beschreibt mein Leben, dass maßgeblich durch eine kommunistische Erziehung und die Zugehörigkeit zum Ministerium für Staatssicherheit, genannt Stasi, geprägt wurde. Mit Rücksicht auf den wenig vorgebildeten jungen Leser habe ich versucht die Antworten so verständlich, wie möglich zu halten.
Was bewog Sie, sich schon als junger Mensch für diesen Weg zu entscheiden, zunächst als IM, dann als Hauptamtlicher bei der Stasi?
Dazu muss ich etwas ausholen. Für seine Herkunft ist niemand verantwortlich. Die einen liebten ihren Großvater, der ein Nazi war, ich liebte einen, der schon 1919 zum kommunistischen Jugendverband gehörte. Ich wurde in ein Land hinein geboren, das die Amerikaner Engländer und Russen letztendlich mit der Aufteilung in unterschiedliche Einflusszonen, geteilt haben. Alles, was sich Deutsche in den nachfolgenden vier Jahrzehnten gegenseitig antaten war dieser Unausweichlichkeit geschuldet. Ich wuchs im Osten in einer Zeit auf, die von Entbehrung und Armut gezeichnet war. Ich hörte die Eltern von Kriegen reden, jenem, der gerade zu Ende gegangen war und jenem, der angeblich kommen wird. Dass die Russen, wir sagten damals Sowjetsoldaten, die Befreier waren, stand für mich Jugendlichen außer Zweifel. Das Leben in meinem Dorf war immer durch einen nahen Hüttenbetrieb bestimmt. Dorthin gingen fast alle, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Die Besitzer Flick und Röchling, nachgewiesenermaßen Nazis, wurden enteignet. Kurz vor Kriegsende wurden noch russische Zwangsarbeiter durch ein SS Kommando in der nahen Heide erschossen. Auch mein Großvater stand auf einer Liste und wäre, wenn das Nazi Reich nicht zusammengebrochen wäre, möglicherweise in das KZ Buchenwald verbracht worden. Ich hatte keinen Grund daran zu zweifeln, als gesagt wurde, dass nun die Kommunisten im Osten und die Nazis im Westen lebten. Großvater zeigte mir Bilder von Globke und Adenauer und erzählte von den vielen Nazis die dort wieder an der Macht waren. „Schlagt die Kommunisten tot“ stand auf Zetteln geschrieben, die an kleinen Ballons vom Himmel schwebten. Auch wenn es in diesem Alter nur ein Gefühl war, aber unter Berücksichtigung auch all meiner persönlichen Umstände wehre ich mich entschieden gegen den Vorwurf, dass meine damalige Hinwendung zu diesem Land DDR ein Fehler gewesen wäre. Meine Herkunft und Erziehung war unmittelbar mit diesem neuen Verständnis verknüpft. Ich war ein Arbeiterkind und denen sollten nun auch Universitäten offen stehen. Sie sollten lernen und studieren, um einmal die neuen Staatslenker zu werden. Ich glaubte diese Visionen und genoss in meinen Jugendjahren alle Vorzüge dieser Politik.
Meine Sicht auf die Welt war klar und übersichtlich. Es gab in meinen jungen Jahren aber auch immer wieder Anlässe, die mich zwar nachdenklich stimmten, was aber nie dazu führte grundsätzliche Positionen aufzugeben. Durch eine Jugendliebe mit einer Pfarrerstochter lernte ich eine Welt kennen, die viel angenehmer daherkam, als ich sie kannte und es gab die Cliquen in denen ich mich wohlfühlte und deren Erscheinungsbild überhaupt nichts mit einem staatskonformen Jugendleben zu tun hatten. Ich bin sehr behütet ohne Kindergarten und Schulhort aufgewachsen und das scheint mir auch der Grund dafür zu sein, dass ich mich trotz meiner Erziehung auch immer wieder anzupassen versuchte. Mich verlangte es nach Zugehörigkeit und so begann ich eine Gratwanderung bei der ich das mir anerzogene Pflichtgefühl mit meinem nicht ganz staatskonformen Lotterleben zu verbinden suchte. An der Grundschule gelang mir das noch gut. Ich war ein guter Schüler und noch mit allen Weihen versehen.
Spätestens ein Jahr nach meinem Wechsel an eine höhere Bildungseinrichtung kamen die Schwierigkeiten. Offenbar reichten meine Vorkenntnisse nicht aus. Hinzu kam der Mief aus einer früheren Zeit, der an dieser Schule in Gestalt einiger Lehrer daherkam. Alles in mir rebellierte, wenn ich mich Tag für Tag dorthin auf den Weg machen musste. Schon bald war ich mit meinen schulischen Leistungen auf dem Tiefpunkt und die Schule drohte mit Rausschmiss. Mein Interesse an Naturwissenschaften hielt sich sehr in Grenzen. Auch hatte ich für mich schon lange entschieden, kein Dasein in einem der sozialistischen Großbetriebe fristen zu wollen. Mit etwas Glück fand ich einen neuen Freund. Der versorgte mich mit seinen Unterrichtsvorbereitungen und so konnte ich zumindest meine Leistungen stabilisieren. Doch während andere ihr Leben planten, hatte ich keine Vorstellungen. Meinen Eltern blieb das alles nicht verborgen und sie hatten vielleicht einfach nur Angst, sie suchten nach etwas, was mir Halt und eine Zukunft geben könnte. Und warum nicht die Stasi? So kam es, dass ich mit nur sechzehn Jahren meinem späteren Führungsoffizier gegenüber saß. Der gewann mich vertrauensvoll als IM und signalisierte mir sehr zeitig, dass man sich für mich eine berufliche Laufbahn beim MfS vorstellen könne. Damit war ich sorgenfrei. Unter der Obhut der Stasi erlebte ich eine Freiheit, wie ich sie mir erträumte. Sie legten zwar Wert auf meine schulischen Abschlüsse, machten mir aber keinerlei Vorschriften, wie ich zu leben habe. Schon bald war ich dort angekommen, was man damals als dekadent bezeichnete. Regelmäßiges Abliefern von Berichten aus den Jugendszenen, in denen ich selber verkehrte, nahm ich dafür gern in Kauf. Es sollten dann noch fünf Jahre einer wirklich intensiven Zusammenarbeit vergehen bis es zu der von mir heiß ersehnten Einstellung in das MfS kam.
Wie muss man sich eine Zusammenarbeit als IM mit der Stasi vorstellen?
Meine Zusammenarbeit gestaltete sich durch mehr oder weniger regelmäßige Zusammenkünfte mit immer demselben Führungsoffizier. Zwischen ihm und mir entstand ein durchaus innigliches persönliches Verhältnis, das aber nie dazu führte samt und sonders alles preiszugeben. Ich verweigerte mich immer dann, wenn das meinen Gefühlen und Überzeugungen widersprach. Insofern betrachtete ich mich nie als ein willfähriges Instrument der Stasi. Es war für mich plausibel, dass man solche Gespräche nicht in der Öffentlichkeit, wie in Gaststätten oder Ähnlichem, führen konnte. Deshalb nahm ich auch willig das Angebot an, diese Gespräche an einem neutralen Ort zu führen. Wie man heute weiß, griff das MfS für solche Zwecke unter anderem auf Wohnungen zurück, deren Bewohner besonders verpflichtet waren. Solche Treffquartiere, auch konspirative Wohnungen genannt, wurden so ausgewählt, dass der Grund nach außen hin nicht offenbar werden konnte. Nach dem Läuten an der Haustür begrüßte mich eine freundliche schon etwas betagte Frau, die mich freundlich in ein Zimmer geleitete, wo der Offizier schon wartete. Später kredenzte sie noch Kaffee und Kuchen und zog sich dann diskret zurück. Die Termine waren immer vorher besprochen, denn mal eben zum Telefon greifen, in dieser Zeit fast unmöglich. Solche Treffs mit jugendlichen IM gestalteten sich zumeist in einer lockeren Gesprächsatmosphäre. Man sprach über Tagesabläufe, über die Schule, die Freizeit und der Führungsoffizier hakte bei Interesse nach. Dabei verfolgte er ein Informationsinteresse, das der IM grundsätzlich nicht nachvollziehen konnte. Logisch ging es immer um Sachen und Personen, doch mir war es auch immer wichtig meine Schilderungen durch eigene Bewertungen zu ergänzen. Die entsprachen immer zuerst meiner eigenen Verfassung und Anschauung. Ich war zum Beispiel vom „Bazillus“ der westlichen Trends in Musik und Mode befallen und ärgerte mich permanent darüber, dass die DDR etwas Ähnliches nicht zuwege brachte, also sprach man auch von denen, die das ähnlich sahen und schon lieferte man Informationen, die sich der Führungsoffizier notierte. Ich kann nicht sagen, wie viele Informationen so auf seinen Zettel geraten sind. Ab und an gab es bei darauf folgenden Treffs noch Nachfragen und auch die Aufforderung sich auf den einen oder anderen weiter zu konzentrieren. Wie meine teilweise unspektakulären Einzelinformationen zu einem Gesamtbild beitrugen, erschloss sich mir erst viel später. Der jugendliche Spitzel begriff sich immer zuerst als etwas Einzigartiges. Erst später ahnte ich, dass es da auch noch andere geben müsse. Ich kam während dieser Zeit mehrfach in Situationen, wo plötzlich gute Freunde und Bekannte Andeutungen machten, die auf Stasi Kontakte schließen ließen. Nur einmal informierte ich zu solch einer Begebenheit, was aber auch nicht zu Konsequenzen führte, weil es zu offensichtlich war, wer da geplaudert hatte.
Gab es keine Hemmschwelle, zu berichten?
Die Arbeit mit jugendlichen Spitzeln wie mir war sehr problematisch, ich kann das ja auch aus meiner späteren Perspektive als Führungsoffizier einschätzen. Durch unseren Umgang unterlagen wir Einflüssen, von denen wir uns nicht total abgrenzen wollten oder konnten. Da gab es Liebe und Sympathie und viele gemeinsame Erlebnisse mit Menschen, die an sich im Fokus der Stasi standen und so kam es nicht selten zu einer innerlichen Verweigerung des IM, darüber mit dem Stasi Führungsoffizier zu reden. Die Stasi war nur punktuell in der Lage, gezielte Überprüfungen zum Aussagegehalt ihrer Spitzel anzustellen. Nicht selten gab es regelrechte Schweigekartelle, wo sich Stasi IM vor ihren Berichterstattungen an den Führungsoffizier abstimmten. Aber nicht immer hat man sich als IM, so viele Gedanken gemacht. Es fällt im Regelfall immer schwer, sich als jugendlichen Spitzel als alleinigen Verursacher für nachfolgende repressive Maßnahmen auszumachen.
Warum war der ein Feind, der anders dachte?
Es gehörte zu den Grundsätzen der sozialistischen Diktaturen Andersdenkende „zu verfolgen, zu bekämpfen und unschädlich zu machen“. Schon Lenin forderte in seinem berüchtigten Dekret "über den roten Terror" vom 5. September 1918 systematische Terrormaßnahmen gegen den Klassenfeind und stellte die sowjetische Geheimpolizei "Tscheka" über das Gesetz. Stalin entwickelte später daraus einen regelrechten Vernichtungsfeldzug gegen Andersdenkende, denen Millionen von Menschen zum Opfer fielen. Dieses politische Prinzip wirkte auch in der DDR fort. Deshalb war es nicht verwunderlich, dass 1945 unter der Aufsicht der sowjetischen Besatzungsmacht besonders die für den Aufbau neuer Staatsorgane herangezogen wurden, die als Kommunisten während der Naziherrschaft verfolgt waren. Wenn man sich die Biografien durchschaut, wird man Viele auffinden, die direkt oder indirekt vom Nazi-Terror betroffen waren. Maßstab waren die richtige politische Entwicklung und ein gelebter nachweisbarer Klassenstandpunkt. Die da plötzlich in den Sesseln der Macht saßen, entstammten vielfach einfachsten Verhältnissen. Höhere Bildungswege waren ihnen bis dahin verschlossen. Man kann sich leicht vorstellen, dass Empathie oder gar Toleranz nicht zu ihren Methoden gehörten. Aus eigener leidvoller Erfahrung während der Nazi-Diktatur nahmen sie sich das Recht der Revanche und scheuten sich auch nicht vor Gewalt. Die Tatsache, dass manch einer ihrer ehemaligen Peiniger im Westen wieder zu Ämtern und Ansehen gekommen war, bestärkte sie dabei. Der uns anerzogene Hass gegen den Feind begründet sich darauf. Schon seit meiner Kindheit wurde mir anerzogen immer auf der richtigen Seite zu stehen. Es gab nur das „entweder oder“, das „dafür oder dagegen“.
Wer zweifelte, stand also automatisch auf der "falschen" Seite?
Der richtige "Klassenstandpunkt" wurde ja permanent gefordert. Es war zuerst dem politischen Herrschaftsanspruch der SED geschuldet Andersdenkende „zu einer staatskonformen Einstellung umzuerziehen“. Wie die gesamte DDR-Justiz waren auch das Strafrecht und die Strafrechtspflege dem Herrschaftsanspruch der Partei verpflichtet. Das von der Volkskammer der DDR verabschiedete Strafgesetzbuch stellte Handlungen unter Strafe, die diesem Anspruch zuwiderliefen. Insofern handelte die Stasi gesetzeskonform, wenn sie durch Überwachung und Verfolgung versuchte jedweden Gesetzesverstoß schon in den Anfängen zu erkennen, ihn abzuwehren oder die Urheber einer Strafe zuzuführen. Dazu bedienten sich die Stasi-Mitarbeiter eines umfangreichen befehlsmäßig angewiesenen Instrumentariums, das wohl hinlänglich bekannt ist.
Mein persönliches Engagement bei der Ausführung solcher angewiesener Maßnahmen entsprach zuerst immer meiner grundsätzlichen politischen Überzeugung. Es war politisch so gewollt, dass der Mitarbeiter des MfS das als seinen spezifischen Klassenauftrag begreift. Es ist aber nur eine Wahrheit, wenn man das MfS allein nur als einen inneren Unterdrückungsapparat begreift. Die SED hat stets verleugnet, dass das sozialistische System aus einem inneren Verwerfungsprozess heraus seine eigenen Feinde gebiert. Die Sicherheitsdoktrin der DDR und damit unser „Feindbild“ stellten immer darauf ab, dass die Ursache eines widerständigen Verhaltens von DDR Bürgern durch äußere Feinde inspiriert wird. Insofern war alles, was dem politischen Überzeugungssystem der BRD zugeordnet werden konnte, eine feindliche Ideologie und deren Träger und Verbreiter letztendlich Feinde. Die SED aber wollte die Hoheit über das Denken und Handeln von Menschen und so war es an der Stasi die ausfindig zu machen, die sich dem widersetzten auch wenn sie zunächst nur anders dachten.
Wie hat die Stasi die DDR flächendeckend überwacht?
Der Forderung Mielkes folgend „Genossen, wir müssen alles wissen“ waren wir Tag um Tag bemüht, das für alle gesellschaftlichen Bereiche der DDR durchzusetzen. Trotz eines massiven Personalausbaus beim MfS in den siebziger Jahren gelang das aber nur bedingt. Wie bekannt, musste die Stasi in der Hauptsache auf menschliche Quellen, den Zuträger IM, zurückgreifen. Es gab Führungsoffiziere, die monatlich dreißig IM zu treffen hatten. Schier unmöglich, wenn man bedenkt, dass dies nur ein Aufgabenfeld des Mitarbeiters war. Die technischen Voraussetzungen für eine flächendeckende Telefonüberwachung waren nicht gegeben, zumal nur sechzehn Prozent der DDR Bürger über einen Telefonanschluss verfügten. Auch der technische Ausrüstungsstand der Dienststellen lief immer auf Sparbetrieb. Die Waffenkammern waren gut gefüllt aber es fehlte an PKW und der Kraftstoff war oft limitiert. Das MfS entwickelte deshalb das Prinzip der besonders schutzwürdigen Bereiche. Die Sicherheitsdoktrin ging davon, dass die sogenannten Feindangriffe vornehmlich dort vorgetragen werden, wo die Überlebensadern der DDR lagen. Man bezog sich dabei auch immer auf Erfahrungen aus den fünfziger Jahren, als die aus unserer Sicht von der CIA gesteuerte „Kampfgruppe gegen die Unmenschlichkeit“ Sabotageanschläge auf dem Gebiet der DDR plante.
Worauf konzentrierte sich die Stasi?
Unser Hauptaugenmerk lag auf den wichtigen Großbetrieben. Die DDR hatte erst zunehmend später dann permanente Versorgungsprobleme. Die Großbetriebe sicherten den Export und sorgten für den Zufluss der für die DDR so wichtigen Devisen. Durch die Hochrüstung in Ost und West mussten immer mehr ökonomische Ressourcen eingesetzt werden. Das führte dazu, dass in schon hoch entwickelten Betrieben der Mikroelektronik und des Gerätebaus nahezu dreißig Prozent der Kapazitäten für die Entwicklung militärischer Komponenten für Waffensysteme zur Verfügung stehen mussten. Für solche Bereiche haben wir eine nahezu flächendeckende Überwachung garantieren können. Die Bestände an Zuträgern waren hier überproportional entwickelt und der Personalbestand an Mitarbeitern deutlich größer, als bei der Überwachung von Jugend, Kirche und Kultur.
Mit Beginn der siebziger Jahre nahmen die inneren Verwerfungen und Disproportionen des staatlichen Gemeinwesens der DDR deutlich zu. Die Reaktion darauf war ein mündiges Aufbegehren von Menschen, die sich diesen Zuständen entgegen stellten. Mit Recht erhoben sie Forderungen nach Meinungsfreiheit und Mitbestimmung. Unter dem Dach der Kirche und damit dem staatlichen Zugriff weitestgehend entzogen bildeten sich verschiedenste Initiativen, die völlig andere Vorstellungen vom Leben in der DDR hatten. Wir sprachen von Sammlungsbewegungen, die unübersehbar letztendlich die Macht der SED beseitigen wollten. Da das in unserer indoktrinierten Vorstellungswelt nicht vorgesehen war, schrieben wir diesen mehr und mehr um sich greifende Bestrebungen einem feindlichen Plan zu. Unser Vorgehen war immer ergebnisorientiert. Mit Hass und Eifer stürzten wir uns auf sich jede bietende Gelegenheit besonders der „Rädelsführer“ habhaft zu werden, sie zu bestrafen und in Haft zu bringen oder zu isolieren. Was war der Erfolg eines Stasi-Mitarbeiters? Der Erfolg eines Mitarbeiters war der Abschluss, das Ermittlungsverfahren, jemanden in Haft zu bringen, denn nur so verschaffte er sich Ansehen und sicherte seine Karriere.
Doch alle Versuche diesen berechtigten Widerstand endgültig einzudämmen liefen ins Leere. Ein Eingehen auf diese Forderungen hätte schon zu Beginn der achtziger Jahre die Preisgabe des diktatorischen Regimes bedeutet. Aus unserem Selbstverständnis heraus waren unsere Reaktionen unerbittlich. Emotionen durften dabei keine Rolle spielen. Ohne Rücksicht auf die persönlichen individuellen Umstände konzipierten wir die Ausschaltung der Widerständigen. Natürlich gab es da auch Zweifel, doch als sich Roland Jahn in Jena mit den Seinen auf den Platz stellte, lagen in Depots nur wenige Kilometer vor der Stadt abschussbereite sowjetische Atomraketen.
Warum haben Sie Proteste von Jugendlichen wie der Jenaer Friedensgemeinschaft nicht gelassener gesehen?
Die SED hat sich vom Trauma des 17.Juni 1953 nie erholt. Seit dem war unser Auftrag der vorauseilende Gehorsam. Jede Unregelmäßigkeit, jeder Betriebsstillstand, jede Versorgungslücke, und deren gab es der DDR bekanntlich viele, wurde zunächst immer einem feindlichen Wirken zugeschrieben. Die dienstlichen Weisungen, den sogenannten Feindangriff schon in der Phase der Planung und Vorbereitung zu erkennen, zwangen uns dazu, jedem Verdacht, wenn auch nur gering, nachzugehen. Grobe Unterlassungen konnten für den Stasi Offizier das Karriereende bedeuten, denn Verstöße gegen Befehle und dienstliche Weisungen führten immer dazu sich rechtfertigen zu müssen. Es war im Dienstbetrieb normal, dass die Mitarbeiter jeden Anlass nutzten sich in wilde Spekulationen zu ergehen. Sie entwickelten Annahmen und Versionen und begründeten damit mögliche gegen die DDR gerichtete Straftaten. Unschuldsvermutungen spielten dabei oft nur eine untergeordnete Rolle. Es ist dem System geschuldet, dass es die Mitarbeiter in Situationen zwang, denen sie oft nicht gewachsen waren. Oftmals waren sie gering an Bildung und Erfahrung und nicht fähig in großen Zusammenhängen zu denken. Auch heute kann man beim Lesen der Stasi-Akten immer wieder Beispiele dafür finden, dass es oft sehr junge Stasi-Mitarbeiter waren, die repressive Maßnahmen gegen Oppositionelle konzipierten und steuerten. Die davon betroffenen waren oft den federführenden Offizieren an Persönlichkeit weit überlegen. Diese vom Stasi Offizier gefühlte Diskrepanz konnte durchaus auch dazu führen, niedere Instinkte zu wecken.
Überwachung in der DDR ist aber nicht nur dem Wirken der Stasi allein geschuldet. Die DDR war mit verschiedenen Überwachungssystemen überzogen. Stasi, die Polizei, die Leiter der staatlichen Verwaltungen, wie die Räte der Kreise, die Dienststellen der NVA waren im Geiste eins. Sie arbeiteten der Stasi auf der Grundlage von staatlichen Festlegungen ständig zu. Die SED hatte ihren eigenen Überwachungsapparat auf den die Stasi keinen Zugriff hatte. Jeder Genosse der SED befand sich in einem ständigen Rechtfertigungszwang, wenn er die Normen der sozialistischen Moral und Ethik verletzte. Die Kontrolleure der SED Parteiorganisationen (Parteikontrollkommission) führten eigene Akten und zogen Abweichler zur Verantwortung. Daraus ergaben sich nicht wenige arbeitsrechtliche Entscheidungen, die für die Betroffenen einschneidende Folgen hatten.
Wie kann sich den Dienstbetrieb der Stasi vorstellen?
Alles was auf Eid und Verpflichtung zur Einstellung in das MfS folgte, war durch und durch militärisch organisiert. Die Dienststellen bestanden aus, heute würde man sagen Teams, die nach dienstlichen Vorgaben ihre Arbeit organisierten. Im Kern waren das globale Befehle und Weisungen, die immer die Unterschrift des Ministers oder anderer maßgeblicher Vorgesetzter trugen. Es gab wohl keinen gesellschaftlichen Bereich der DDR, der davon nicht erfasst war. Dem Mitarbeiter war damit ein Kompendium an die Hand gegeben, dem er zwingend folgen musste, wenn er eigene Maßnahmen für den ihm zugewiesenen Bereich plante. Diese Planungen waren eine Art Abgleich mit den zentralen Vorgaben. Sie entstanden immer nur durch das aktive Mitwirken der Mitarbeiter und waren deshalb immer ein Ergebnis ihrer Anschauungen und Ideen. Im Kern hatte das innerdienstliche Reglement nur Sorge dafür zu tragen, dass diese „schöpferischen Prozesse“ umfassend zur Geltung kamen. Die nach innen gerichtete Kontrolle diente im weitesten Sinne nur dazu diese Prozesse störungsfrei zu halten. Die Frage danach, wer denn nun die konkreten Aufträge zur Überwachung auslöste, stellt sich so nicht. Es war in der Regel immer der für einen Bereich zuständige Offizier, der aus der Beurteilung einer Situation heraus Vorschläge einbrachte und Entscheidungen vorbereitete. Schon gar nicht, und ich habe das nicht anders erlebt, gab es irgendwelche SED Funktionäre, die uns Aufträge erteilen konnten.
Der hanebüchene Widerspruch zwischen den von der SED verkündeten Erfolgen und dem fortschreitenden inneren Verfall des Staatswesens musste selbst den halbwegs gebildeten MfS Offizier in Sinnkrisen stürzen. Mit den uns zur Verfügung stehenden geheimdienstlichen Mitteln waren wir in der Lage, wahre und sehr umfassende Abbilder für alle gesellschaftlichen Bereiche der DDR zu erstellen. War es dümmliche Arroganz oder billiger Karrierismus oder nur ideologische Verblendung der Empfänger, aber unsere Beschreibungen zur Realität führten nur selten zu den Reaktionen, die wir uns erhofften. Es lässt sich leicht erahnen, dass dies zu heftigen Diskussionen im Dienst führte. Je nach Couleur der Vorsetzten wurden sie geduldet oder auch unterbunden. Obwohl nach außen als „Schild und Schwert“ gepriesen, waren unsere grundsätzlichen Haltungen zu den in den unterschiedlichen Hierarchien der SED agierenden Funktionären zunehmend zerrüttet. Das einzige was uns noch antrieb war eine Art Glaube. Ohne diese schleichende Demoralisierung über Jahre hinweg, hätte es möglicherweise die friedliche Entmachtung der Stasi nicht gegeben.
Wie war das Verhältnis von Spitzel (IM) und Führungsoffizier?
Die IM waren die „Hauptwaffe im Kampf gegen den Klassenfeind“. Deshalb widmet sich das Gros der Befehle und Weisungen dieser Thematik. Ich selbst habe genügend IM für diese Spitzeltätigkeit ausgewählt und deren Anwerbung vorbereitet. Die Motive für eine Spitzeltätigkeit waren mannigfaltig. Selbstdarsteller waren die lohnenswertesten Subjekte. Andere hofften auf Vorteile und nur noch wenige glaubten an die Mär, die sie in den Zeitungen lasen. Wenn man den Richtigen endlich gefunden hatte wollte man ihn haben. Das erste Gespräch entschied immer darüber, ob es eine Fortsetzung geben würde. Die Gesprächslegenden enthielten ein Sammelsurium an Vorwänden und schlossen auch das Mittel der Lüge nicht aus. Viele IM begriffen die Zusammenarbeit als eine besondere Wertschätzung und besserten so ihr Selbstwertgefühl auf. Andere sahen in der Zusammenarbeit eine Möglichkeit sich einen Widersacher vom Halse zu schaffen. Auch wenn die Akten manchmal einen anderen Eindruck erwecken, aber zwischen dem Führungsoffizier und dem Spitzel gab es nie ein wirkliches Vertrauensverhältnis. Die Spitzel waren immer nur Mittel zum Zweck. Die aufgefundenen IM-Akten bilden zwar grundsätzliche Zusammenhänge ab, doch ihre Wahrheit erschließt sich nur dem, der den konkreten Intuitionen des Führungsoffiziers zu folgen vermag und seine Persönlichkeit in die Bewertung mit einbezieht.
Vertrauen Sie jeder Stasiakte?
Der IM, der Spitzel, war immer zuerst eine missbrauchte Person. Für eine Spitzelarbeit konnte man sich nicht bewerben. Vor den Anwerbungen gab es immer einen geheimen Plan oder einen Anlass, der für eine Erpressung herhalten konnte. Wie und warum sich Menschen in eine solche Spitzeltätigkeit einließen steht in den Akten, vorausgesetzt man kann sie auch richtig lesen. Die internen Kontrollen der Stasi waren zwar angewiesen aber in der Regel nur stumpfe Instrumente. Wenn die Stasi-Führungsoffiziere nach dem Treff zusammenfassenden Berichte schrieben, waren das oftmals nur Interpretationen. Es gab überschießende Phantasien, auch Lügen und erfundene Spitzelakten gab es auch. Mangels Redebereitschaft der hauptamtlichen Offiziere ist es recht und billig geworden, die von der Stasi ehemals missbrauchten Spitzel allein öffentlich zu brandmarken. Anderseits zeigt sich eine moralische Verkommenheit, wenn ein Führungsoffizier seinem früheren nun in Bedrängnis geratenen Informanten nicht beisteht.
Erst kürzlich kam jemand zu mir, der von mir gehört hatte. Nach der Inaugenscheinnahme einer IM-Akte konnte ich nur zur Mäßigung raten. Sein Bruder und er gehörten zu einer Clique, die anders leben wollten. Sie entzogen sich den vorgeschriebenen Normen und wurden deshalb zunehmend reglementiert. Kontrollen, Aufenthaltsbeschränkungen und Polizeigewahrsam waren die Folge. Sie setzten sich zur Wehr und begannen immer mehr ihren Unmut an die Wände zu sprühen und alles ging seinen Gang. Die Folge Haft und Ausreise. Erst viel später, weit nach 1989, fand sich eine Stasi Akte. Bruderverrat, denn einer von den Beiden geriet in die Fänge der Stasi und war der Situation nicht gewachsen. Die abgehefteten Berichte könnte man durchaus als Verrat bezeichnen, wenn da nicht der Umstand wäre, dass sie alle unter Zwang entstanden waren. Der Vorwurf, dass sich da einer wie ein klassischer Spitzel verhalten hätte entbehrt jeglicher Grundlage. Das von der BStU übergebene Sammelsurium von Blättern folgt nicht im Geringsten dem Reglement einer Stasi IM Akte. Ein Unterleutnant, den man später aus disziplinarischen Gründen aus der Stasi entfernte, hatte eine Vorlaufakte angelegt. Eine Werbung mit Verpflichtungserklärung und dem anderen Brimborium konnten nicht aufgefunden werden. Die von ihm ausgewiesenen Kontaktgespräche erzwang er durch Vorladungen ins Wehrkreiskommando und betrieblichen Kaderabteilungen. Eine Trefftätigkeit in geheimen Räumlichkeiten gab es nicht. Bis auf einen belanglosen durch den Bruder verfassten Zettel gibt es durch den Stasi Offizier nur selbst verfasste Gesprächszusammenfassungen. Geldzuwendungen hat es gegeben, aber Quittungen, ein beliebtes Erpressungsmittel der Stasi, fehlen. Trotz exakter Orientierungen für die Laufzeit solcher Akten, „dümpelte“ jene über Jahre im Panzerschrank des Mitarbeiters dahin bis sie mit dem Vermerk „lehnt eine Zusammenarbeit ab“ im Archiv verschwand. Schlampig arbeitende Vorgesetzte hatten wahrscheinlich eigene Interessen, als sie sich nicht mit der schlampigen Arbeitsweise des Stasi Unterleutnants auseinandersetzten. Allein das Erscheinungsbild solcher Akten lassen berechtigte Zweifel am Wahrheitsgehalt aufkommen. Bitter nur, dass dieser Fall so undifferenziert in die Medien gelangte. Der Bruder ist gezeichnet und es wird wahrscheinlich niemanden geben, der für ihn öffentlich eine Fürsprache einlegt.
Empfinden Sie Reue?
Von einem ehemaligen Stasi- Offizier verlangt man zwei Bekenntnisse. „Du musst laut und vernehmlich sagen, dass du bereust und musst sagen, dass die DDR ein Unrechtsstaat war“. Schon im Ansatz zeigt sich, dass es so nicht um eine irgendwie geartete „Aufarbeitung“ gehen wird.
Seit 2011 ist meine Lebensgeschichte öffentlich. Printverlage konnte ich nicht gewinnen und so blieb mir nur Amazon. Lesungen habe ich bis heute vermieden. So ist wohl mein Zeitzeugenbericht nur eine Anregung sich mit seiner eigenen Biografie auseinanderzusetzen. Es wird bestimmt interessieren, wie es mir damit ergangen ist. Es gab Podiumsdiskussionen mit Roland Jahn, Lutz Rathenow und Ulrike Poppe und vielleicht 20 Beiträge in unterschiedlichen TV- Produktionen. „Einer von 100.000, der redet“ wurde landauf landab geschrieben. Man könnte nun meinen, dass mein Telefon ohne Unterlass tönte und das Postfach an seine Grenzen geriet. Nichts von alledem. Meine Zugehörigkeit zur Stasi hat in den hinterlassenen Akten bestimmt deutliche Spuren hinterlassen, auch bin ich mir bewusst, dass ich bereits als IM genügend zu Protokoll gab. Gewiss habe ich auch aus meinen unterschiedlichen Dienststellungen heraus direkt oder indirekt an Verfolgung und Überwachung teilgenommen, aber dennoch blieben substantiierte Schuldvorwürfe aus. Ich verkündete, dass jeder ohne meine Genehmigung alle meine Akten bei der BStU (Jahn-Behörde) einsehen darf. Auch zu diesem Angebot gab es keine Reaktion. Ich will über die Gründe nicht spekulieren.
Bereuen und Versöhnen sind sehr persönliche Angelegenheiten. Ich habe zu verschiedenen Anlässen Menschen kennengelernt, die Stasi Repressalien ausgesetzt waren. Zu einigen habe ich freundschaftliche Verbindungen. Das ist nur in einem respektvollen Umgang möglich. Die Fragen nach Reue waren nie Gegenstand unserer Gespräche. Das was ich zu bereuen habe ist, dass ich im Zweifel nicht die Kraft gefunden habe, mich zu widersetzen.
Sie bezeichnen sich selbst als „Stasi Täter“, wie betreiben Sie Wiedergutmachung?
Es gibt offensichtlich keine exakte wissenschaftliche Bestimmung für den Begriff der Aufarbeitung. Ich verstehe darunter einen nüchternen Diskurs. Meiner diente bisher nur meiner eigenen Selbstbestimmung und Selbstfindung. Ich habe in den letzten vier Jahren alles getan mich diesem Diskurs zu stellen. Eine Deutungshoheit habe ich dabei nie beansprucht. Die Ausbreitung und Beschreibung meiner gesamten DDR-Biografie nebst einer genauesten detaillierten Beschreibung innerer Stasi Mechanismen haben nicht dazu geführt, dass ich zu einem erwünschten Zeitzeugen geworden bin. Mittlerweile halte ich das auch für mich nicht mehr für notwendig, weil die gängige Praxis zur Beschäftigung mit der DDR Geschichte längst einen gesellschaftsfähigen Konsens gefunden hat.
Fairerweise muss ich zugestehen, dass meine bisherigen Einladungen zu Podien und anderen öffentlichen Veranstaltungen für mich nie zu einer Rechtfertigungsveranstaltung geraten sind. Ich selbst bin nun in einer für mich komfortablen Situation angekommen. Die Aufarbeitung meiner eigenen Geschichte kann ich für abgeschlossen ansehen und mit dem Makel einstmals bei der Stasi gewesen zu sein kann ich gut leben. Es werden vielleicht noch zwanzig Jahre vergehen bis all jene dahin gegangen sind, die auch gute Erinnerungen an die DDR haben und sich mit dem Beitritt 1990 nicht abfinden konnten. Auch wenn das autoritäre Sozialismusmodell scheitern musste, man konnte aber zumindest in Teilen erfahren, fühlen und ahnen, wie eine gesellschaftliche Alternative auf deutschem Boden hätte aussehen können. Auch die weitere mediale Vorführung von tatsächlichen und haltlosen Stasi Skandalen wird daran nichts ändern, zumal die für die Öffentlichkeit fast keine Bedeutung mehr haben. Auch wird es in den linken Ecken immer derer satt geben, die meinen, dass eine DDR ohne Stasi ein wahres Füllhorn der Wohltaten gewesen wäre. Ich habe für mich erreicht die mir anerzogene Indoktrination zu überwinden und halte mich schon deshalb jeglichen politischen Aktivitäten fern. Es ist auch heute schon lange wieder gesellschaftsfähig geworden den Menschen Entscheidungen nach dem „Entweder - oder - Prinzip“ abzuverlangen.
Gibt es nicht eine persönliche Schuld?
Während meines ersten Kontaktes zur Stasi stellte mir der Offizier eine Frage nach meinem Freund. Er wollte wissen, ob der über ein Leben in der BRD gesprochen hätte, was ja bedeutet hätte, dass er flüchten wolle. Ich wusste davon und habe das preisgegeben. Ich wartete von Gewissensbissen geplagt, dass er zumindest von der Schule abgehen müsse. Nichts von alledem ist passiert. Dieser Verrat hat mich viele Jahre immer wieder beschäftigt. Wir haben uns aus den Augen verloren und erst in den neunziger Jahren bei einem Klassentreffen wieder getroffen. Ich fragte ihn, ob er in seiner Stasi-Akte meinen Bericht gefunden hatte. Er war erstaunt. Es gäbe zwar eine Akte, die aber erst weit nach unserem gemeinsamen Schulbesuch angelegt wurde. Meine eigenen Stasi-Akten gaben später Auskunft. Mein erster Verrat war ein Test, um mich zu prüfen.
Aber durch mein eigenes direktes Zutun ist später ein Mensch zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt worden. Wolf Georg Frohn hat sich durch einen entfernten Verwandten, der für die CIA tätig war, anwerben lassen und Forschungsunterlagen des Kombinates Zeiss Jena an diesen weitergegeben. 1986 ist er nach sechs Jahren Haft auf der Glienicker Brücke ausgetauscht worden. Es ist ihm zu danken, weil er so die Verhältnisse in der DDR mit destabilisieren half. In meinem Stasi-Leben war das der einzige Stasi-Vorgang, den ich persönlich zu verantworten habe. Auch ich war davon besessen jede sich bietende Gelegenheit zu nutzen Menschen nachzuspüren. Wer das genauer wissen will, dem gebe ich hiermit meine Erlaubnis mein Vorgangsbuch bei der BStU einzusehen.
Wie können Sie ohne Stasi leben oder fühlen Sie sich gar als ein Opfer?
Es ist richtig, dass mir solche Vorwürfe schon gemacht wurden aber mitnichten dieses Gefühl ist mir fremd. Wenn ich heute für mich resümiere, dann war es genau dieses Leben mit all seinen Brüchen, dass mich zu dem machte, was ich heute bin. Ich habe mit falschen Überzeugungen gelebt und habe sie überwinden können. Für mich offensichtlich, und mein „Selbstversuch“ hat mir das bestätigt, habe ich trotz meiner Zugehörigkeit zu einem Unterdrückungsapparat immer Gestaltungsmöglichkeiten gefunden, die es mir möglich gemacht haben grundsätzlich anerzogene Tugenden zu wahren. Es hat in meinem Leben eher aus meiner eigenen Verfassung heraus viele Situationen gegeben in denen ich mich angepasst habe und so in Zwänge kam, die fremdbestimmt waren. Aber es gab für mich nach dem Ende der DDR auch viele Versuchungen und Verlockungen mich dem herrschenden Zeitgeist zu unterwerfen. Ich habe diesen letztendlich deshalb widerstanden, weil mir klar geworden ist, dass dies zur Wiederholung alter Lebensmuster geführt hätte.
Bernd Roth, geb. 1951, wurde 1967 zum inoffizieller Mitarbeiter des MfS im Bezirk Gera und 1973 Hauptamtlicher Mitarbeiter der Stasi. 1990 erfolgte seine Entlassung im Range eines Majors. Er ist Autor des Buches "Externer Link: Berichte eines STASI-Täters oder Das Leben ist nur ein Gefühl", erschienen in der Kindle Edition.