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Analyse: Der Umgang mit Kriegsverbrechen und Kollaboration in der Ukraine: Historisches Erbe und aktuelle Herausforderungen | Ukraine-Analysen | bpb.de

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Analyse: Der Umgang mit Kriegsverbrechen und Kollaboration in der Ukraine: Historisches Erbe und aktuelle Herausforderungen Ukraine-Analysen Nr. 314

Tanja Penter

/ 13 Minuten zu lesen

Die Ukraine verfügt über historische Erfahrungen in der Dokumentation und Aufarbeitung nationalsozialistischer Verbrechen, aus denen das Land im Umgang mit Kriegsverbrechen und Kollaboration im aktuellen Krieg lernen kann.

Soldaten der Wehrmacht vor einem brennenden Haus am 17. Mai 1942 bei der Schlacht um Charkiw. (© picture-alliance/akg)

Zusammenfassung

Zum 80. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs blickt die Ukraine auf Millionen ziviler Opfer deutscher Besatzungsverbrechen zurück, die in der deutschen Erinnerungskultur nach wie vor zu wenig Beachtung finden. Gleichzeitig leidet die ukrainische Zivilbevölkerung tagtäglich erneut unter den verheerenden russischen Angriffen. Die Ukraine verfügt über umfassende historische Erfahrung in der Dokumentation und juristischen Aufarbeitung nationalsozialistischer Verbrechen, die jedoch von den politischen Rahmenbedingungen des Spätstalinismus geprägt waren und ein ambivalentes Erbe darstellen. Aktuell kann die Ukraine aus ihren historischen Erfahrungen im Umgang mit Kriegsverbrechen und Kollaboration lernen, um frühere Fehler zu vermeiden.

Herausgeber der Länderanalysen

Die Ukraine-Analysen werden von der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen, der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde e.V., dem Deutschen Polen-Institut, dem Leibniz-Institut für Agrarentwicklung in Transformationsökonomien, dem Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung und dem Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) gGmbH gemeinsam herausgegeben. Die Bundeszentrale für politische Bildung/bpb veröffentlicht die Analysen als Lizenzausgabe.

Am 8. Mai 2025 jährt sich das Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa zum 80. Mal. Zugleich erschüttert seit drei Jahren ein neuer Krieg Europa: Russlands brutaler Angriff auf die Ukraine, in dem die ukrainische Zivilbevölkerung erneut großes Leid erfährt.

Im Zweiten Weltkrieg stand die gesamte Ukraine unter brutaler deutscher Besatzung, geprägt von Ausbeutung, Terror und systematischer Gewalt. 1,5 Millionen Jüd:innen wurden in der Ukraine ermordet, ebenso Zehntausende Romnja und Roma sowie kranke und behinderte Menschen.

2,2 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer wurden zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt. Mehr als 600 ukrainische Ortschaften wurden unter deutscher Besatzung vollständig zerstört, viele samt ihrer Einwohnerinnen und Einwohner ausgelöscht. Ungefähr 8 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer wurden für die sowjetische Armee mobilisiert und stellten ein Viertel der sowjetischen Streitkräfte – eine Tatsache, die in der postsowjetischen ukrainischen Erinnerungskultur an den Krieg zunehmend in Vergessenheit gerät. Die Bevölkerungsverluste der Ukraine während des Zweiten Weltkriegs werden insgesamt auf 8–10 Millionen Menschen (Zivilist:innen und Militärangehörige) geschätzt. Diese Millionen ukrainischer Kriegsopfer stehen bis heute im Schatten der Geschichte und werden in der deutschen Erinnerungskultur immer noch zu wenig gewürdigt. Lange galt in Teilen von Politik und Öffentlichkeit fälschlich, die Kriegsopfer der Sowjetunion seien vor allem Russen gewesen – und Deutschlands historische Verantwortung bestehe daher primär gegenüber Russland. Putin instrumentalisiert die Erinnerung an den "Großen Vaterländischen Krieg", um den Angriff auf die Ukraine zu rechtfertigen und innenpolitisch Rückhalt zu gewinnen. Der Sieg im Zweiten Weltkrieg wird so ideologisch für den heutigen Krieg missbraucht, wie die Deutsch-Ukrainische Historische Kommission in ihrem Appell an den Deutschen Bundestag anlässlich des 80. Jahrestags des Kriegsendes anmerkt.

Das Füllen dieser Erinnerungslücken an die oft übersehenen Orte deutscher Massenverbrechen im Osten stellt eine dringende Aufgabe dar. In einem gemeinsamen Projekt der Universität Heidelberg mit der Internet-Plattform DEKODER wird am Beispiel von zehn Kriegsbiographien Angehöriger verschiedener Opfergruppen das Leid der Zivilbevölkerung im deutschen Vernichtungskrieg erzählt.

Die Aufarbeitung von NS-Verbrechen in der Ukraine

In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass die Ukraine über eine reiche historische Erfahrung in der Aufarbeitung nationalsozialistischer Verbrechen verfügt – ein Erbe, das anfangs stark von den politischen Rahmenbedingungen der spätstalinistischen Nachkriegssowjetunion geprägt war und daher eine ambivalente Hinterlassenschaft darstellt. Die im November 1942 in Moskau ins Leben gerufene "Außerordentliche Staatliche Kommission zur Untersuchung der von den deutsch-faschistischen Eindringlingen und ihren Komplizen begangenen Gräueltaten" (im Folgenden ASK) hatte unmittelbar nach der Befreiung der besetzten Gebiete mit der Untersuchung der Besatzungsverbrechen begonnen und setzte diese Arbeit bis 1951 fort.

Die Materialien der ASK, die im Staatlichen Archiv der Russischen Föderation (GARF) in Moskau sowie in ukrainischen und anderen Archiven postsowjetischer Staaten liegen, wurden erst nach dem Ende der Sowjetunion der Forschung zugänglich gemacht. Bis heute sind sie eine zentrale Quelle zur Untersuchung lokaler Besatzungsverbrechen und Lokalisierung von Massengräbern, die nach erster Exhumierung teils wieder verschlossen und nicht markiert worden waren. Dies betraf in der Ukraine zum Beispiel die Opfer der Morde an kranken und behinderten Menschen, deren Schicksal lange unbeachtet blieb und für die bis heute in der Ukraine erst ansatzweise ein Platz in der Erinnerungskultur etabliert wurde.

Die ASK sollte Verbrechen an sowjetischen Zivilist:innen und Kriegsgefangenen aufklären, Täter:innen und Kollaborateur:innen identifizieren, Opferlisten erstellen und Schäden dokumentieren. Ihre Ergebnisse veröffentlichte sie in den "Mitteilungen der ASK", die in der Regionalpresse erschienen. Bis 1946 verfasste die ASK 27 angesichts des gesammelten Materials eher kurze Berichte; einige wurden auch ins Englische übersetzt und international publiziert.

Die von Stalin gezielt mit international anerkannten Wissenschaftlern, Schriftstellern und Kirchenvertretern besetzte Kommission – nur in geringem Maß mit Parteifunktionären – sollte den sowjetischen Ermittlungen zu deutschen Kriegsverbrechen moralische Autorität und Glaubwürdigkeit verleihen. Vorsitzender der Staatskommission war Nikolaj M. Schwernik (Erster Sekretär des Zentralrats der Gewerkschaften). Unter den prominenten Mitgliedern der Kommission waren der Schriftsteller Aleksej N. Tolstoj, der Neurochirurg Nikolaj N. Burdenko, der Jurist Ilja P. Trajnin, der Historiker Ewgenij W. Tarle, die Pilotin Walentina S. Grizodubowa und der Metropolit Nikolaj aus Kyjiw. Außerdem gehörte der umstrittene Agrarwissenschaftler Trofim D. Lyssenko der Kommission an. Er wurde von Stalin persönlich gefördert, obwohl seine Theorien wissenschaftlich falsch waren und den damals anerkannten Grundlagen der Genetik widersprachen. Angesichts der Unterstützung Stalins traute sich kaum ein Genetiker im sowjetischen Machtbereich, dem Lyssenkoismus offen zu widersprechen. Die Zugehörigkeit Lyssenkos neben international anerkannten Wissenschaftlern offenbart eine weitere Ambivalenz innerhalb der Kommission. Nach außen bemühte man sich zunächst um den Anschein rechtsstaatlicher Verfahren.

Die ASK wurde bei ihrer Arbeit von über hundert regionalen und lokalen Kommissionen unterstützt. Nach sowjetischen Angaben waren etwa 32.000 Sowjetfunktionär:innen und über sieben Millionen Sowjetbürger:innen an der Sammlung von Beweisen zur Aufklärung der deutschen Verbrechen beteiligt. Insgesamt trug die ASK über 300.000 Aussagen von Zeug:innen und Befragungsprotokolle sowie etwa vier Millionen Dokumente über von den Deutschen verursachte Schäden zusammen.

Eindrücklich beschrieb der Schriftsteller Nikolaj Atarov diesen Prozess in den gerade befreiten Gebieten:

Zitat

In diesen Tagen inmitten des Alltagsgeschehens – beim Graben durch die Asche riesiger Brandruinen, auf der Suche nach einem Platz für die Nacht oder nach einem vorbeifahrenden Wagen – überall wurden die Menschen von dem spontanen Bedürfnis erfasst zu schreiben, zu bezeugen. Stapel für Stapel von Zeugenaussagen gingen bei den politischen Abteilungen der Regimenter und Divisionen ein. Sie waren auf Fetzen von Gestapo-Formularen, auf der Rückseite von idiotischen Goebbels-Postern oder, am häufigsten, in Schulheften niedergeschrieben worden.

Zit. nach Sorokina, People, S. 825.

Die regionalen "Hilfskommissionen" der ASK bestanden meist aus Partei- und NKWD-Funktionär:innen, angeführt von einer Trojka aus den Vorsitzenden von Partei, Sowjets und NKWD (NKWD war die Geheimpolizei).

Die Staatskommission gehörte auch zu den ersten Institutionen, die aktiv zur Formung stalinistischer Kriegsmythen beitrugen. Ihre Mitteilungen legten früh die Linien der "offiziellen Version" fest: das Verschweigen der tatsächlichen Opferzahlen, das Ausblenden der jüdischen Erinnerung an den Holocaust, die Tabuisierung der Zerstörungen und Verbrechen durch die Rote Armee und das Schweigen über sowjetische Kollaboration. Als Stalin im März 1946 in der Prawda sieben Millionen Kriegstote verkündete, verschwand der ASK-Abschlussbericht, der diese Zahl als deutlich zu niedrig entlarvt hätte, im Archiv unter Verschluss.

Ein bekanntes Beispiel sowjetischer Geschichtsfälschung ist der Bericht der sog. Burdenko-Kommission zu Katyn, der das vom NKWD 1940 verübte Massaker an tausenden polnischen Offizieren fälschlich den Deutschen zuschrieb. Die Sowjetunion führte diese Darstellung sogar bei den Nürnberger Prozessen an und hielt sie bis 1990 aufrecht. Erst kurz vor dem Ende der UdSSR räumte Michail Gorbatschow die Verantwortung der sowjetischen Führung für das Verbrechen ein.

Die Arbeit der Kommission hinterließ in der Ukraine ein ambivalentes Erbe: Mit breiter Beteiligung der Bevölkerung wurden umfangreiche Daten, Beweise und Aussagen von Zeug:innen zu Besatzungsverbrechen in lokalen Kontexten gesammelt – meist als ungefiltertes Rohmaterial, das trotz aller Probleme bis heute eine wertvolle Quelle darstellt. Die Perspektiven und Anliegen der Opfer fanden dabei zumeist wenig Berücksichtigung. In der Folge wurden einige deutsche Täter und deutlich mehr einheimische Kollaborateur:innen angeklagt.

Die Sowjetunion verurteilte mindestens 26.000 Deutsche, meist Kriegsgefangene, für Kriegs- und Besatzungsverbrechen, davon 1.167 zum Tode. In den übrigen Fällen wurden häufig 25 Jahre Lagerhaft verhängt, die von den Verurteilten infolge der frühzeitigen Repatriierungen nach Stalins Tod 1953 jedoch in der Regel nicht vollständig verbüßt wurden. Die Verfahren fanden überwiegend in nicht-öffentlichen Schnellprozessen ohne Verteidigung und Staatsanwaltschaft statt; nur wenige wurden als öffentliche Schauprozesse inszeniert.

Mit unerbittlicher Härte ging die Sowjetunion gegen ihre eigenen Bürger:innen vor, die im Verdacht standen, mit dem Feind kollaboriert zu haben: Allein in der Sowjetukraine wurden zwischen 1943 und 1953 mindestens 93.590 Menschen als "Vaterlandsverräter" verhaftet – nahezu so viele wie in ganz Europa Deutsche und Österreicher:innen wegen Kriegsverbrechen verurteilt wurden. Insgesamt nahm der NKWD bis 1953 über 320.000 Sowjetbürger:innen wegen mutmaßlicher Kollaboration fest. In dieser Zahl sind Millionen sowjetischer Militärangehöriger, die zwischen 1941 und 1945 als "Vaterlandsverräter" von sowjetischen Militärtribunalen – zumeist nur weil sie kurze Zeit gefangen genommen oder eingekesselt waren – verurteilt wurden, noch nicht enthalten. Die besonders blutige Abrechnung mit Kollaborateur:innen war jedoch keine Besonderheit in der Sowjetunion, sondern zeigte sich nach Kriegsende auch in anderen von den Deutschen besetzten europäischen Ländern.

Die Strafverfolgung war in Teilen politisch gelenkt, besonders in der Westukraine, wo sie der Sowjetisierung und Zerschlagung der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) diente. Die Angehörigen der OUN, die im Krieg zeitweise mit den Nazis kollaboriert und sich an Verbrechen gegen Jüd:innen und Pol:innen beteiligt hatten, kämpften im Untergrund weiter für einen unabhängigen ukrainischen Nationalstaat. In der Westukraine kam es – gemessen an der Bevölkerungszahl – zu deutlich mehr Verhaftungen als in anderen Landesteilen, vor allem unter Personen mit Verbindungen zur OUN und ihrem militärischen Arm, der Ukrainischen Aufstandsarmee (UPA).

Neben einigen schwer belasteten Kollaborateur:innen (z. B. Angehörige der Polizei) hatten auch angeklagte Sowjetbürger:innen, die gar nicht oder nur sehr entfernt an Verbrechen beteiligt gewesen waren, von der sowjetischen Justiz harte Strafen (15 bis 25 Jahre Zwangsarbeit oder sogar die Todesstrafe) zu erwarten. Viele eigentliche deutsche Täter:innen kamen in der Bundesrepublik hingegen mit geringen Haftstrafen oder sogar mit Freispruch davon; nicht wenige blieben in der Bundesrepublik für ihre grausamen Verbrechen ungestraft, wodurch den Opfern ein wiederholtes Unrecht widerfuhr. Die mangelhafte juristische Aufarbeitung der NS-Verbrechen im Osten ist ein düsteres Kapitel der deutschen Nachkriegsgeschichte und trägt bis heute zu den Leerstellen in der deutschen Erinnerungskultur bei.

Die Verfahrenspraxis der sowjetischen Justiz in der späten Stalinzeit spiegelte ein weites staatliches Verständnis von "Kollaboration" wider, das auch Sowjetbürger:innen einschloss, die aus Todesangst deutsche Befehle ausführten, ihre Arbeit fortsetzten, um zu überleben, ohne direkt an den Morden beteiligt zu sein. Die Zwangslage und alltägliche Todesbedrohung, der die Menschen unter der deutschen Vernichtungspolitik ausgesetzt waren, wurde von den sowjetischen Justizbehörden kaum berücksichtigt. Darin zeigte sich ein gewissermaßen entkontextualisiertes Schuldverständnis der sowjetischen Justiz, die jegliche Arbeit für den Feind in den besetzten Gebieten pauschal als Landesverrat wertete. Im Hinblick auf den individuellen Tatbeitrag der Angeklagten wurde kaum differenziert und auch einfache Arbeitskräfte wie Putzfrauen, Köchinnen oder Dolmetscherinnen, die für die Deutschen gearbeitet hatten, wurden zu hohen Haftstrafen verurteilt. Sogar Jüdinnen und Juden, die z. B. in den Ghettos Funktionen ausgeübt hatten, wurden zu hohen Haftstrafen und manchmal auch zur Todesstrafe verurteilt. Nach 1945 konnte in der Sowjetunion keine breite gesellschaftliche Aufarbeitung der Kollaborationsproblematik stattfinden. Das Thema wurde weitgehend tabuisiert, denn es passte nicht in das offizielle staatliche Geschichtsnarrativ vom heldenhaften Widerstand des Sowjetvolkes gegen NS-Deutschland.

Lehren für die Aufarbeitung der Verbrechen des russischen Angriffskriegs

Seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs am 24. Februar 2022 steht die Ukraine erneut vor der Herausforderung, russische Kriegsverbrechen – etwa in Butscha – juristisch aufzuarbeiten und den Umgang mit Bürger:innen zu klären, die unter Besatzung lebten und mit den russischen Besatzungsbehörden kooperierten. Schon seit 2014 spielen Menschenrechtsorganisationen und zivilgesellschaftliche Gruppen in der Ukraine dabei eine zentrale Rolle, indem sie systematisch Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen dokumentieren und Berichte beim Internationalen Strafgerichtshof einreichen. Auch ukrainische Ermittlungsbehörden und die Generalstaatsanwaltschaft begannen früh mit der Aufarbeitung solcher Verbrechen und bauten entsprechende Expertise auf. Seit Februar 2022 hat sich das Ausmaß der russischen Kriegsverbrechen massiv ausgeweitet – die Generalstaatsanwaltschaft ermittelt inzwischen in über 125.000 Fällen, erste Urteile gegen russische Soldaten wurden bereits gefällt. Die Ukraine erfährt dabei breite Unterstützung durch internationale Organisationen, darunter dem Internationalen Strafgerichtshof, gemeinsamen europäischen Ermittlungsteams, UN-Untersuchungskommissionen sowie NGOs wie Human Rights Watch, Amnesty International, Bellingcat und andere. Einzelne Verstöße von Seiten der ukrainischen Streitkräfte in der Anfangsphase des Kriegs müssen ebenfalls von den ukrainischen Behörden untersucht werden .

Bereits im März 2022 verabschiedete die ukrainische Regierung zudem ein Gesetz zur strafrechtlichen Verfolgung von Kollaboration, das sich vor allem gegen Personen richtet, die in zeitweise russisch besetzten Gebieten mit der Besatzungsmacht zusammenarbeiteten. Das Gesetz, das unter großem Zeitdruck verabschiedet wurde, diente der Prävention von Straftaten dieser Art und erfüllte ein Bedürfnis von Politik und Gesellschaft nach schneller und möglichst strenger Verfolgung. Seitdem wurden laut SBU-Angaben über 9.000 Verfahren wegen Kollaboration eingeleitet. Diese Praxis sorgt bei vielen, die unter Besatzung lebten, für Ängste. Die öffentliche Kommunikation in der Ukraine schürt teilweise eine "Sprache des Hasses" wenn es um Menschen geht, die verdächtigt werden, mit Russland zusammenzuarbeiten. Personen, gegen die die Behörden ermitteln, werden manchmal auf Telegram-Kanälen bereits vor ihrer rechtskräftigen Verurteilung öffentlich an den Pranger gestellt . Das verletzt das Prinzip der grundsätzlichen Unschuldsvermutung und befördert in der Gesellschaft ein Klima der Feindseligkeit.

Menschenrechtsorganisationen, internationale Justizexpert:innen und einige ukrainische Politiker:innen kritisieren das Gesetz als zu hart und undifferenziert. Unter anderem rief Danielle Bell, Leiterin der UN-Menschenrechtsbeobachtungsmission in der Ukraine, die ukrainische Regierung dazu auf, ihre Haltung zur Kollaboration zu überdenken und das Gesetz internationalen Standards anzupassen. Die Mission warnte vor langfristigen negativen Folgen für Menschenrechte und gesellschaftlichen Zusammenhalt, vor Stigmatisierung der Bevölkerung unter russischer Besatzung und möglicher Schwächung der internationalen Position der Ukraine. Das Gesetz unterscheidet kaum zwischen schweren und geringfügigen Vergehen und lässt wenig Raum für die Berücksichtigung der oft extremen Lebensbedingungen der Menschen unter der Besatzung. Wer etwa einen russischen Pass annimmt – oft unter Zwang, angesichts der Verweigerung von medizinischer Versorgung oder Renten – gerät schnell unter Verdacht. Selbst kleinere Handlungen können mit Berufsverboten oder langen Haftstrafen geahndet werden, Meinungsäußerungen in sozialen Medien reichen manchmal bereits aus.

Fazit

Die Ukraine kann bei der Aufarbeitung von Kriegsverbrechen und dem Umgang mit Kollaboration aus ihren historischen Erfahrungen mit der Aufarbeitung deutscher Besatzungsverbrechen lernen. Anders als die sowjetische Nachkriegsjustiz könnte sie bei der Verfolgung von Kriegsverbrechen heute stärker auf die Perspektiven und Anliegen der Opfer eingehen. Im Umgang mit Kollaboration bietet sich die Chance, alte Fehler zu vermeiden, das Vertrauen in den Staat zu stärken und gesellschaftliche Gräben zu überbrücken. Die Strafverfolgung könnte auf Handlungen mit tatsächlichen, schweren Folgen für Staat und Gesellschaft beschränkt bleiben. Der Gesetzgeber könnte klarer zwischen überlebensnotwendigem Verhalten und schwerwiegenden sicherheitsgefährdenden Taten unterscheiden – so dass Menschen nicht für das bloße Leben und Arbeiten unter Besatzung bestraft werden. Nach Kriegsende hätte die Ukraine – anders als 1945 – die Möglichkeit, eine breite gesellschaftliche Auseinandersetzung mit den traumatischen Kriegserfahrungen verschiedener Bevölkerungsgruppen und der Problematik der Kollaboration zu fördern, etwa durch das Instrument einer Wahrheits- und Versöhnungskommission. Insbesondere die Reintegration der vom Krieg seit 2014 gezeichneten und erschütterten Menschen aus dem Donbas könnte die Ukraine dann vor große Herausforderungen stellen.

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Prof. Dr. Tanja Penter lehrt Osteuropäische Geschichte an der Universität Heidelberg und ist Sprecherin des DFG-Graduiertenkollegs 2840 "Ambivalent Enmity". Zudem ist sie Mitglied der Deutsch-Ukrainischen Historischen Kommission und forscht zu den zivilen Opfern deutscher Besatzungsverbrechen im Zweiten Weltkrieg in der Ukraine sowie deren juristischer Aufarbeitung.