Memorial - Diffamiert als "ausländische Agenten"
Die Geschichte der Verfolgung von „Memorial“ in Russland unter Wladimir Putin
Jens Siegert
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Jens Siegert aus Moskau über die Geschichte der Verfolgung von „Memorial“ als Russlands ältester unabhängiger NGO. Sie versteht sich als Gewissen und historisches Gedächtnis eines demokratischen Russlands. Nun gelten der Dachverband "Memorial International" und Memorials Menschenrechtszentrum als "liquidiert", wenn zwei am 28. und 29. Dezember 2021 in Moskau ergangene Urteile Bestand haben.
Ist Memorial nun verboten? Ja und nein. Memorial ist eine Konföderation von etwas mehr als 60 Organisationen, die meisten davon in Russland, aber beispielsweise auch in der Ukraine, in Deutschland, in Italien, in Tschechien und in Frankreich. Sie alle sind, mit einer Ausnahme, Mitglieder oder Untergliederungen von Memorial International (MI). Die Ausnahme ist Memorial St. Petersburg, das vor einem Jahr ausgetreten ist, um dem Risiko zu entgehen, mit MI unterzugehen. Nicht sonderlich solidarisch (wie auch in internen Memorial-Diskussionen immer wieder bemerkt), aber (soweit vorerst zu sehen) praktisch weitsichtig.
Alle russischen Memorial-Organisationen (mit Ausnahme von Memorial St. Petersburg) sind noch einmal Mitglied bei Memorial Russland. Der Grund liegt vor allem in der russischen Gesetzgebung, die MI mit ihren ausländischen Mitgliedsorganisationen nicht alles erlaubt, was dem ausschließlich russischen Memorial Russland möglich ist. Hinzu kommt, dass die russische Öffentlichkeit (und mehr noch die Kreml-Propaganda) Interventionen nicht ausschließlich russischer Organisationen zu russlandinternen Fragen in der Regel nicht gutheißt.
Die repräsentativste Memorial-Organisation, auf die sich meist bezogen wird, wenn schlicht von Memorial die Rede ist, MI, dem seit dem Tod des langjährigen Vorstandsvorsitzenden Arsenij Roginskij vor vier Jahren Jan Ratschinskij vorsteht. Er führt einen gegenwärtig 25-köpfigen Vorstand. Zum Vorstand gehören viele Vorsitzende regionaler Memorial-Organisationen, Vorstand und Mitglieder des MRZ und Vertreter/innen nicht-russischer Memorial-Mitgliedsorganisationen. Wie in einer Konföderation üblich, gibt es selbstverständlich mitunter Meinungsverschiedenheiten und unterschiedliche Einschätzungen. Allerdings bemühen sich die Memorial-Mitgliedsorganisationen über den Vorstand von MI um eine konsolidierte Position zu den wichtigsten politischen und rechtlichen Fragen. Bisher gelingt das, trotz der zunehmend gefährlichen Zeiten, recht gut.
Berufung und Weg zum Europäischen Gerichtshof
Wie eingangs geschrieben, sind die beiden am 28. und 29. Dezember 2021 ergangenen Urteile noch nicht rechtskräftig. MI und MRZ werden beide in die Berufung gehen. Dafür haben sie jeweils 30 Tage Zeit. Sollten die Schließungsurteile in der nächsten Instanz bestätigt werden (wovon gegenwärtig auszugehen ist), werden die Urteile rechtskräftig, unabhängig von weiteren juristischen Schritten von MI und MRZ, die beide erklärt haben, letztlich bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu gehen. Solange die Urteile nicht rechtskräftig sind, arbeiten MI und MRZ weiter wie bisher.
Doch auch, wie es danach weitergeht (weitergehen kann) ist noch unklar. Zwar liegen auch die schriftlichen Urteilsbegründungen inzwischen vor. Das Gericht hat aber nicht erklärt, was mit dem Besitz von MI passieren soll. Auch die Frage, was das Gericht unter Untergliederungen versteht, die im Urteil ausdrücklich ebenfalls liquidiert worden sind, bleibt unklar.
Überblick: Die Geschichte, Bedeutung und Verfolgung vom Memorial
Der Name Memorial („Denkmal“ und auch "Gewissen") ist Programm. Es geht um Erinnerung. Erinnerung an die finstersten Momente in der sowjetischen (und damit auch der russischen) Geschichte des 20. Jahrhunderts, in erster Linie an die stalinistischen Verbrechen an der eigenen Bevölkerung.
Gegründet wurde Memorial gewissermaßen dreimal. Einmal 1987, als noch nicht klar war, wohin die von Michail Gorbatschow ausgerufenen Perestroika und Glasnost führen würden. Das war eine informelle Gründung. 1987 durfte es in der Sowjetunion noch keine vom Staat (sprich: der Kommunistischen Partei KPdSU) unabhängige Organisationen geben. Im Januar 1989, kurz vor den ersten wirklich freien Parlamentswahlen, folgte dann die formale Gründung mit dem ehemaligen Dissidenten und Friedensnobelpreisträger Andrej Sacharow an der Spitze. Dies geschah auf einer Welle breiter Unterstützung aus der Bevölkerung. Millionen Menschen gingen unter dem Motto „Wir wollen wissen“ auf die Straße. Sie wollten wissen, was unter Stalin mit ihren Angehörigen, Freund*innen und Kolleg*innen passiert war. Sie forderten die Öffnung der Archive. Memorial war ihr Zusammenschluss.
Kurz darauf zerfiel die Sowjetunion und Memorial gründete sich ein drittes Mal. Nun als Memorial International (MI), da sich viele Mitgliedsorganisationen, von Moskau aus gesehen, nun im Ausland wiederfanden. Damit ist das wichtigste Strukturmerkmal Memorials angesprochen. Es handelt sich um ein demokratisches Netzwerk. Die meisten der rund 60 Mitgliedsorganisationen dieses Netzwerks, heute etwa vier Fünftel, befinden sich in Russland, einige in der Ukraine und je eine in Deutschland, Tschechien, Belgien, Frankreich und Italien.
Neben vielen territorialen Memorial-Mitgliedern, wie Memorial Perm, Memorial Woronesch oder Memorial Rjasan gibt es einige fachlich orientierte Memorial-Organisationen, wie das in Moskau angesiedelte Menschrechtszentrum (MRZ), das Wissenschaftlich-Historische Aufklärungszentrum (NIPC) und das St. Petersburger Wissenschaftlich-Historische Zentrum (NIC). Letztere widmen sich der Erforschung politischer Verfolgung in der und durch die Sowjetunion.
Grundlage der Arbeit von Memorial war von Beginn an ein Dreiklang: Die Erinnerung an Menschenrechtsverletzungen in der Vergangenheit, die Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen in der Gegenwart und die soziale Sorge um Opfer politischer Verfolgung. Dahinter steht die Überzeugung, dass es kein demokratisches Gemeinwesen geben kann, in dem eine dieser drei Komponenten fehlt. Gleichzeitig wird hier deutlich, warum Memorial für keinen Staat ein bequemer Partner werden konnte und sein kann. Schon in den 1990er Jahren, noch unter Präsident Boris Jelzin, störte Memorial (wie andere Menschenrechtsorganisationen auch) mit seiner Kritik vor allem am blutigen Bürgerkrieg in Tschetschenien. Allerdings verhinderte das verbindende Band, unter allen Umständen eine kommunistische Renaissance zu verhindern, einen Bruch zwischen dem Netzwerk und der Jelzin-Regierung. Das wurde ab 2000 unter dem neuen Präsidenten Wladimir Putin schnell anders.
Memorial und der russische Staat unter Putin
Der Mitte der 1960er-Jahre im ersten nach-stalinschen Dissidentenprozess angeklagte Schriftsteller Andrej Sinjawskij prägte das Bonmot, er habe „mit der Sowjetmacht ausschließlich stilistische Differenzen“. Memorial bekam mit Putin von Anfang ebenfalls solche „stilistischen“ Probleme. Marina Pawlowa-Silwanskaja, eine Journalistin und enge Freundin von Memorial, sagte in jenen Jahren einmal, Putin erinnere sie an einen KGB-Agenten, der mit einer Akte unter den Achseln durch die Korridore des KGB-Hauptquartiers Lubjanka laufe. Größere stilistische Unterschiede als die zwischen dem quirligen zweistöckigen, roten und für alle offenen Backsteingebäude Memorials und dem massiven, durch Zäune, Gitter und Wachen abgesicherten Gebäudeblocks des sich nun Föderaler Sicherheitsdienst (FSB) nennenden russischen Geheimdienstes am Lubjanka-Platz sind tatsächlich kaum vorstellbar.
Putin und Memorial stießen aber von Anfang an auch in zumindest drei sehr politisch-inhaltlichen Fragen zusammen: in der Frage wie an die sowjetischen Verbrechen erinnert werden sollte, in der Frage der Einhaltung von Menschenrechte im neuen, russischen Staat und in der Frage, wie frei und unabhängig (vom Staat) sich Bürgerinnen und Bürger organisieren und für ihre Interessen einsetzen (dürfen).
Die Notwendigkeit der Erinnerung an die stalinistischen Verbrechen und politische Verfolgung in der Sowjetunion steht dabei nicht grundsätzlich in Frage. Wladimir Putin selbst hat 2007 bei einem Besuch des Erschießungsplatzes Butowo im Süden Moskaus davon gesprochen, dass sich der Terror nicht wiederholen dürfe. In Butowo wurden zwischen August 1937 und Oktober 1938, während des sogenannten Großen Terrors, über 20.000 Moskauerinnen und Moskauer erschossen und verscharrt. Heute erinnert eine Gedenkstätte an sie, die von Memorial, der Russisch-Orthodoxen Kirche und dem Staat gemeinsam geschaffen wurde. Im Moskauer Zentrum weihte Putin 2017 ein zentrales Denkmal zur Erinnerung an die Opfer politischer Verfolgung, die so genannte Klagemauer, ein. Auch an ihrer Konzeption hatte Memorial mitgearbeitet.
Hier beginnt aber auch schon der Unterschied, den wohl der 2017 verstorbene langjährige Memorial-Vorsitzende Arsenij Roginskij in einem 2008 gehaltenen Vortrag zur Erinnerung an den Stalinimus am deutlichsten herausgearbeitet hat: Der russische Staat unter Putin erinnere an die Opfer, aber er verschweige die Täter(schaft). Das präge sich dann so aus: Die Täter haben keine Namen, vor allem aber bleibt unbenannt, dass sie im Namen des sowjetischen Staates handelten, als dessen Nachfolger sich der heutige russische Staat versteht. Der Terror wird so zu einer Art Naturkatastrophe. Schrecklich ohne Frage. Aber die Verantwortung für den Terror bleibt im Ungefähren.
Zusammen mit dem (verständlichen) Kult um den Sieg im Zweiten Weltkrieg, der unter Führung Stalins vom sowjetischen Volk errungen wurde, führe diese Namenlosigkeit dann, so Roginskij, hinter dem Rücken der Akteure zu einer Rehabilitation Stalins, die sich in steigenden Zustimmungsraten für den sowjetischen Diktator ausdrücke. Memorial erinnert immer wieder an diesen Widerspruch und eckt damit an einer staatlichen Geschichtskonzeption an, die vor allem die positiven Seiten betont und Russland als ein immer wieder angegriffenes Land darstellt, dass sich nur verteidige.
Der Tschetschenienkrieg als Dauerthema
Am Beginn von Putins Präsidentschaft steht der zweite Tschetschenienkrieg. Memorial gehörte von Anfang an zu den schärfsten Kritiker*innen der in diesem Krieg begangenen Menschenrechtsverletzungen. Memorial kritisiert auch heute noch das Terrorregime, das der Putin-Verbündete Ramsam Kadyrow in Tschetschenien aufgebaut hat. Memorial verurteilt die mitunter wahllose Einordnung von Menschen und Organisationen als extremistisch oder gar terroristisch. Das betrifft islamistische Organisatioen wie Hizb ut-Tahrir ebenso wie die Zeugen Jehovas, deren Angehörige nach Zählung von Memorial heute die größte Gruppe von Gefangenen in russischen Gefängnissen ausmachen, die allein wegen ihres Glaubens inhaftiert sind.
Memorial unterstützt Opfer politischer Verfolgung juristisch gegen den russischen Staat, wenn es sein muss, bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Und Memorial hat damit Erfolg. Das MRZ hat zusammen mit seinen Anwälten bereits mehr als 100 Verfahren vor dem EGMR gewonnen. Die Memorial-Mitgliedsorganisation Bürgerbeteiligung (russisch: Graschdanskoje Sodejstwije) betreibt ein Netzwerk von über 50 Beratungspunkten für Flüchtlingen und Binnenmigrant*innen.
Wladimir Putin hat, seit er 2000 Präsident wurde, alle gesellschaftlichen Institute unter Kontrolle des Staates und somit seine Kontrolle gebracht. Das war oft nicht leicht und geschah mitunter gegen harten und langanhaltenden Widerstand. Im Fall der unabhängigen russischen Nichtregierungsorganisationen (NGO) stand Memorial ganz vorne in der Front. Memorial gehörte Anfang der 2000er-Jahre zu den Initiator*innen eines Klubs von NGOs namens Narodnaja Assambleja (deutsch etwa: Volksversammlung), der vom Kreml de facto als Verhandlungspartner in NGO-Fragen anerkannt wurde. Memorial focht 2005/2006 an vorderster Front gegen das damals alle NOG-Arbeit erheblich erschwerende NGO-Gesetz.
Memorial organisierte 2011 Trainings für Wahlbeobachter*innen, die die flächendeckende zivilgesellschaftliche Kontrolle der Parlamentswahlen am 4. Dezember des Jahres in Moskau erst möglich machten. Aktivistinnen und Aktivisten von Memorial gründeten in der auf den Protestwinter 2011/2012 folgenden Repressionswelle OWD-Info, das bis heute aufmerksam und minutiös Rechtsverletzungen von Polizei und anderen Sicherheitsorganen registriert, veröffentlicht und den Festgenommenen mit juristischer Hilfe zur Seite steht. OWD-Info ist heute Teil des Moskauer Menschenrechtszentrums MRZ.
So war es kein Wunder, dass Memorial International, ebenso wie das MRZ und eine Reihe anderer Memorial-Organisationen zu den ersten gehörten, die ab 2014 vom Staat zu sogenannten ausländischen Agenten erklärt wurden. Auch dagegen legte Memorial, zusammen mit zahlreichen anderen russischen Menschrechtsorganisationen vor dem EGMR Beschwerde ein.
Memorial und die russische (Zivil-)Gesellschaft unter Putin
Mit seiner Größe, seiner inneren demokratischen Struktur und eines über lange Jahre in der Menschenrechts- und der Erinnerungsarbeit erworbenen hohen moralischen Ansehens ist Memorial zu einer Organisation geworden, die man ohne Übertreibung, in Anlehnung an das Bankenwesen, als systemrelevant bezeichnen kann. Dazu trägt auch die landesweite Präsenz durch die insgesamt knapp 50 regionalen Memorial-Organisationen bei. Nicht nur in Moskau und St. Petersburg hat sich Memorial zu einem Kern der ja mit 30 Jahren noch recht jungen russischen Zivilgesellschaft entwickelt. Das gelang selbstverständlich nicht allein, sondern immer, siehe Narodnaja Assambleja, in enger Zusammenarbeit mit anderen unabhängigen NGOs. Aber die Rolle Memorials ist fraglos eine herausragende.
Dazu hat auch die schrittweise Öffnung der Organisation für andere zivilgesellschaftliche Anliegen eine Rolle gespielt. Während noch in den frühen 2000er-Jahren Umweltschützer*innen, Feministinnen, Verbraucherschützer*innen oder Menschenrechtler*innen weitgehend nebeneinander her lebten und arbeiteten, hat sich das mit der Zeit geändert. Die gemeinsamen Abwehrkämpfe gegen die zunehmende Einengung unabhängigen zivilgesellschaftlichen Engagements durch den Staat haben die NGOs zusätzlich einander nähergebracht.
Memorial unterscheidet sich nach wie vor von den meisten russischen NGOs durch eine ausgewiesene innere demokratische Kultur und Verfassung. Das macht alles manchmal schwieriger und schwerfälliger, wie schon der 25-köpfige Vorstand von Memorial International vermuten lässt. Aber es ist eben auch eine bemerkenswerte demokratische Schule und setzt Maßstäbe für andere NGOs.
Die Zunahme staatlicher Angriffe seit der Wahl 2011
In den 2000er-Jahren war das Verhältnis des russischen Staats gegenüber unabhängigen NGOs noch ambivalent. Die Regierung versuchte sukzessive die NGOs immer stärker zu kontrollieren, war aber gleichzeitig auch oft an der Kompetenz der NGOs in ihren jeweiligen Bereichen und an Zusammenarbeit interessiert. Das galt auch für Memorial. Das änderte sich spätestens nach den Winterprotesten 2011/2012 gegen die massiven Fälschungen der Parlamentswahl am 4. Dezember 2011. Einschneidendste Neuerung des Staates war nun das bereits erwähnte Ausländische-Agenten-Gesetz. Dieses einschneidende Gesetz zielt (erfolgreich, wie Umfragen zeigen) darauf ab, die vom Staat mit diesem Label versehenen NGOs öffentlich zu diskreditieren. Außerdem bindet es große Ressourcen bei den Organisationen für erheblich erweiterte Berichtspflichten. Viele NGOs haben dem Druck nicht standgehalten. Sie haben sich entweder aufgelöst oder auf ausländische Finanzierung verzichtet. Da ein großer Teil der inländischen Finanzen direkt oder indirekt vom Staat kontrolliert werden, lassen sich NGOs so erfolgreich disziplinieren.
Nicht wenige NGOs, darunter Memorial, begannen sich allerdings gegen das Gesetz zu wehren (vor russischen Gerichten weitgehend erfolglos, der EGMR hat noch nicht entschieden). Memorial erklärte, das Gesetz sei aus seiner Sicht verfassungswidrig und verstoße gegen die Europäische Menschenrechtskonvention. Man werde aber, wohl oder übel, wie vom Gesetz gefordert künftig alle öffentlichen Äußerungen mit dem Hinweis versehen, sie kämen von einem ausländischen Agenten. Ab 2019 begann das Justizministerium Memorial für die angebliche Nichtbeachtung dieser Pflicht, vor allem in den sozialen Netzwerken, zu rügen und Geldstrafen zu verhängen. Memorial wehrte sich dagegen vor Gericht, wurde aber in allen bis auf einen der mehr als 20 Fälle zur Zahlung verurteilt. Die gesamte Strafsumme übertraf umgerechnet 60.000 Euro, die Memorial in einer sehr erfolgreichen Crowdfunding-Kampagne einzusammeln gelang. Diese Strafen spielen beim Schließungsantrag der Generalstaatsanwaltschaft gegen Memorial International eine wichtige Rolle. Doch dazu später.
Schon seit den Winterprotesten 2011/2012 hat sich der zum staatlichen Gasriesen Gazprom gehörende landesweite Fernsehsender NTW Memorial zum Ziel auserkoren. Der Sender hat enge Beziehungen zu den Sicherheits- und Justizorganen. Praktisch immer, wenn eine Kontrolle ansteht oder eine Untersuchung von Polizei oder Staatsanwaltschaften, ist NTW informiert und dabei. Das Ergebnis sind sogenannte Reportagen, in denen über Memorial systematische Lügen verbreitet werden. Die beliebteste Anklage sind Memorials Auslandskontakte. Die Behauptung, die Menschenrechtsorganisation würde im Auftrag anderer Staaten und für deren Geld arbeiten, gehört zum Standardrepertoire. Auch bei den jüngsten Angriffen, wie dem Überfall auf eine Filmvorführung bei Memorial durch etwa 30 junge Männer Mitte Oktober 2021, war eine NTW-Aufnahmeteam vor Ort. NTW ist zwar besonders aktiv, steht aber nicht allein. Memorial diskreditierende Berichterstattung gibt es immer wieder in allen staatlichen und staatsnahen Medien.
Vor allem nationalistische Gruppen stört die Erinnerungsarbeit von Memorial. Mit offenkundiger Zustimmung der Behörden, oft, wie es scheint, auch in Absprache mit ihnen, versuchen sie immer wieder Veranstaltungen von Memorial zu stören. Besonders hervor tut sich eine einschlägig bekannte Gruppe namens Nationale Befreiungsbewegung (NOD). 2017 lauerte sie Gästen bei der Preisverleihungszeremonie zu Memorials seit 1999 jährlich durchgeführten Schülergeschichtswettbewerb Der Mensch in der Geschichte. Russland im XX. Jahrhundert auf und bespritzten sie mit dem russischen Desinfektionsmittel Seljonka, das die Haut unabwaschbar grün färbt. Die herbeigerufene Polizei schritt nicht ein.
Das Geschilderte ist nur ein kleiner Ausschnitt der Bedrängungen, denen Memorial seit zehn Jahren ausgesetzt ist. Oft ist es der Staat direkt, oft sind es aber auch private Gruppen oder Einzelpersonen. Selten ist klar, ob sie ausschließlich oder zumindest vorwiegend aus eigenem Antrieb handeln oder von staatlichen Stellen dazu angestiftet oder gar beauftragt wurden. Fast immer aber bleiben Polizei, andere Sicherheitsdienst und die Justiz tatenlos. Nicht selten kommt es zu einer Art Schuldumkehr, wie Mitte Oktober beim Überfall der etwa 30 jungen Männer auf die Filmvorführung. Die Männer konnten ungehindert abziehen. Die herbeigerufene Polizei setzte dagegen die Memorial-Mitarbeiter*innen und die Gäste der Filmvorführung für sechs Stunden fest und befragten sie wie Verdächtige.
Die jüngsten Verbotsanträge
Vom vielleicht finalen Angriff auf Memorial erfuhren die Mitarbeiter*innen während einer internen Versammlung am 11. Oktober 2021, an der ich zufällig auch teilnahm. Inmitten einer regen Diskussion ergriff Jelena Schemkowa, Vorstandsmitglied und Geschäftsführerin von Memorial International, das Wort und las aus einer just eingetroffene E-Mail des russischen Obersten Gerichts vor. Die Generalstaatsanwaltschaft habe die Schließung (im russischen Original: Liquidierung) von Memorial International beantragt und die Verhandlung auf den 25. November 2021 angesetzt.
Kurze Zeit später traf die Nachricht ein, dass vor dem Moskauer Stadtgericht bereits zwei Tage zuvor, am 23. November, wegen einer von der Moskauer Staatsanwaltschaft geforderten Schließung des Menschenrechtszentrums verhandelt werden solle. Allen Versammelten, darunter dem Vorstandsvorsitzenden des Dachverbands Memorial International Jan Ratschinskij, dem langjährigen Vorsitzenden des Menschenrechtszentrums und zahlreichen anderen Vorstandsmitgliedern, wurde schnell bewusst, dass dies ein Generalangriff war und es nun für alle betroffenen NGOs um Leben und Tod gehen sollte.
Wie so oft, gab es wohl niemand im Raum, die oder der so einen Angriff nicht für möglich gehalten hatte. Und trotzdem war und ist die Lage, nachdem es nun passiert war, plötzlich eine andere. Die Vorstellung, dies alles, Memorial, das Archiv, die Bibliothek, den (zumindest einigermaßen) geschützten Raum am Moskauer Karetnyj Rjad zu verlieren, wurde augenblicklich sehr konkret. So wenig irgendjemand der Versammelten sich darüber Illusionen machte, dass der russische Staat Memorial jederzeit vernichten kann, wenn er oder besser seine Führung das ernsthaft will, so wenig, da waren sich die Versammelten einig, durfte das ohne Widerstand geschehen. Zum einen natürlich, weil eben niemand wirklich wissen kann, was der oder die dort oben erreichen wollen und was sie für ihr Wollen in Kauf zu nehmen bereit sind. Zum anderen aber auch, weil es ohnehin ein ständiger Kampf ist, in Putins Russland als Memorial zu bestehen.
Eine vorgegebene Entscheidung?
Entsprechend vorbereitet und entschlossen gingen die Vertreter*innen von Memorial gemeinsam mit ihren Anwältinnen und Anwälten in die beiden Gerichtsverhandlungen. Das Moskauer Stadtgericht vertagte am 23. November 2021, nach ein paar eher lustlosen Scharmützeln, die Verhandlung gegen das MRZ sehr schnell um eine Woche. Wie es aussieht, wollte der Richter erst einmal abwarten, wie das Oberste Gericht vorgehen wollte.
Die erste Verhandlung gegen MI am 25. November dauerte länger. Die im Gerichtssaal anwesenden Memorial-Mitarbeiter*innen hatten den Eindruck, dass die Vertreter*innen der Anklage (Generalstaatsanwaltschaft, Justizministerium und die unter anderem für die Internetkontrolle zuständige Aufsichtsbehörde Roskomnadsor) ernsthaft darauf aus waren, die Schließung zügig über die Bühne zu bringen. Allerdings zeigten sie sich schlecht vorbereitet, einen (aus juristischer Sicht) noch schlechter erstellten Schließungsantrag zu rechtfertigen. Beides kann übrigens darauf hindeuten, dass die Schließung von Memorial längst von oben angeordnet ist, und das Gericht entsprechend instruiert wurde. Warum also sich Mühe machen, wenn ohnehin alles vorentschieden ist?
Taktische Urteils-Vertagungen auf Ende Dezember 2021
Memorials Anwälte begannen, den Schließungsantrag auseinanderzunehmen. Das machte anscheinend Eindruck. Erst beim Gericht und dann auch bei den Anklagevertreter*innen. Es kam zu einer richtigen Gerichtsverhandlung, an deren Ende sich das Gericht auf den 14. Dezember vertagte. Am 14. wurde zwar erneut lange verhandelt, aber wiederum verschoben - auf den 28. Dezember 2021.
Die Hauptverhandlung gegen Memorials Menschenrechtszentrum vor dem Moskauer Stadtgericht wurde ebenfalls vertagt, zunächst auf den 16.12., dann aber schon nach einer halbstündigen Sitzung weiter auf den 23.12.2021 und dann wiederum auf den 29. Dezember. Die Verschiebungen schienen nicht zufällig gewählt, möglicherweise erwartete man zwischen Feiertagen und Jahreswechsel weniger internationalen Gegenwind und hoffte zugleich auf eine Ermüdung von Sympathisant*innen auch im eigenen Land.
Dennoch setzen sich die Proteste nun fort, nachdem Russlands Oberstes Gericht am 28.12. die Auflösung von Memorial International, dem Dachverband der Menschenrechtler verfügt hat und am Folgetag das Moskauer Stadtgericht auch das Rechtsschutzzentrum von Memorial für „liquidiert“ erklärte. Wie zu erwarten, wurde zur Begründung auf unterbliebene Pflichtmarkierungen als „ausländischer Agent“ verwiesen,. Außerdem habe, so lautete das Plädoyer der Staatsanwaltschaft, die Organisation mit seiner Listung von politischen Gefangenen ein negatives Bild des russischen Justizsystems vermittelt und beabsichtigt, das Land zu destailisieren.
Putins zahnloser Menschenrechtsrat
Überraschend hatten die beiden Gerichte zunächst das alljährliche Treffen Wladimir Putins mit Russlands Menschenrechtsrat beim Präsidenten abgewartet. Der Menschenrechtsrat, ein offizielles, aber zahnloses Gremium, dessen Vorsitzender Mitarbeiter der Präsidentenadministration mit Büro und Stab am Moskauer Alten Platz ist, hatte sich in einer Erklärung, wenn auch verklausuliert und auffallend vorsichtig formuliert, gegen eine Schließung von Memorial ausgesprochen.
2021 fand Putins Treffen mit dem Menschenrechtsrat virtuell am 9. Dezember statt. Putin nannte Memorial eine „lange Zeit von allen respektierte Organisation“, bemängelte aber, dass das MRZ „Terroristen“ zur politischen Gefangenen erklärt habe. Außerdem wiederholte er einen alten, wenn auch unzutreffenden Vorwurf, der israelische Geheimdienst habe nachgewiesen, dass Memorial Nazis als Opfer politscher Verfolgung ausgegeben habe. Erwartungsgemäß machte Putin keine konkrete Aussage zu den anhängenden Schließungsverfahren. Die Gerichte mussten also entweder zwischen den Zeilen lesen oder versuchen, sich auf andere Weise abzusichern.
106 Petitionen
Vor den beiden Urteilen vom 28.und 29.12.2021 hatte es noch eine vorsichtig hoffnungsfrohe Lesart gegeben: Offenbar ließ die öffentliche Solidaritätskampagne zugunsten Memorials auch die Gerichte nicht unbeeindruckt. Immerhin verzeichnete Memorial auf seiner Website Mitte Dezember 106 Petitionen, Solidaritätserklärungen, offene Briefe und vieles mehr. Und offenbar war das Signal von oben, Memorial zu schließen, nicht ganz so klar und eindeutig, um die Gerichte nicht doch zu veranlassen, sich vor Vollzug lieber noch einmal rückzuversichern. Die Anweisung, gegen Memorial vorzugehen, könnte auch nicht direkt aus dem Kreml gekommen, sondern eine konzertierte Aktion der drei beteiligten Behörden sein, von denen allen bekannt ist, dass sie keine sonderlichen Freunde von Memorial sind. Andererseits sind, soweit erkennbar, in auch nur einigermaßen einflussreichen Positionen schon längst keine Freund*innen von Memorial mehr übriggeblieben.
Alles Teil eines Theaterstücks?
Eine weniger optimistische Lesart wäre, dass das alles Teil eines Theaterstücks namens unabhängige russische Gerichte war, dass auch das Treffen Putins mit dem Menschenrechtsrat zu diesem Spektakel gehörte und dass dann, als lange geplantes Finale, sowohl Memorial International als auch das Menschenrechtszentrum "liuidiert" worden sind.
Doch das alles kann niemand außerhalb des Kremls wissen, weshalb ich hier nur Vermutungen anstelle (wie gut informiert oder argumentiert die auch immer sein mögen). Entsprechend wird Memorial zusammen mit seinen Anwälten weiter so tun, als handele es sich um ganz normale Gerichtsverhandlungen mit nun anstehenden ganz normalen Revisionsverfahren. Memorial wird auf Recht, Gesetz und einzuhaltende Verfahrensregeln verweisen und diesen Rechtsweg bis zum Schluss beschreiten, wobei am Ende, wie so oft in Russland, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte mit einer Entscheidung stehen dürfte, vor dem Memorial zweifellos Recht bekommen wird. Aber mehr als eine moralische Genugtuung wird das kaum bedeuten.
Zitierweise: Jens Siegert, Memorial - Diffamiert als "ausländische Agenten". Die Geschichte der Verfolgung von „Memorial“ in Russland unter Wladimir Putin, in: Deutschland Archiv, 14.12.2021, zuletzt aktualisiert am 6.1.2022. Link: Externer Link: www.bpb.de/344723. Alle Texte im Deutschland Archiv sind Recherchen und Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar.
Jens Siegert ist Publizist und Politikwissenschaftler und lebt seit über 15 Jahren in Moskau, dort leitete er zunächst das Büro der Böll-Stiftung und ist ständiger Referent der Körber-Stiftung. 2016 bis 2021 übernahm er die Leitung des EU-Projekts »Public Diplomacy. EU and Russia« am Goethe-Institut Moskau. Er hat mehrere Bücher über russischen Alltag publiziert, zuletzt „Im Prinzip Russland. Eine Begegnung in 22 Begriffen“, Berlin 2021. Außerdem schreibt er regelmäßig für die "Russland Analysen" der bpb.