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Organisierte Misserfolge | Stasi | bpb.de

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Organisierte Misserfolge Die Stasi als unsichtbare Alltagsmacht

Stefan Wolle

/ 6 Minuten zu lesen

Viele Menschen in der DDR hatten das Gefühl einer allwissenden und allmächtigen, aber unsichtbaren Macht ausgeliefert zu sein. Darauf begründete sich die Macht der Stasi, die auch Einfluss auf Lebenswege nahm, Karrieren verhinderte und Menschen "zersetzte".

Aus Sicht der Stasi verdächtige Passanten, heimlich aus einer Herrenhandtasche heraus fotografiert auf einem DDR-Pressfest auf dem Alexanderplatz. (© BStU)

Über der Gesellschaft der DDR lag ein unsichtbares Netz der Gedanken- und Verhaltenskontrolle. Dieses Netz war keineswegs ohne Schlupflöcher, doch es war insgesamt sehr eng geknüpft. Die Stasi war in diesem Überwachungssystem lediglich die ultima ratio, das heißt das letzte Mittel der Staatsmacht, abweichendes Denken oder Verhalten zu bestrafen. Das MfS registrierte alle "operativ bedeutsamen" Hinweise und legte sie in Akten nieder. Dies konnten Vorkommnisuntersuchungen sein, Operative Personenkontrollen (OPK) oder Operative Vorgänge (OV), die alle sehr sorgfältig geführt und in Analysen zusammengefaßt wurden. Das MfS realisierte diesen Informationsbedarf vor allem durch ihr Netz heimlicher Informanten, parallel aber auch durch Parteiberichte, Berichte und Protokolle der Massenorganisationen wie der FDJ und des FDGB, durch Berichte und Meldungen über "Besondere Vorkommnisse" (BV) staatlicher Organe aller Art sowei durch mündliche Auskünfte der Funktionäre und staatlichen Leiter.

Besondere Vorkommnisse

Bei solchen Besonderen Vorkommnissen konnte es sich um vielerlei handeln: Disziplinverstöße, kleinere Eigentumsdelikte, Trunkenheit am Arbeitsplatz, Verstöße gegen die Gebote der sozialistischen Moral, kritische Äußerungen, Westkontakte, Nichtteilnahme an gesellschaftlichen Aktivitäten, kirchliche Verbindungen, Besitz antisozialistischer Literatur, Erzählen politischer Witze, "organisiertes" Abhören von Westsendern oder Empfang von Westfernsehen, "feindlich-dekadentes Äußeres", d.h. allzu westlich-modisches Auftreten. Alle diese Verstöße wurden in den siebziger und achtziger Jahren strafrechtlich kaum noch geahndet – oder jedenfalls nur dann, wenn man der betreffenden Person aus anderen Gründen etwas anhängen wollte. Die Bewertungsmaßstäbe waren außerordentlich diffus und nirgendwo schriftlich niedergelegt, gerade deswegen aber für den Betroffenen oft kreuzgefährlich. Sehr schnell ging es um den Ausbildungs- oder Studienplatz, eine erstrebte Anstellung oder Beförderung, eine Genehmigung zu einer Westreise, die Einstufung als Reisekader oder andere kleine und große Vorteile in der Privilegiengesellschaft.

Besondere Maßstäbe galten für Mitglieder oder gar Funktionäre der SED sowie für weitere Führungskader. Sie unterlagen einer strengen Disziplin, die sogar das Eheleben und andere persönliche Dinge betraf. Ein Absturz aus einer höheren Funktion, gar ein Ausschluss aus der Partei war praktisch ein lebenslanges Stigma, das jeden weiteren beruflichen Aufstieg dauerhaft verhinderte oder zumindest langfristig erschwerte. Zudem herrschte grundsätzlich eine Art Sippenhaft. Für eine Republikflucht beispielsweise wurden alle Angehörigen ersten Grades dauerhaft mit erheblichen Karriereeinschränkungen bestraft. In allen diesen Fällen aber überließ die Stasi die konkreten Maßnahmen den zuständigen Institutionen, den Schulen und Hochschulen, Betrieben, wissenschaftlichen Einrichtungen bzw. den Massenorganisationen und der SED. Oft findet sich in den Akten der Hinweis "erzieherische Maßnahme einleiten!" oder "Vorfall parteimäßig klären!". Dann oblag die Disziplinierung dem "sozialistischen Kollektiv", der FDJ-Gruppe oder der SED-Parteigruppe. Das MfS griff in die Vorgänge in der Regel erst ein, wenn andere Mittel der Repression erschöpft waren.

Überprüfung

Das heißt nicht, dass Stasi-Überprüfungen für den Betroffenen folgenlos waren. Grundsätzlich erforderten alle Bestätigungen zum Reisekader oder die Übernahme von sicherheitsrelevanten Funktionen eine OPK (Operative Personenkontrolle), die umfassend das Privatleben des Kandidaten ausforschte. Die Besetzung von Leitungspositionen erfolgte pro forma durch die zuständige staatliche Leitung, faktisch durch die entsprechende Ebene der SED (Betriebsparteiorganisation (BPO), Kreisleitung, Bezirksleitung, ZK-Abteilung, Politbüro), war aber an das zustimmende Votum des MfS gebunden. Oft versuchte die Stasi aus operativen Gründen ihre IM in höhere Positionen einzuschleusen, so z.B. auf Lehrstühle an den Universitäten, wenn sie meinte diese Personen für nachrichtendienstliche Zwecke im westlichen Ausland zu brauchen. Fälle von unmittelbarem Eingreifen des MfS in Personalentscheidungen wurden im Laufe der Jahre immer häufiger. Aber auch die Stasi-Überprüfungen bezogen ihr Material zum erheblichen Teil aus den Mitteilungen von Kaderleitern, staatlichen Vorgesetzten, Abschnittsbevollmächtigen (ABV) der Volkspolizei, Hausgemeinschaftsleitungen (HGL) oder von "zuverlässigen Genossen", die durchaus nicht immer IM sein mussten.

Organisierung beruflicher Misserfolge

Unabhängig davon versuchte das MfS mit konspirativen Methoden in das Leben von Menschen einzugreifen, die sie für gefährlich hielt. In der Regel handelte es sich dabei um Operative Vorgänge (OV). Es ging also um Personen, die einer staatsfeindlichen Tätigkeit verdächtigt wurden, gegen die man aber nicht offen vorgehen wollte oder konnte. Dabei handelte es sich oft um bekannte Dissidenten, Künstler und "kirchenleitende Persönlichkeiten".

Aus einem Maßnahmeplan des MfS in Gera vom 22.4.1981 zum Vorgehen gegen die Junge Gemeinde Jena. U.a. wird die "Zersetzung/Verunsicherung des harten Kerns" geplant. (© Matthias-Domaschk-Archiv)

Viel zitiert wurde seit der Erstveröffentlichung 1990 die Richtlinie 1/76 "Zur Entwicklung und Bearbeitung Operativer Vorgänge (OV)". Darin heißt es: "Maßnahmen der Zersetzung sind auf das Hervorrufen sowie die Ausnutzung und Verstärkung solcher Widersprüche bzw. Differenzen zwischen feindlich-negativen Kräften zu richten, durch die sie zersplittert, gelähmt, desorganisiert und isoliert und ihre feindlich-negativen Handlungen einschließlich deren Auswirkungen vorbeugend verhindert, wesentlich eingeschränkt oder gänzlich unterbunden werden." Zunehmend kamen Zersetzungsmaßnamen in der Spätphase der DDR zur Anwendung, als sich Fälle häuften, bei denen man zu Recht annahm, eine formale strafrechtliche Verfahrensweise würde die Popularität der Person durch die westlichen Medien nur weiter erhöhen. Die DDR war gehalten auf ihre internationale Reputation zu achten.

"Bewährte Formen der Zersetzung sind" heißt es in der Richtlinie:

  • systematische Diskreditierung des öffentlichen Rufes, des Ansehens und des Prestiges auf der Grundlage miteinander verbundener wahrer, überprüfbarer und diskreditierender sowie unwahrer, glaubhafter, nicht widerlegbarer und damit ebenfalls diskreditierender Angaben;

  • systematische Organisierung beruflicher und gesellschaftlicher Mißerfolge zur Untergrabung des Selbstvertrauens einzelner Personen;

  • zielstrebige Untergrabung von Überzeugungen im Zusammenhang mit bestimmten Idealen, Vorbildern usw. und die Erzeugung von Zweifeln an der persönlichen Perspektive; …

  • die Verwendung anonymer oder pseudonymer Briefe, Telegramme, Telefonanrufe usw.; kompromittierender Fotos, z.B. von stattgefundenen oder vorgetäuschten Begegnungen;

  • die gezielte Verbreitung von Gerüchten über bestimmte Personen einer Gruppe, Gruppierung oder Organisation;

  • gezielte Indiskretionen bzw. das Vortäuschen einer Dekonspiration von Abwehrmaßnahmen des MfS ..."

Der letzte Punkt meint, die Verbreitung des Gerüchts oder von gefälschten Belegen, dass ein Mitglied einer oppositionellen Gruppierung Stasi-Spitzel sei. Von der Durchführung solcher Maßnahmen können die früheren Aktivisten der Bürgerrechtsbewegung abenteuerliche Geschichten erzählen. Auch in den Akten finden sich zahlreiche Belege für Zersetzungsmaßnahmen. Allerdings ist die praktische Wirksamkeit solcher Maßnahmen sehr umstritten. Oft brüsteten sich die beauftragten IM gegenüber ihren Führungsoffizieren mit erfolgreichen Aktionen, die als Erfolg nach oben weiter gemeldet wurden. In der Realität wurden die Zersetzungsmaßnahmen von den Betroffenen oft durchschaut oder sie liefen ins Leere.

Gesellschaft und Stasi

Dennoch hatten viele Menschen das Gefühl einer unsichtbaren aber allwissenden und allmächtigen Macht ausgeliefert zu sein. Gerüchte über die Stasi-Mitarbeit von Freunden, Kollegen, Nachbarn und sogar Familienangehören gehörten zum Alltag der Diktatur. Auch ohne gezielte Maßnahmen des MfS-Apparates war das Misstrauen, die Furcht vor offenen Meinungsäußerungen und Verdächtigungen verbreitet. Ein extremes Symptom war die so genannte "Stasi-Macke". Es kam vor, dass sensible Mitmenschen, überall das Wirken der Stasi vermuteten. Sie meinten, dass ihre Post geöffnet worden sei, identifiziertes jedes Knacken am Telefon als Abhöraktion, verdächtigten Freunde und Kollegen der Spitzeltätigkeit. Dass sie damit gegen ihren Willen das Geschäft der Stasi betrieben, war schon damals allen bewusst, doch gab es aus dem Teufelskreis der gegenseitigen Verdächtigungen kaum ein Entrinnen. Gerade die Mischung aus Wahnsinn und bürokratischer Methodik, die dem Stasi-System anhaftete, das hoffmanneske Doppelgängertum des Spitzelstaates, das Halbdunkel von Gerüchten und Mythen, die unheimlichen Mechanismen der Menschenbeherrschung führten zu einer Vergiftung der Gesellschaft. In einer schizophrenen Gesellschaft aber gibt es zwischen Wahnvorstellungen und Wirklichkeit eine fließende Grenze.

Befreiungsakt Friedliche Revolution. Demonstrantinnen und Demonstranten bei einer Montagsdemonstration in Leipzig im Herbst 1989 (© wir-waren-so-frei.de / Merit Schambach)

Das Schwergewicht der politischen Repression im Alltag lag entgegen dem Grundtenor der öffentlichen Debatten nach 1990 nicht bei der Stasi sondern bei der SED, den Massenorganisationen und den staatlichen Institutionen. Allerdings beruhte die Wirkung der Disziplinierungsmaßnahmen auf dem Wissen, dass hinter dem kleinsten und unbedeutendstem Funktionär des Staatsapparates oder der Partei in letzter Konsequenz die Allmacht der Stasi stand. Niemand kannte die unsichtbare Macht der Stasi genau. Das verbreitete Angst und Unsicherheit, war deswegen aber auch ein wohlfeiles Alibi für Leisetreterei und Anpassung. Nach 1989 diente die Überbewertung der Stasi im Repressionssystem der DDR vor allem der Entlastung der vielen Mitschuldigen, die durch ihr Alltagsverhalten die Effizienz der flächendeckenden Überwachung möglich gemacht hatten.

Der Historiker Stefan Wolle ist Mitarbeiter des Externer Link: Forschungsverbund SED-Staat der Externer Link: Freien Universität Berlin und leitet das DDR-Museum in Berlin. Er hat zahlreiche Grundsatzbücher über das Herrschaftssystem in der DDR verfasst, auch veröffentlicht von der bpb. Z.B.: Aufbruch nach Utopia: Alltag und Herrschaft in der DDR 1961–1971. bpb, 2011, Die heile Welt der Diktatur. Alltag und Herrschaft in der DDR 1971–1989, bpb 1099