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Migration und Medien

Carola Richter Sünje Paasch-Colberg

/ 14 Minuten zu lesen

Probleme von Migration und Integration dürfen nicht tabuisiert werden, sie sollten aber erst recht nicht dramatisiert werden. Werden diese Themen ausgewogen dargestellt? Wie steht es um die Nutzung der Medien durch Migrantinnen und Migranten?

Ankunft einer geflüchteten Mutter mit Kind aus der Ukraine am Hauptbahnhof Berlin im März 2022. Die Berichterstattung über Migration und Migrant:innen kann die öffentliche Meinung formen und durch das Erzeugen spezifischer Bilder und Narrative zu gesellschaftlicher Integration, aber auch zu Ausgrenzung beitragen. (© picture-alliance, IPON | Stefan Boness)

Migration ist in Deutschland eine gesellschaftliche Realität: Hunderttausende Menschen kommen jedes Jahr nach Deutschland, ob temporär oder dauerhaft, ob aus familiären oder politischen Gründen, ob gezwungen oder freiwillig. Die hohen Zahlen an Geflüchteten 2015 im Zuge des Syrienkriegs und 2022 während des Kriegs in der Ukraine haben Fragen von Migration und Integration wieder in das öffentliche Interesse gerückt – und werden in der Öffentlichkeit zum Teil kontrovers diskutiert.

Medien spielen in diesem Zusammenhang in mehrfacher Hinsicht eine große Rolle: Zum Ersten kann ihre Berichterstattung über Migration und Migrant:innen die öffentliche Meinung formen und durch das Erzeugen spezifischer Bilder und Narrative zu gesellschaftlicher Integration, aber eben auch zu Ausgrenzung beitragen. Zum Zweiten ist auch die Mediennutzung durch Menschen mit Migrationserfahrung relevant. In welchen Sprachen beispielsweise Medien aus welchen Ländern rezipiert werden, bestimmt das Informationsrepertoire des Einzelnen ganz erheblich. Und zum Dritten ist es aus demokratietheoretischer Sicht wichtig, Menschen gesellschaftliche Partizipation zu ermöglichen, die sich auch im Medienbereich abbildet. Können Menschen mit Migrationserfahrung mitreden und sich in der Gesellschaft artikulieren? Sind sie mithin Teil der Medienproduktion?

Gegliedert in diese drei Abschnitte (mediale Repräsentation, Mediennutzung, Medienproduktion) sollen die Zusammenhänge von Medien und Migration im Folgenden dargestellt und durch Befunde aktueller sozialwissenschaftlicher Studien belegt werden.

Terminologie

Über wen sprechen wir und die von uns herangezogenen Studien eigentlich, wenn es um Migrant:innen in Deutschland geht? Das ist eine komplexe Frage. Grundsätzlich zielen die verschiedenen Begriffe darauf ab, Migrationserfahrungen abzubilden. Das Statistische Bundesamt erfasst seit 2005 den Externer Link: „Migrationshintergrund“ in der amtlichen Bevölkerungsstatistik. Der Begriff hat sich auch im öffentlichen Diskurs etabliert und ist politisch relevant. Das Konzept und seine statistische Messung werden von Fachleuten allerdings kritisiert, da der „Migrationshintergrund“ nicht zwingend die eigene Migrationserfahrung in den Vordergrund stellt, sondern die sogenannte ethnische Abstammung – also beispielsweise, ob ein Elternteil bei der eigenen Geburt einen türkischen Pass hatte. Aufgrund der über viele Jahrzehnte restriktiven Einbürgerungspolitik in Deutschland kann es also sein, dass auch Jugendliche mit deutschem Pass, deren Urgroßeltern als Gastarbeiter:innen nach Deutschland kamen und die hier geboren und aufgewachsen sind, statistisch als Migrant:innen gelten. Nach dieser sehr weit gefassten Definition hat rund ein Viertel der in Deutschland lebenden Bevölkerung einen Migrationshintergrund.

Am Konzept des Migrationshintergrunds wird zudem kritisiert, dass es Selbstzuschreibungen und tatsächliche Erfahrungen nicht berücksichtigt. Die einzelne Person kann in der Befragung nämlich nicht angeben, wo sie sich selbst zugehörig fühlt und ob eine familiäre Migrationserfahrung ihre Alltagserfahrungen tatsächlich prägt bzw. ob sie Diskriminierung und Ausgrenzung erlebt. Damit sei das Konzept „Migrationshintergrund“ nicht geeignet, Vielfalt in ihrer Komplexität aufzuzeigen und soziale Ungleichheiten zu untersuchen.

Enger gefasste Begriffe wie „Geflüchtete/Flüchtlinge“, „Ausländer:innen“ oder „Zugewanderte“ zielen auf eine eigene Migrationsgeschichte ab und meinen demnach nur Teilmengen der Menschen, die von (eigener oder familiär erlebter) Migrationserfahrung geprägt sind. Der Begriff „Migrationserfahrung“ scheint uns daher am besten geeignet zu sein, die im Zusammenhang mit Medien relevanten Aspekte zu beschreiben. Immer wenn wir im Folgenden aber Studienergebnisse besprechen, die sich auf bestimmte Migrationsformen (z. B. Flucht) oder Gruppen (z. B. Geflüchtete, Muslim:innen) beziehen, machen wir das sprachlich deutlich.

Mediale Repräsentation von Menschen mit Migrationserfahrung

Wie Gruppen in Medien definiert und dargestellt werden und wie öffentlich über sie gesprochen wird, prägt auch das Bild dieser Gruppen in weiten Teilen der Gesellschaft. Die mediale Prägungskraft ist insbesondere dann sehr hoch, wenn kein oder wenig Kontakt zu Personen dieser Gruppe bestehen (Kontakthypothese). Wenn also Muslim:innen in Deutschland häufig als gefährlich gelabelt werden, Menschen mit türkischen Wurzeln als demokratiefeindlich oder ukrainische Geflüchtete als besonders schützenswert, so erzeugt dies jeweils einen spezifischen Interpretationsrahmen, der politische Entscheidungen beeinflussen kann (bspw. die Modalitäten von Abschiebungen), rassistische Einstellungen (re)produziert (bspw. Interner Link: Muslimfeindlichkeit) oder aber auch Solidarität erzeugt (bspw. die sogenannte Willkommenskultur 2015 oder den Umgang mit ukrainischen Geflüchteten 2022). Den Prozess medialer und öffentlicher Darstellung nennt man Repräsentation und diesen gilt es immer wieder kritisch zu hinterfragen. Dabei gibt es drei wesentliche und zusammenhängende Mechanismen, die die Medienberichterstattung zu Migration prägen und die in zahlreichen wissenschaftlichen Studien belegt wurden: 1. Marginalisierung, 2. Negativität und 3. stereotypisierendes Othering.

1. Marginalisierung

Wer kommt eigentlich zu Wort, wenn es um migrantische Themen geht? Welche Quellen werden von den Medien herangezogen? Studien belegen, dass in allzu vielen Fällen eher „über“ als „mit“ Migrant:innen gesprochen wird. Häufig sind diese zwar Teil einer intensiven politischen und medialen Auseinandersetzung, die aber vor allem von politischen Eliten geführt wird. Zivilgesellschaftliche Initiativen oder auch Individuen mit (familiärer) Migrationserfahrung werden dagegen seltener in den Medien zitiert. Dies zeichnet ein passives Bild von Migrant:innen und führt zu dem Eindruck, dass Migrant:innen am Rande der Gesellschaft stünden, obwohl sie wichtige gesellschaftliche Akteure darstellen.

Nachrichtenfaktoren

Die Frage, warum bestimmte Ereignisse und Themen in der Berichterstattung stärker beachtet werden als andere, hat verschiedene wissenschaftliche Theorien hervorgebracht. Eine sehr etablierte Theorie ist die Nachrichtenwerttheorie: Nach dieser Theorie sind die Auswahlentscheidungen der Journalistinnen und Journalisten vor allem auf sog. Nachrichtenfaktoren – also die Charakteristika von Ereignissen und Themen – zurückzuführen. In ihrer Summe machen die Nachrichtenfaktoren den Nachrichtenwert eines Ereignisses oder Themas aus: Je mehr Faktoren auf ein Ereignis oder Thema zutreffen und je stärker diese ausgeprägt sind, desto höher ist sein Nachrichtenwert und desto wahrscheinlicher und prominenter wird darüber berichtet. Zu den wirksamen Nachrichtenfaktoren gehören z. B. Reichweite, Schaden, Kontroverse, Aggression/Konflikt, Prominenz, Kontinuität und Nähe. Die Nachrichtenwerttheorie besagt weiter, dass diejenigen Aspekte eines Ereignisses, die dem Nachrichtenfaktor entsprechen, in der Berichterstattung besonders betont werden.

Quelle: Maier et al. 2018

Ein weiterer Aspekt von Marginalisierung betrifft die Themen, die im Zusammenhang mit Migration von den Medien aufgenommen werden. Gruppenbezogene Themen aus Alltag und Kultur von Migrant:innen treten in der massenmedialen Berichterstattung hinter politisch schlagzeilenträchtigen Themen zurück. Interner Link: Kriegsbedingte Flucht, Interner Link: überfüllte Boote auf dem Mittelmeer, politische Kontroversen über den Umgang mit Geflüchteten oder Anschläge durch Personen mit Migrationserfahrung sind aufgrund ihres hohen Nachrichtenwertes (siehe Infokasten) die bestimmenden Themen im Zusammenhang mit Migration und Flucht. Selten dagegen hört oder liest man in den Medien etwas zu Bereichen wie Altenpflege, Mode oder Unternehmertum, die stark migrantisch geprägt und für unser alltägliches Zusammenleben wichtig sind. Auch über Rassismus gegen migrantisch gelesene Menschen wird abseits von besonders aufsehenerregenden Ereignissen (wie z. B. rassistisch motivierten Anschlägen) nur vergleichsweise wenig in den Medien gesprochen, obwohl Rassismus in Deutschland kein Randphänomen ist, sondern von vielen Menschen direkt erfahren wird.

2. Negativität

Diese thematische Marginalisierung kann das zweite, oft beobachtete Muster der Negativität in der Migrationsberichterstattung erklären: Wenn über Migration und Migrant:innen berichtet wird, dann häufig nur in negativen und konfliktbehafteten Themenkontexten wie Kriminalität, Terrorismus oder politischem Streit. Migration und Migrant:innen werden in der Berichterstattung häufig als Gefahr und (finanzielle) Belastung dargestellt. Einige Studien stellen auch fest, dass Menschen mit Migrationserfahrung in negativen Kontexten überrepräsentiert sind: Zahlen einer aktuellen Langzeitanalyse zeigen, dass Geflüchtete in der deutschen Berichterstattung immer dann stärker als Akteure sichtbar waren, wenn viel über Kriminalität berichtet wurde. Negativität prägt zwar auch die Berichterstattung über andere Themen – eine europäische Vergleichsstudie, der „European Day of Media Monitoring“, zeigt aber, dass Medieninhalte über ethnische Minderheiten noch einmal negativer geprägt waren als die Inhalte zu anderen Themen.

Aus der Forschung wissen wir, dass besonders weitreichende oder negative Ereignisse – sog. Schlüsselereignisse – die Aufmerksamkeit der Journalist:innen auch längerfristig binden können, zu intensiven Recherchen führen und als ein Prototyp die Berichterstattung über ähnliche Folgeereignisse prägen. Durch diesen Effekt entstand nach der Silvesternacht 2015/2016 zum Beispiel der (falsche) Eindruck, es gäbe in Deutschland eine sprunghafte Zunahme von Kriminalität durch Menschen mit Migrationshintergrund. Andere Studien zeigen, dass Terrorismus und religiöser Extremismus nach den Anschlägen in den 2000er Jahren (Interner Link: 9/11, Madrid, London) zu einem zentralen Bezugspunkt in der Migrationsberichterstattung wurden und nach 9/11 negativer über Muslim:innen und den Islam berichtet wurde.

Andere Schlüsselereignisse haben das Negativitätsmuster dagegen kurzfristig durchbrochen: Nach dem Bootsunglück vor der Insel Lampedusa, das im Oktober 2013 über 350 Menschen das Leben kostete, wurden humanitäre Aspekte für einen kurzen Zeitraum wichtiger für die Flucht-Berichterstattung; Migrant:innen wurden häufiger als Opfer beschrieben und positiver bewertet. Ein zweites Beispiel ist die Berichterstattung im Sommer 2015: Wieder wurden Geflüchtete in den Medien vergleichsweise positiv dargestellt, wobei bereits im Herbst desselben Jahres die negativen Bewertungen wieder überwogen und erneut vor allem die Gefahren von Migration betont wurden. Diese Beispiele zeigen: Die Journalist:innen kehrten jeweils recht schnell zur Routine zurück. Außerdem ist wichtig zu betonen, dass sich beide Beispiele auf eine bestimmte Form der Migration beziehen, die für einen kurzen Zeitraum mediale Aufmerksamkeit bekam und wohlwollender dargestellt wurde – während der Großteil der Menschen mit Migrationserfahrung und deren Alltag in den Medien weiter unsichtbar blieben.

3. Stereotypisierendes Othering

Medien tendieren überdies zu einem sogenannten „Othering“, also dem Differentmachen (Andersmachen) von Minderheiten in scheinbarem Gegensatz zur Mehrheitsgesellschaft. Othering ist sowohl in Nachrichten- als auch Unterhaltungsformaten präsent, aber unterschiedlich ausgeprägt. Neben den oben angeführten Mechanismen der Marginalisierung und Negativierung wird Othering vor allem auch durch Homogenisierung (Gleichmachen) und Dichotomisierung herbeigeführt. Mit Dichotomisierung ist gemeint, dass bspw. durch bestimmte Marker wie Adjektive eine teils subtile Unterteilung in „wir“ und „sie“ vorgenommen wird, also damit Personen als zu „uns“ gehörig oder nicht gekennzeichnet werden. Dabei wird referenziert auf etwas scheinbar „normales“ als Standard, von dem die Abweichung als „anders“ dargestellt wird. Die Bebilderung eines Fernsehbeitrags zu türkischen Wählerinnen in Deutschland mit Frauen, die Kopftuch tragen, ist ein Beispiel für solch eine Form des „Othering“. Häufig kommt dabei auch der problematische Mechanismus der Homogenisierung ins Spiel, wenn suggeriert wird, dass ein bestimmtes Merkmal von allen Mitgliedern dieser Gruppe geteilt wird. Dabei wird verkannt, dass es bspw. klassenspezifische oder genderbedingte und natürlich auch individuelle Differenzen in dieser Gruppe gibt. Die Gründe für Migration aus der Ukraine nach Deutschland bspw. ausschließlich auf Flucht vor Krieg zu reduzieren, greift genauso zu kurz wie Migrant:innen aus Nigeria per se als Armutsflüchtlinge zu kategorisieren. „Othering“ wird insbesondere in Nachrichtenformaten untermauert durch das Zurückgreifen auf schnell abrufbare Stereotype, also „schematische, auf wenige Merkmale reduzierende Darstellungen bestimmter Personengruppen, die dazu dienen, die Komplexität der Welt zu reduzieren“.

Stereotypisierendes Othering ist auch prägend für Unterhaltungsformate. Speziell dort gibt es aber Potenzial durch „counter-stereotyping“ gängige Stereotype über bestimmte Gruppen in fiktionalen Inhalten zu brechen. Gerade Ethno-Comedy ist hier ein relevantes Genre, aber auch klassischere Serien- und Filmformate haben Potenzial, wie eine Langzeitstudie zur Filmreihe „Tatort“ von 2012 zeigt: Figuren mit Migrationsgeschichte gehören nicht nur zum „Tatort“-‚Alltag‘, sondern es zeigt sich im Zeitverlauf auch, dass die Figuren mit Migrationsgeschichte zahlenmäßig an Bedeutung gewinnen und weniger negativ-stereotype Charaktere einnehmen müssen.

QuellentextStereotype

Im Alltagsverständnis wird eine stereotype Darstellung häufig mit einer negativen Darstellung gleichgesetzt. Wissenschaftlich ist mit dem Stereotypen-Begriff aber ein differenziertes Konzept gemeint: Generell wird unter einem Stereotyp ein verallgemeinerndes Bild eines Individuums verstanden, das nicht auf den Eigenschaften des Individuums beruht, sondern auf der Zuschreibung der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe. Dieser als Kategorisierung bezeichnete Prozess gilt als ein kognitiver Wahrnehmungsmechanismus. Menschen wenden ihn häufig unbewusst und automatisiert an, um ihrer komplexen sozialen Umwelt gerecht zu werden. Häufig überschneiden sich Stereotype und beziehen sich z. B. auf Ethnie und Geschlecht – dies wird als Intersektionalität bezeichnet. Bei der Beschreibung einer 70-jährigen Frau aus Texas können demnach Kategorisierungen aufgrund ihres Alters, Geschlechts und Nationalität vorgenommen werden, die aufgrund bestimmter kultureller Prägungen gespeichert sind. Eine 70-jährige Frau aus Afghanistan wird aber höchstwahrscheinlich von einem typischen deutschen Medienrezipienten anders kategorisiert werden als die Frau aus Texas. Ein Stereotyp ist also auch kulturell gebunden. Diese Form der Komplexitätsreduktion findet sich auch in den Massenmedien. Kategorisierungen wird man daher in der Berichterstattung über alle gesellschaftlichen Gruppen finden.

Die zweite Dimension der Stereotypisierung bezieht sich auf die Zuschreibung oder Nennung von bestimmten Eigenschaften, Rollen oder Verhaltensweisen. Es kommt dabei zu einer Verallgemeinerung individueller Eigenschaften, die auf die gesamte ethnische Gruppe übertragen werden. Diese Dimension der Stereotypisierung kann man auch als Vorurteil bezeichnen – dies kann durchaus positiv konnotiert sein („Deutsche sind pünktlich“), aber auch negativ („Deutsche sind pedantisch“). Durch entsprechende Rollenzuschreibungen kann es zu problematischen gesellschaftlichen Abgrenzungsprozessen (Othering) kommen. Wird das Vorurteil gar politisch instrumentalisiert, so spricht man von einer Feindbildkonstruktion. Auch in den Massenmedien können Vorurteile und Feindbilder vermittelt werden, wenn bestimmte Rollen- und Wertezuschreibungen nicht hinterfragt werden.

Stereotype sind also ein grundlegender menschlicher Kognitionsmechanismus, aber auch die Basis für problematische gesellschaftliche Repräsentationsprozesse.

Quellen: Nitz 2008, Thiele 2015

Mediennutzung von Menschen mit Migrationsgeschichte: Ghettos und Parallelwelten?

Die Frage der adäquaten Repräsentation von Menschen mit Migrationsgeschichte in den Medien hat auch Relevanz für deren Mediennutzung. Einige Studien zeigen, dass das Gefühl der Misrepräsentation (mangelhaftes Vertretensein) in den Medien der Mehrheitsgesellschaft bei migrantisch geprägten Gruppen und Individuen dazu führen kann, sich von bestimmten Medien oder Mediengenres teilweise oder auch komplett abzuwenden.

Anfang der 1990er Jahre geriet die Mediennutzung von Menschen mit Migrationshintergrund stärker in den Fokus der öffentlichen Diskussion – ein Interesse, das bis Anfang der 2010er Jahre anhielt. Im Kontext des damaligen eng gefassten Integrationsparadigmas und unter der Problemannahme, es könnten ghettoartige Parallelwelten entstehen, war insbesondere von Interesse, wie Menschen mit ausländischen Wurzeln ihr persönliches „Medienmenü“ zusammenstellen. Nutzen sie die deutschen Medien oder Medien aus ihren Heimatländern? In der Folge wurde eine ganze Reihe von Studien durchgeführt. Sie haben für verschiedene Herkunftsgruppen gezeigt, dass voernehmlich ab der zweiten Generation diejenigen in der Mehrheit sind, die beide Medienwelten kombinieren. So bleiben sie einerseits mit Verwandten und Bekannten in der Heimat verbunden und andererseits über das tägliche Leben in Deutschland auf dem Laufenden. Die „Medienghetto-These“ wurde empirisch also widerlegt.

Mittlerweile hat in Deutschland zudem eine deutliche Umorientierung eingesetzt: Ein mehrsprachiges Medienrepertoire wird nicht mehr als potenziell hemmend für die Integration, sondern tendenziell als bereichernd angesehen. Diese Umorientierung hängt sicherlich auch damit zusammen, dass sich Mediennutzung entlang generationaler und anderer soziodemografischer Unterschiede auch in der Mehrheitsgesellschaft massiv fragmentiert hat – sich also schon lange nicht mehr alle zum gemeinsamen Schauen der Tagesschau einfinden – und dies wird auch nicht mehr von Migrant:innen erwartet. Mit der Fluchtmigration 2015/16 kam auch Interesse auf, sich die (digitale) Mediennutzung der Geflüchteten anzusehen, um mehr über deren Informationsrepertoires zu erfahren und entsprechend darauf eingehen zu können. Generell zeigte sich, dass das Netzwerken über digitale Plattformen enorm wichtig ist, „quasi gleich mit Essen“, wie in einer Studie mit syrischen Jugendlichen herauskam.

Das unterscheidet sich kaum von der Mediennutzung anderer Jugendlicher in Deutschland: Das Smartphone wird genutzt zum Austausch von Nachrichten im Alltag, zur Dokumentation von Freizeiterlebnissen, dem Teilen und Kommentieren von Fotos und Videos oder im Rahmen von Hobbys. Welche Feeds man dabei in welchen Sprachen und aus welchen Regionen bekommt, ist dabei sehr individualisiert und hängt neben Sprachkenntnissen vor allem auch von Interessen und demografischen Merkmalen ab.

Diese Erkenntnis lässt sich auch übertragen auf die generelle Mediennutzung: Je nach Sprachkenntnissen und der Verfügbarkeit von Medienangeboten aus dem Herkunftsland unterscheiden sich die Medienrepertoires individuell, aber auch zwischen Herkunftsgruppen. Chinesischen Migrant:innen in Deutschland steht ein ganzes Universum an überall verfügbaren Online-Angeboten in chinesischer Sprache zur Verfügung, mongolischen Migrant:innen steht dies in ihrer Sprache eben eher nicht zur Verfügung. Für türkisch-, russisch- oder arabischsprachige Personen gibt es ein umfangreiches Satellitenfernsehangebot, das auch in Deutschland empfangbar ist, für Personen aus Subsahara-Afrika ist das eher nicht der Fall.

Medienproduktion: Vielfalt in deutschen Redaktionen?

Die Fragmentierung der Mediennutzung steht in unmittelbarem Zusammenhang mit einer Diversifizierung migrantischer Medienproduktion, die erst seit wenigen Jahren die deutsche Medienlandschaft zu prägen beginnt.

Schon lange wird beklagt, dass es in deutschen Medienhäusern zu wenige Mitarbeiter:innen mit Migrationserfahrung gäbe. Zwar gibt es zu dieser Frage keine aktuellen und repräsentativen Daten – die vorliegenden Zahlen lassen aber den Schluss zu, dass Menschen mit Migrationserfahrung gemessen an ihrem Anteil an der deutschen Bevölkerung im Journalismus immer noch deutlich unterrepräsentiert sind: Eine inzwischen veraltete, aber repräsentative Erhebung in den Redaktionen deutscher Tageszeitungen ergab, dass nur 1,2 % der Journalist:innen einen Migrationshintergrund haben. Aktuellere Schätzungen, die allerdings nicht repräsentativ sind, gehen von maximal 4 % aus. Und eine 2020 veröffentlichte Recherche der Neuen Deutschen Medienmacher*innen ergab, dass von 126 befragten Chefredakteur:innen reichweitenstarker deutscher Medien nur 6 % einen Migrationshintergrund haben.

Insbesondere bei Menschen mit eigener Migrationserfahrung und Deutsch als Fremdsprache ist häufig die Ausdrucksfähigkeit ein Argument gegen stärkere Berücksichtigung bei der Besetzung von Moderator:innen-, Redaktions- und Reporterstellen. Wenn Journalistinnen und Journalisten mit Migrationserfahrung dennoch ihren Platz in einer Redaktion gefunden haben, wurden sie häufig auf diese Rolle bzw. ihren Hintergrund auch beruflich festgelegt. Mit anderen Worten: Diese Person war dann eben (fast) ausschließlich für die Berichterstattung über migrantische, ethnische, auf den Bereich Flucht, Asyl, Migration bezogene Themen zuständig. Auch in solchen Fällen kann natürlich kaum von gelungener Integration in den journalistischen Arbeitsprozess gesprochen werden.

In der Zwischenzeit werden aber zunehmend Menschen mit Migrationserfahrung vor der Kamera sichtbar. Initiativen wie die „Neuen deutschen Medienmacher*innen“ stärken das Bewusstsein für angemessene inhaltliche Repräsentation und Diversität in den Redaktionen. Zudem fordern viele Medienhäuser explizit Menschen mit Migrationserfahrung zur Bewerbung für ihre Volontariate auf, auch weil sie gemerkt haben, dass sie sonst an Legitimität bei einer (ökonomisch) immer wichtiger werdenden Zielgruppe verlieren. Dieser Wandel wurde von einer Welle an migrantischen YouTube-, Instagram- und Podcast-Formaten angeschoben, die erst seit wenigen Jahren in Deutschland ein wichtiges Phänomen geworden sind. Die öffentliche-rechtliche Plattform Externer Link: „funk“ hostet beispielsweise verschiedene YouTube- und Podcast-Formate, die eine junge post-migrantische Realität abbilden. In Podcasts wie Externer Link: „Chai Society“ oder Externer Link: „Halbe Katoffl“ oder Externer Link: „Rice and Shine“ sprechen meist junge Personen der dritten oder vierten Generation von Zugewanderten über ihre Identität, Alltagsrassismus oder einfach generationsspezifische Themen, die sie bewegen. Influencer:innen wie Mai Thi Nguyen-Kim schaffen dabei den Spagat zwischen eigener Migrationsgeschichte und der Bearbeitung eines nicht-migrantischen Themenfelds, wie in ihrem Fall der Wissenschaftskommunikation.

Bis vor kurzem wurden zudem muttersprachliche Angebote als der Integration in Deutschland abträglich angesehen. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk bot über viele Jahre hinweg lediglich den beim WDR angesiedelten Radiokanal „Funkhaus Europa“ an, der in Sendefenstern in Türkisch, Russisch oder Italienisch informierte und besonders die sogenannten „Gastarbeiter“ in Nordrhein-Westfalen ansprechen sollte. Mittlerweile ist daraus der Radiosender Externer Link: „Cosmo“ hervorgegangen, der von WDR, Radio Bremen und RBB betrieben wird und sich als internationaler und interkultureller Sender mit einem Fokus auf Weltmusik versteht. Dass aber gerade muttersprachliche Angebote wichtig sind, um Migrant:innen zu informieren und ihnen Teilhabe zu ermöglichen, wurde erst im Zuge der Fluchtmigration 2015/16 erkannt. Da gab es beispielsweise die Tagesschau in verschiedenen Sprachen oder Informationsangebote für Geflüchtete in deren Herkunftssprachen, was aber kurzlebig war und stellenweise auch als eher belehrend empfunden wurde. Anders einzuordnen ist da die Internet-Plattform Externer Link: „Amal Berlin“, die Nachrichten aus Deutschland aus der Perspektive von Zugewanderten in Arabisch, Farsi und neuerdings auch in Ukrainisch präsentiert und damit von der Community für die Community berichtet. Ebenso community-affin präsentiert sich der privat finanzierte türkischsprachige Radiosender Externer Link: „Metropol FM“, der 1999 in Berlin gegründet wurde und mit türkischer Musik ein vor allem älteres Publikum anspricht.

Die klassische journalistische Medienproduktion holt also erst langsam auf, was die Einbindung von Personen mit Migrationserfahrung angeht, während sozialen Medien hier eine Vorreiterrolle zukommt und diese damit auch eine Zielgruppe abholen, die traditionelle Medien aufgrund deren problemfixierter Repräsentation meiden.

Initiativen: Migration und Medien

Die Externer Link: „Neuen Deutschen Medienmacher*innen“ sind ein bundesweiter und unabhängiger Verein von Journalist:innen und Medienschaffenden mit und ohne Migrationserfahrung, der sich für mehr Diversität in den Redaktionen, eine diskriminierungssensible Berichterstattung und gegen Hass im Netz einsetzt. Der Verein unterstützt Nachwuchsjournalist:innen mit Migrationsgeschichte durch Mentoringprogramme, veröffentlicht u. a. Formulierungshilfen und Checklisten für eine diskriminierungsarme Sprache und Bebilderung, berät Redaktionen und meldet sich in aktuellen Debatten immer wieder kritisch zu Wort.

Für eine differenzierte Debatte über die Themen Migration und Integration setzt sich auch der Externer Link: „Mediendienst Integration“ ein: Die Informationsplattform stellt Medienschaffenden kostenfrei Recherchen und Statistiken zu den Themen Flucht, Migration und Diskriminierung in Deutschland zur Verfügung und veröffentlicht Stellungnahmen, Gastbeiträge und Fakten-Checks. Außerdem können Expertinnen und Experten aus der Wissenschaft vermittelt werden. Träger des Mediendienstes ist der „Rat für Migration e. V.“

Fazit und Ausblick

Der hier diskutierte Forschungsüberblick zeigt insgesamt, dass die traditionellen Massenmedien in Deutschland (noch) nicht in einer postmigrantischen Realität angekommen sind – weder in Bezug auf die Inhalte der Berichterstattung, die Menschen mit (familiärer) Migrationserfahrung häufig marginalisieren, negativ kontextualisieren und stereotypisierend als negativ von der Norm abweichend darstellen, noch mit Blick auf eine angemessene Repräsentation gesellschaftlicher Vielfalt in den Redaktionen. Diese Berichterstattungsmuster und Strukturen sind problematisch, da sie der gesellschaftlichen Komplexität des Themas nicht gerecht werden, rassistische Ausschlüsse (re)produzieren, eine fragmentierte Mediennutzung fördern und den sozialen Zusammenhalt bedrohen.

In der jüngeren Vergangenheit wurden die traditionellen Medien auch dafür kritisiert, soziale Herausforderungen und Konflikte in erster Linie als ein „Migrationsproblem“ oder „Integrationsproblem“ darzustellen (z. B. die Debatte über die Interner Link: Berliner Silvesternacht 2022/23) und solchen Themen unangemessen viel Aufmerksamkeit zu schenken (z. B. die Externer Link: Diskussion um Gewalt in Schwimmbädern im Sommer 2023). Da das Maß an möglicher Aufmerksamkeit des Einzelnen beschränkt ist, bekommen andere Fragen im öffentlichen Diskurs gleichzeitig entsprechend weniger Raum. Das ist insbesondere mit Blick auf aktuelle, internationale Krisen relevant, vor deren Hintergrund zu erwarten ist, dass Migration auch zukünftig eine gesellschaftliche Realität in Deutschland bleibt – und aller Wahrscheinlichkeit nach noch relevanter werden wird.

Es ist daher angezeigt, dass Journalist:innen und Chefredakteur:innen sich ihrer besonderen Verantwortung für eine ganzheitliche, diskriminierungssensible Berichterstattung über Migration und eine angemessene strukturelle Repräsentation aller gesellschaftlichen Gruppen bewusstwerden und kritische Mediennutzende dies von den Redaktionen auch immer wieder einfordern. In der Berichterstattung über Migration braucht es eine Pluralisierung der öffentlichen Themenagenda abseits der Fokussierung auf besonders negative Ereignisse. Die Themen, Anliegen und der gesellschaftliche Beitrag von Menschen mit Migrationserfahrung sollten ein selbstverständlicher Teil der Medienrealität sein, passive Rollen und stereotypisierendes Othering (Andersmachen, Distanzieren) in Wort und Bild vermieden werden. Schließlich sollten Hürden für mehr Diversität in den Redaktionen aktiv und verbindlich abgebaut werden. Das gilt insbesondere vor dem Hintergrund eines hybriden Mediensystems, in dem soziale Medien es jeder und jedem erlauben, eigene Themen und Meinungen unabhängig von traditionellen Medien in der Öffentlichkeit zu verbreiten und klassische Massenmedien bei Vernachlässigung von migrantischen Perspektiven zunehmend an Legitimität verlieren würden.

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Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Mediendienst Integration, 28.07.2020.

  2. DESTATIS Statistisches Bundesamt, ohne Datum.

  3. Vgl. Will 2020.

  4. Vgl. Ateş 2022.

  5. Vgl. Pickel & Öztürk 2018.

  6. Vgl. bspw. Ruhrmann et al. 2006, Brennauer 2019.

  7. Vgl. z. B. Maurer et al. 2023; Kelm et al. 2021.

  8. Vgl. Deutsches Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung 2022.

  9. Vgl. z. B. Maurer et al. 2023; Kelm et al. 2021.

  10. Vgl. z. B. Tort et al. 2016; Fick 2009.

  11. Vgl. Maurer et al. 2023.

  12. Vgl. Ter Wal 2004.

  13. Vgl. z. B. Brosius & Eps 1995; Arendt et al. 2017.

  14. Vgl. Arendt et al. 2017.

  15. Vgl. Richter & Paasch-Colberg 2023; Ahmed & Matthes 2016; Ruhrmann et al. 2006.

  16. Vgl. Zerback et al. 2020.

  17. Vgl. Maurer et al. 2023.

  18. Vgl. Richter 2015.

  19. Vgl. Baumann 2018, Lünenborg & Maier 2017.

  20. Nitz 2008: S. 65.

  21. Vgl. Spielhaus 2017, Saucedo Añez 2021.

  22. Vgl. Paasch-Colberg & Küfner 2012.

  23. Vgl. Kontos 2020, Trebbe & Schönhagen 2011.

  24. Vgl. Piga 2007.

  25. Vgl. bspw. Hafez 2002, Simon 2007, Worbs 2010, Simon et al. 2020.

  26. Vgl. z. B. Heft & Paasch-Colberg 2013; Trebbe et al. 2010.

  27. Vgl. Kutscher & Kreß 2015.

  28. Vgl. Kutscher & Kreß 2015, Görland & Arnold 2016, Haji et al. 2020.

  29. Vgl. Eggert 2016.

  30. Vgl. Calagan 2010, Horz 2014, Golova 2018.

  31. Vgl. Haruna-Oelker & Rollhäuser 2020, Lünenborg & Medeiros 2021.

  32. Vgl. Geißler et al. 2009.

  33. Vgl. Pöttker et al. 2016.

  34. Vgl. Neue Deutsche Medienmacher*innen 2020.

  35. Vgl. Pöttker et al. 2016: 155, Oulios 2010.

  36. Vgl. Röben 2008, Lanzke 2016.

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Weitere Inhalte

Dr. Carola Richter ist seit 2011 Juniorprofessorin und seit 2017 Universitätprofessorin a.Z. für Internationale Kommunikation an der Freien Universität Berlin. Sie lehrt und forscht zu Mediensystemen und Kommunikationskulturen, insbesondere im arabischen Raum, sowie zu Auslandsberichterstattung und Public Diplomacy, Medien und Migration sowie Media Literacy.

Dr. Sünje Paasch-Colberg ist Kommunikationswissenschaftlerin mit einem Schwerpunkt auf Medieninhaltsforschung. Ihre Forschung umfasst u. a. die Themen Wahlen und Massenmedien, Medienwirkungsforschung sowie Migration, soziale Integration und Medien. Bis 2024 war sie Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung.