"Es lebe die Oktoberrevolution 1989"
Gesammelt vom MfS - Parolen der Friedlichen Revolution in der DDR
Holger Kulick
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Am 9. Oktober 1989 demonstrierten in Leipzig mehr als 70.000 Menschen für Reformen in der DDR. Erstmals griffen SED und Stasi nicht ein - die Friedliche Revolution in der DDR nahm ihren Lauf. Landesweit dokumentierte die Geheimpolizei Stasi ab diesem Zeitpunkt rund 1.200 unterschiedliche Rufe und Transparente, darunter auch immer lauter werdende Rufe nach Wiedervereinigung. Anfangs wurden sie noch indirekt formuliert. Eine komplette Stasi-Akte zum Nachlesen als ein zeithistorisches Dokument.
Dass die meisten Demonstrierenden im Herbst 1989 nur auf Wortgewalt und auf die Symbolik brennender Kerzen setzten und nicht wie befürchtet, auf eine gewaltsame "Konterrevolution", beschäftigte auch die DDR-Geheimpolizei, die Interner Link: Staatssicherheit. Deren Feindbilder zerstoben. Noch am 7. Oktober waren an zahlreichen Orten DDR-Sicherheitskräfte und Wasserwerfer massiv gegen Demonstrierende vorgegangen, doch auch unter den Einsatzkräften wuchs daran Kritik. Ungefähr ab Mitte Oktober '89 ließen SED und Stasi Demonstrationen weitgehend gewähren. Eine Schlüsselrolle spielt dabei der Interner Link: 9. Oktober 1989. An diesem Tag gingen in Leipzig etwa 70.000 Menschen auf die Straße um für Reformen zu demonstrieren. Polizei, MfS und Betriebskampfgruppen standen zwar in Bereitschaft, aber griffen nicht ein.
Rund 1.200 dokumentierte Parolen
In den Folgewochen der "Friedlichen Revolution" beobachtete das MfS die Demonstrierenden nur - und notierte dabei rund 1.200 unterschiedliche Parolen. Ein MfS-Mitarbeitender der zentralen Auswertungs- und Informationsstelle des Ministeriums für Staatssicherheit (ZAIG) übertrug die aus der gesamten DDR an die MfS-Zentrale gemeldeten Slogans handschriftlich in eine blaue Aktenmappe mit der Kennziffer ZAIG 17084. Im Oktober und November 1989 füllte er 167 gelbliche Seiten mit Parolen, wie beispielsweise: "Erst Stasi abbauen, dann wächst Vertrauen!", "Nie mehr Angst, Betrug und Bevormundung!", "Kein Personenkult mehr!", "Politik ab jetzt öffentlich!", "Mehr Demokratie als Hierarchie!", "Vorwärts zu neuen Rücktritten!", "Die Zeit des Schweigens ist vorbei" und "Mauer ins Museum!" (BStU, MfS, ZAIG 17084, Bl. 1-167). Nach dem Mauersturz am 9. November ebbt die Aufzählung ab.
Die größte Vielfalt wurde bei Parolen gegen die SED und ihr Machtsystem, gegen einzelne Partei-Funktionäre und gegen die Stasi registriert, darüber hinaus bei Forderungen nach Demokratie, freien Wahlen und für die Zulassung oppositioneller Gruppen.
"Gegen Grenzsicherung"
Zunehmend wurde auch der Ruf nach der Abschaffung der Mauer laut. Den schlichte Parole "Die Mauer muss weg" registrierte die Stasi in 16 Orten. Insgesamt erfasste sie 67 mal Parolen "gegen Grenzsicherung", wie sie das Kapitel überschrieb und an 25 Orten Parolen, die direkt eine Wiedervereinigung einforderten.
Das erste Mal tauchte laut MfS-Liste der Ruf nach Wiedervereinigung am 21.10.89 indirekt in Plauen auf. Auf einem Protest-Schild wurde der erste und letzte Buchstaben von "DDR" gestrichen, so dass deutlich nur das Autokennzeichen D für Deutschland übrig blieb.
Im Verlauf des Novembers 1989 wurden dann die Rufe nach einer Wiedervereinigung auch anderswo lauter. Den Slogan "Deutschland einig Vaterland" hielt das MfS beispielsweise erstmals am 4.11. in Suhl fest, fünf Tage vor dem Mauersturz. In Leipzig registrierte das MfS diese Parole erst vier Tage nach Öffnung der Grenze, am 13.11. und in Löbau am 17.11.1989. Aber auch der Europa-Gedanke floss ein. In Halle wehte laut Stasi bereits am 30.10. bei einer Demo eine schwarz-rot-goldenen Fahne, die in ihrer Mitte das Symbol des europäischen Sternenkreises zeigte, anstelle der DDR-Enbleme Hammer und Zirkel.
Das MfS-Dokument enthält zwar nicht alle im Herbst 1989 laut und sichtbar gewordenen Parolen - Fotografen und Museen dokumentierten noch weitere - dennoch ist die Stasi-Sammelakte für Zeithistoriker ein historischer Schatz: Interner Link: Parolen der Friedlichen Revolution in der DDR (22 MB - etwas längere Ladezeit möglich)
Stasibedienstete und verdeckt eigesetzte Spitzel notierten oder fotografierten die Slogans der DDR-Demokratiebewegung nicht nur bei Demonstrationen vor Ort, sondern schreiben sie mitunter auch vom Fernsehbildschirm ab, so am 4.11.89 bei der damals größten Kundgebung der Opposition in der DDR auf dem Ostberliner Alexanderplatz, die erstmals live im DDR-Fernsehen verfolgt werden konnte. Öffentlicher Protest mit vorab nicht genehmigten Parolen war bis dahin weitgehend undenkbar in der DDR. In der Regel schritten in solchen Fällen Polizei und Stasi umgehend ein und nahmen Demonstrierende wegen angeblicher Herabwürdigung von Staat und Partei oder wegen Störung der öffentlichen Ordnung fest. Doch ab Mitte Oktober 1989 geschah dies kaum noch, so dass sich von Demonstration zu Demonstration mehr Menschen trauten, eigene Forderungen zu formulieren.
In ihrer "Sammelmappe" hielt die Stasi auch die Orte fest, in denen ihr politische Parolen erstmals auffielen, sie wurden mit Bleistift hinter den sorgfältig mit blauer Tinte protokollierten Slogans verzeichnet. So notierte das MfS in Bitterfeld am 31.10.89 auch ausländerfeindliche Sprüche inmitten der Demonstrierenden ("Deutschland den Deutschen" und "Schwarze raus aus der DDR"). Und in Meißen hieß es am 14. November 89 analog zur russischen Oktoberrevolution 1917: "Es lebe die Oktoberrevolution 1989".
In folgende Kapitel hat das MfS die Parolen geordnet, die im Oktober und November 1989 von den Zuträgern der DDR-Geheimpolizei wahrgenommen wurden:
- Forderungen nach Trennung von Partei und Staat (141 unterschiedliche Parolen) - Auflösung MfS (126) - Misstrauen gegen Staat und Partei (84) - Kritik an Einzelpersonen aus der SED- und DDR-Führung(81) - Wahlrechtsreformen und Neuwahlen (67) - Allgemeine Forderungen nach Demokratie, Reformen und Umgestaltung (59) - Für die Zulassung (antisozialistischer) Bewegungen (54) - Gegen Mauer und für Wiedervereinigung (45) - Forderungen nach Bestrafung von Verantwortlichen (43) - Gegen die Wahl von Egon Krenz als Nachfolger von Staats- und Parteichef Erich Honecker (43)
- Für die Weiterführung begonnener Veränderungen (38) - Aufforderung zum Dialog (36 notierte Parolen) - In Kirchen notierte Parolen (26) - Reisefreiheit (26) - Umweltschutz (25) - Ökonomische Forderungen (21) - Rechtsstaatlichkeit (20) - Forderungen nach gesellschaftlicher Kontrolle staatlicher Entscheidungen (20) - Bildungspolitik (20) - Abrüstung (20)
- Solidarisierung mit oppositionellen Gruppierungen in sozialistischen Nachbarstaaten (16) - Demonstrationsfreiheit (14) - Veränderungen der Medienpolitik (13) - Ablehnung bestehender Organisationen wegen ihrer Abhängigkeit von der SED (13) - Losungen, die sich an faschistische Parolen anlehnen (12) - Aufforderung zum Verbleiben in der DDR (12)
- Gegen Privilegien (12) - Reaktion auf Reiseerleichterungen (9) - Volksvertretungen/Staatsapparat (7) - Städtebau / Stadtsanierung (7) - Aufgreifen von Losungen aus der Geschichte der Arbeiterbewegung (7) - Gesundheitswesen (6) - Valuta-Devisen (6) - Ablehnung des von der SED angebotenen Dialogs (4) - Bündnispolitik zur Sowjetunion (4) - Jugendpolitik (2) - Gegen Leistungsdruck (1) - Sonstige Losungen (45)
Nachfolgend die komplette Akte zum Bättern und Nachlesen (22 MB):
Der Journalist Holger Kulick ist seit 2015 Mitarbeiter der Bundeszentrale für politische Bildung. Sein Themenschwerpunkt ist Diktaturforschung, in diesem Zusammenhang hat er das Stasi-Dossier der bpb erstellt: Interner Link: www.bpb.de/geschichte/stasi. Bereits 2006 produzierte er in Kooperation von BStU, WDR und bpb die DVD "Feindbilder – Die Fotos und Videos der Stasi". Ab 1983 arbeitete er über Deutsch-deutsches für das ZDF-Magazin "Kennzeichen D", außerdem für ASPEKTE, die Kindernachrichtensendung "logo" und später für das ARD-Magazin Kontraste. Außerdem mehrere Jahre als Korrespondent für SPIEGEL ONLINE sowie als Autor für mehrere Zeitungen, Filmdokumentationen, Fachzeitschriften und Buchprojekte, darunter als Herausgeber für das "Mut-ABC für Zivilcourage", Leipzig 2008 und "Das Buch gegen Nazis", Köln 2010 gemeinsam mit Toralf Staud. Von 2011 bis 2015 arbeitete er in der Internetredaktion der Stasi-Unterlagen-Behörde, davor leitete er fünf Jahre eine Fachwebsite des Magazins "stern" und der Berliner Amadeu-Antonio-Stiftung über Rassismus und Rechtsextremismus in Deutschland.