Journalismus im permanenten Wandel und wo die Menschen heute Nachrichten nutzen
Journalismus ist ein Medien- und Kommunikationsphänomen. Das bedeutet, dass sich Journalismus mit den Medien und Arten der Kommunikation wandelt, die im Journalismus zum Einsatz kommen und vom Publikum des Journalismus genutzt werden. So betrachtet befindet sich Journalismus permanent in einem reflexiven und engen Verhältnis zum Medienwandel. Das wird unmittelbar deutlich auch beim Blick zurück, etwa in die frühen 1930er Jahre, als sich das Fernsehen in Deutschland zu etablieren begann und schließlich in den 1960er Jahren die Ära das Farbfernsehens ihren Interner Link: Anfang nahm. Neue Formen des Journalismus ließen und lassen sich also zu allen Zeiten beobachten.
Heute, unter digitalen Medien- und Kommunikationsbedingungen – gesprochen wird auch von der digitalen Gesellschaft –, verbreitet der Journalismus seine Angebote über eine nie gekannte Vielzahl verschiedener Medien und Kanäle: Print, TV und Hörfunk als vergleichsweise klassische Medien haben ebenso ihren festen Platz in journalistischen Routinen wie diverse Arten digitaler Medien inklusive sogenannter sozialer Plattformen wie z. B. Instagram und TikTok oder sogar Messaging-Dienste wie WhatsApp. Die Vielfalt der Medien und der Kommunikationskanäle, die im Journalismus eine Rolle spielen, bezieht sich aber nicht nur auf die Verbreitung bzw. Distribution von Inhalten, sondern Medien sind auch wichtige Mittel im Rahmen journalistischer Recherche und für die Produktion von journalistischen Angeboten.
Journalismus braucht (s)ein Publikum. Das gilt nicht nur in ökonomischer Hinsicht, sondern vor allem auch mit Blick auf seine gesellschaftliche Bedeutung, die er nur entfalten kann, wenn seine Angebote auch von Menschen genutzt werden. Besonders bedeutsam ist für den Journalismus deswegen auch, auf welchen Medien(kanälen) sein Publikum journalistische Angebote nutzt und über welche es sich unter Umständen auch zu Wort meldet bzw. Reaktionen schickt: z. B. indem es Kommentare unter Beiträge schreibt oder Journalist:innen direkt auf Twitter/X adressiert.
Hauptnachrichtenquelle seit 2013 (nach Alter, in Prozent) (bpb)
Nach Befunden des Reuters Institute Digital News Report 2024 überholt das Internet das Fernsehen erstmals seit Durchführung der Studie im Jahre 2013 als wichtigste Nachrichtenquelle der erwachsenen Online-Bevölkerung in Deutschland : 42 Prozent der Befragten bezeichnen das Internet als ihre Hauptnachrichtenquelle, noch allerdings dicht gefolgt von linear ausgestrahlten Fernsehsendungen mit 41 Prozent. Im Internet stellen wiederum soziale Medien die wichtigste Nachrichtenquelle dar (15%) – und ihre Bedeutung als Hauptnachrichtenquelle ist über die Jahre stetig gewachsen. Bei den 18- bis 24-Jährigen ist das Internet als Hauptnachrichtenquelle am bedeutsamsten (65%) und auch der Anteil von sozialen Medien (35%).
So wichtig die Praktiken der Mediennutzung für den Journalismus auch sind: immer wieder neue Formen des Journalismus lassen sich in allen Phasen journalistischer Aussagenentstehung finden: bei der Recherche, bei der Produktion von Beiträgen, im Rahmen ihrer Distribution und selbstverständlich dort, wo es von außerhalb des Journalismus am sichtbarsten ist: bei den Arten von Angeboten und Formaten, in und mit denen sich Journalismus heute präsentiert und (s)einem Publikum anbietet.
Der nachfolgende Beitrag ist vom Allgemeinen zum Speziellen hin aufgebaut, um ein breites Verständnis für (aktuell) neue Formen des Journalismus zu ermöglichen:
Nachfolgend geht es zunächst um allgemeine Trends des Medienwandels, die nicht nur den Journalismus betreffen, sondern die Gesellschaft insgesamt. Dies bildet die Grundlage dafür, deutlich zu machen, dass Journalismus und Medienwandel in einem Wechselverhältnis zueinander stehen, also Journalismus auf eine sich wandelnde Medienumgebung und Mediennutzung reagiert und beides auch gleichzeitig beeinflusst.
Mit Hilfe des Konzepts des sogenannten „X-Journalismus“ werden dann einige Trends skizziert, die für neue(re) Formen im Journalismus stehen – wie z. B. der automatisierte Journalismus oder auch KI-Journalismus.
Im Anschluss geht es um den Pionierjournalismus. Hierunter werden Formen des Journalismus verstanden, die sich explizit der Veränderung des Journalismus widmen und sich auf verschiedene Experimentierfelder beziehen. Hierbei wird es dann auch konkret um Beispiele für neue Formen des Journalismus gehen.
Vieles dreht sich derzeit um den Hype rund um generative KI, weswegen der letzte Abschnitt sich mit KI im Journalismus und mit einem Ausblick beschäftigt.
Trends des Medienwandels
Für ein tieferes Verständnis des Medienwandels und zur Unterscheidung und Identifikation neuer Formen des Journalismus ist es hilfreich, grundlegende Trends des aktuellen Medienwandels in der digitalen Gesellschaft zu identifizieren :
Der erste Trend betrifft die fortschreitende Differenzierung und Verbreitung von digitalen Medien und ihre immer vielfältigeren Funktionen, welche die Verbreitung verschiedener Arten von Inhalten erleichtern – und dies nicht nur für Journalist:innen, sondern potentiell für alle Nutzenden.
Es gibt Videos auf YouTube, in denen der Autor Teile seines Buches vorstellt; hier auch eins, wo es um diese Medientrends geht:
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Der zweite Trend betrifft die durch diese Medien zunehmende Konnektivität, d.h. die Vernetzung verschiedener Medien untereinander, aber auch der Menschen, die sie nutzen und sich so kommunikativ miteinander verbinden.
Dabei haben wir es, das ist der dritte Trend, auch mit einer Omnipräsenz von Medien zu tun: so ist ein deutlicher Ausdruck der sich verändernden Medienumgebung, dass alle möglichen sozialen Begegnungen und Interaktionen heute kaum mehr ohne mobile Kommunikationstechnologien – allen voran das Smartphone – auskommen, und wir also vielfach permanent online sind.
Der vierte Trend ist durch das hohe Innovationstempo gekennzeichnet: Die zeitliche Abfolge von Medien(technologie)innovationen hat sich – auch in der Wahrnehmung vieler Menschen – in den letzten Jahrzehnten deutlich beschleunigt und dynamisiert.
Der fünfte grundlegende Trend ist mit dem Begriff der Datafizierung verbunden. Damit ist beschrieben, dass immer mehr Medien softwarebasiert sind und Menschen im Zuge ihrer Nutzung große Mengen an digitalen Spuren hinterlassen, die, wenn sie entsprechend verarbeitet und ausgewertet werden, wiederum nutzbar gemacht werden können, wie dies etwa für die personalisierte Empfehlung von Nachrichten der Fall ist. Im öffentlichen Diskurs wird dies unter dem Begriff „Big Data“ und den damit verbundenen Potenzialen und Risiken der automatisierten Verarbeitung großer Datenmengen aus digitalen Spuren diskutiert. Formen der Automatisierung von Kommunikation und die Entwicklung sogenannter kommunikativer KI Hepp et al. 2022. haben ihren Ursprung ebenfalls in diesem Trend der Datafizierung.
Im Journalismus zeigen sich diese Trends des Medienwandels in vielfältiger Weise: Die Differenzierung digitaler Medien bringt z. B. mit sich, dass wir journalistische Angebote auch in sozialen Medien wie TikTok finden – auch so etablierte Angebote wie die Externer Link: Tagesschau; die gestiegene Konnektivität und Omnipräsenz digitaler Medien stehen im Journalismus u. a. für eine intensivierte Beziehung zum Publikum ; das gestiegene Innovationstempo hat u. a. dazu geführt, dass es spezielle Förderprogramme für Externer Link: Innovationen im Journalismus gibt; und die Datafizierung hat Auswirkungen auf alle Phasen im Nachrichtenprozess. Die nachfolgende Abbildung verdeutlicht dies idealtypisch mit vier Formen eines datafizierten Journalismus, um zu verdeutlichen, wie Prozesse der Datafizierung (äußerer Kreis) alle Phasen journalistischer Aussagenentstehung (innerer Kreis) beeinflussen:
Abbildung 2 : Vier Formen des datafizierten Journalismus
Besonders augenfällig spiegelt sich der Wandel und die immer neuen Formen des Journalismus also gerade auch in den vielen Journalismusbegriffen – den vielen „X-Journalismen“ – wider, die in Wissenschaft und journalistischer Praxis, aber auch im breiteren öffentlichen Diskurs Verwendung finden.
X-Journalismus: Die vielen (neuen) Namen des Journalismus
Journalismus hat viele Namen und kennt viele Spezifikationen: investigativer Journalismus, partizipativer Journalismus, Sport-Journalismus, Roboter-Journalismus, lokaler Journalismus usw.
Der Begriff „X-Journalismus“ will uns also darauf aufmerksam machen, dass es eine Vielzahl von Journalismusbegriffen gibt, die zu einer bestimmten Zeit auftauchen und dann etwas Neuartiges signalisieren (sollen). Das ist eine Praxis, die wir im Journalismus selbst beobachten können, ebenso aber auch in der Forschung, die an der Analyse und Kategorisierung von (neuen) Phänomenen interessiert ist.
Derzeit ist z. B. viel vom Externer Link: KI-Journalismus die Rede und damit ist eine vergleichsweise neue Form des Journalismus angesprochen, der mit Hilfe von KI-gestützten Softwaresystemen arbeitet. Ein vergleichsweise neuer Journalismusbegriff ist auch der konstruktive Journalismus. Anders als beim KI-Journalismus wird hier nicht der Einsatz bestimmter Technologien betont, sondern eine bestimmte Art journalistischer Aufbereitung und Erzählweise: nämlich eine Art der Berichterstattung, die nicht nur Probleme, sondern auch Lösungen aufzeigt. Zum Ende der 1990er und am Beginn der 2000er Jahre wurde etwa dem partizipativen Journalismus viel Beachtung geschenkt , während heute häufig eher die „dunkle Seite“ von Partizipation im Vordergrund steht: dort, wo es um „Hate Speech“ geht. Vom Facebook-Journalismus spricht heute hingegen keiner mehr. Das ist ein gutes Beispiel dafür, wie sich der Neuigkeitswert des „X“ in einem X-Journalismus-Begriff verflüchtigen kann und an Relevanz verliert.
X-Journalismus-Begriffe können also u. a. auf den Einsatz bestimmter Technologien fokussieren (KI-Journalismus oder Drohnen-Journalismus), ein bestimmtes Berichterstattungsmuster hervorheben (konstruktiver Journalismus oder Friedensjournalismus), eine Art der Publikumsbeziehung betonen (partizipativer Journalismus, Membership-Journalismus), eine bestimmte Art der Ortsbezogenheit hervorheben (hyperlokaler Journalismus, globaler Journalismus) oder auch ein spezifisches Thema bzw. Ressort benennen (Sport-Journalismus, Klima-Journalismus) u.a.m. In allen Fällen werden X-Journalismus-Begriffe immer von jemandem mit einer bestimmten Intention (z. B. Journalist:innen selbst, von Wissenschaftler:innen, Politiker:innen oder auch dem Publikum des Journalismus) und zu einer bestimmten Zeit verwendet – etwa um einen Neuigkeitswert zu signalisieren oder auch um Kritik zu üben (Verlautbarungsjournalismus).
Die Entwicklung und der Wandel des Journalismus ist also begleitet von immer neuen Journalismusbegriffen, die eine Besonderheit und/oder Neuigkeit betonen. Auch in einer solchen zeitlichen Betrachtung kann es also aufschlussreich sein, auf das Auftauchen von X-Journalismus-Begriffen in verschiedenen Diskursen zu achten, um neue Formen des Journalismus auszumachen bzw. solche, bei denen jemand ein Interesse verfolgt, etwas als eine neue Form des Journalismus herauszustellen und zu „bewerben“. Genau darum geht es oft im sogenannten Pionierjournalismus, um den es im folgenden Abschnitt geht.
Die Orientierung am immer wieder Neuen, Innovationsdruck und Pionierjournalismus
Der durch die Digitalisierung vorangetriebene aktuelle Medienwandel hat neue Formen des Journalismus bzw. die Orientierung am immer wieder Neuen und eine immer wieder konstatierte Notwendigkeit für Innovationen im Journalismus zu einem eigenen Thema werden lassen. Das gilt für die Forschung zum Journalismus ebenso wie für die Praxis des Journalismus selbst. Man könnte sogar sagen, dass den Journalismus kaum etwas so nachhaltig und intensiv beschäftigt wie sein eigener Wandel und die Frage nach der Zukunft des Journalismus angesichts von Reichweitenverlusten, fragilem Medienvertrauen, nicht mehr funktionierenden Geschäftsmodellen, dem Einsatz von (generativer) KI in immer mehr Arbeitsfeldern – um nur einige der in diesem Zusammenhang neuralgischen Themen zu nennen. Sowohl der Praxis als auch der Wissenschaft lässt sich also eine gewisse Wandelfixierung attestieren und in den meisten Fällen ist damit eine Tendenz verbunden, sich auf das jeweils „Neue“ zu konzentrieren bzw. auf das, was gerade als „innovativ“ gilt: das gerade „trendige“ Medium, die „letzte“ Technologie (wie aktuell generative KI), besonders „kreative" Angebote oder neue Organisationen in Gestalt von Start-ups, die immer wieder einen völlig neuen Journalismus versprechen. Gleichzeitig wird „Innovation“ dabei im Allgemeinen positiv konnotiert und dominiert eine Mangel- bzw. Unfähigkeitsdiagnose der Innovationsfähigkeit von Medien und Journalismus. Die ständige Auseinandersetzung mit Innovationen ist aber nicht nur ein Kennzeichen des Umgangs des Journalismus mit (Medien-)Wandel. So spricht man in der Soziologie davon, dass wir heute in einer „Innovationsgesellschaft“ leben, die sich u. a. dadurch auszeichne, dass es in allen möglichen gesellschaftlichen Bereichen – und nicht nur in den traditionell mit Neuheit verbundenen wie Wirtschaft, Kunst und Wissenschaft – die Möglichkeiten und Strukturen für die Hervorbringung von Innovationen gezielt gesteigert werden und so etwas wie ein Dauerthema geworden sind.
Gleichwohl sollte ein distanzierter und kritischer Blick auf die Orientierung am jeweils Neuen nicht den Blick verstellen auf den Wandel des Journalismus und auf damit einhergehende neue Formen, die insbesondere in einer Langzeitperspektive deutlich werden. Eine solche Langzeitperspektive nimmt eine Studie ein, die insgesamt 108 Expert:innen aus Wissenschaft und Praxis des Journalismus in fünf europäischen Ländern (Österreich, Deutschland, Spanien, Schweiz, Vereinigtes Königreich) dazu interviewt hat, was diese für die wichtigsten Innovationen im Journalismus in den letzten zehn Jahren halten. In allen Interviews wurden insgesamt ca. 1.000 Innovationen genannt, welche die Verfasser der Studien in 49 Innovationsbereiche zusammengefasst haben, um hieraus noch einmal die 20 wichtigsten zu bestimmen. Schon alleine an diesen Zahlen erkennt man die Fülle an Entwicklungen, die als Innovationen im Journalismus ausgemacht werden.
Als Innovationsbereiche, die in allen fünf Ländern als wichtig eingestuft wurden, wurden die folgenden identifiziert (ebd.):
neue Formen der Organisation journalistischer Arbeit und des Arbeiten in Teams.
In vier Ländern gehörten außerdem neue Formen digitaler journalistischer Erzählweisen, Audio und Podcasts sowie die Organisation von „Remote Work“ zu den 20 wichtigsten Innovationsbereichen. Die Themen Fakten-Checking, sogenannte Membership-Modelle, Newsletter, Media-Labs sowie Stiftungsfinanzierung und Crowdfunding gehörten in drei Ländern zu den Top-20 der Innovationsbereiche. 17 Innovationsbereiche gehörten nur in einem oder zwei Ländern zu den wichtigsten. So wurde z. B. „Qualitätsmanagement” nur in der Schweiz als besonders wichtiger Innovationsbereich der letzten zehn Jahre hervorgehoben.
Abbildung 3: Innovationsbereiche im Journalismus in fünf Ländern (Ausschnitt) Tabelle
Diese Befunde zeigen zum einen, dass die Liste der genannten Innovationen im Journalismus, die von Expert:innen für die letzten zehn Jahre als besonders relevant eingestuft wurden, recht lang und vielfältig ist, es Länder übergreifend relevante Innovationsbereiche, aber auch Spezifika in einzelnen Ländern gibt. Zum anderen wird deutlich, dass sich über die fünf untersuchten Länder hinweg einige Trends zeigen: die zunehmende Bedeutung von Daten, KI und Automatisierung für journalistische Arbeit, das anhaltend relevante Thema der Finanzierung des Journalismus, aber auch, dass Innovationen sich auch darauf beziehen, wie sich journalistische Arbeit neu organisiert – etwa durch Kollaborationen (im investigativen Journalismus) und dem Arbeiten in Teams, aber auch im Hinblick darauf, dass es zunehmend als wichtig erachtet wird, dass journalistische Redaktionen divers besetzt sind.
Wenn neue Formen des Journalismus also nur mit Blick auf jeweils neue Medien oder Technologien gesucht werden, kann dies leicht zur Folge haben, dass darunterliegende Veränderungen übersehen werden. Um dies zu untersuchen, ist in der Forschung der Begriff des Pionierjournalismus entwickelt worden. Gemeint sind damit solche Formen des Journalismus, „die durch experimentelle Praktiken und Imaginationen einer zukünftigen Entwicklung des Journalismus auf eine Neudefinition des Feldes abzielen“, die also heute, in der Gegenwart, auf die Zukunft des Journalismus ausgerichtet sind, hierzu bestimmte Vorstellungen und Ideen haben und diese auch erproben.
Im Rahmen des Forschungsprojekts „Pionierjournalismus“ ist vor diesem Hintergrund u. a. eine Externer Link: Website entstanden, die „pionierhafte“ Akteure, Unternehmen und Projekte in Deutschland sammelt und kategorisiert. Unterschieden werden hier verschiedene Akteurstypen (z. B. Innovationsabteilungen etablierter Medienorganisationen, Start-Ups und sogenannte „Acceleratoren“ bzw. Organisationen, die sich mit der Unterstützung oder Förderung von Innovationen im Journalismus beschäftigen wie z. B. das Externer Link: Media Lab Bayern) sowie vier Experimentierbereiche, die im Pionierjournalismus in Deutschland eine Rolle spielen: die Entwicklung neuer Produkte, Arbeitsweisen, Finanzierungsformen, Publikumsbeziehungen und Technologien.
Pionierjournalismus in Deutschland
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Greifen wir hier zur Illustration einmal vier Beispiele neu(er)er Formen im Journalismus auf, die sowohl in der oben genannten Studie mit der Expert:innenbefragung auftauchen als auch auf der Website zum Pionierjournalismus, dann sind das etwa
Externer Link: Perspective Daily, ein Online-Medium und eine junge Organisation, die ihren Sitz in Münster hat und sich dem konstruktiven Journalismus widmet, also einem Journalismus, der auch mögliche Lösungen für gesellschaftliche Probleme aufzeigen will; im Mittelpunkt steht hier also ein journalistisches Produkt mit einer spezifischen Ausrichtung, Perspective Daily arbeitet aber auch mit einer neu(er)en und engen Form der Publikumsbeziehung und hat schon mit Crowdfunding-Kampagnen gearbeitet;
Externer Link: Correctiv, die sich als „gemeinwohlorientiertes Medienhaus“ verstehen, eine Ausrichtung auf investigativen Journalismus haben und sich aus privaten Spenden, institutioneller Unterstützung z. B. durch Stiftungen und eigenen Einnahmen etwa aus Büchern Externer Link: finanzieren; Correctiv ist damit Teil eines größeren Netzwerks im (Pionier-)Journalismus, das sich für Externer Link: gemeinnützigen bzw. Externer Link: Nonprofit-Journalismus einsetzt, also auch mit neuartigen Finanzierungsformen für Journalismus experimentiert;
Externer Link: Steady, deren Geschäftsmodell es ist, anderen ein Geschäftsmodell zu eröffnen, indem sie eine (technologische) Infrastruktur anbieten, die es Medienmacher:innen auch mit kleineren Spartenangeboten wie Podcasts, Blogs oder Newslettern ermöglichen soll, eine „Community“ aufzubauen bzw. „zahlende Mitglieder“ zu gewinnen, über die sie sich finanzieren können;
Externer Link: SWR X Lab , das sich als „Innovationslabor“ bezeichnet und für eine noch vergleichsweise neue Einheit bzw. gesonderte Abteilung in etablierten Medienorganisationen steht, die für „Innovation“ und „Entwicklung“ zuständig sind, also im Allgemeinen dafür, innerhalb einer trägeren Organisation experimentell(er)e Räume zu schaffen.
Wie das SWR X Lab auf seiner Website die eigene Arbeitsweise beschreibt, eint viele Akteure, die sich mit Innovationen im Journalismus beschäftigten: Oft ist Externer Link: die Rede von „digitalen Projekten mit agiler Arbeitsweise, „nutzerzentrierten Angeboten“, „Prototypen“ und „Produkten“. Dass dies typische Praktiken und Orientierungen im Pionierjournalismus benennt, wird jedenfalls in dem im o.g. Forschungsprojekt „Pionierjournalismus“ herausgestellt: die besondere Bedeutung, die digitalen Technologien für die Innovationsfähigkeit des Journalismus beigemessen wird, die Arbeit in temporären Projekten und Teams, die Betonung der Wichtigkeit „agiler Arbeitsweisen“ und die nutzerzentrierte Entwicklung von Prototypen zur Entwicklung neuer Produkte. All dies steht für das Aufgreifen von Organisationsmethoden und Arbeitstechniken des sogenannten agilen Projekt- und Produktmanagements wie etwa „Design Thinking“ oder „Scrum“, die auch aus der Software-Entwicklung bekannt sind, und ihre Übertragung auf den Journalismus und auf journalistische Arbeitsweisen. Entsprechend bringt der Pionierjournalismus neue Arbeitsformen mit sich, die nicht unter die klassisch-journalistischen Tätigkeiten fallen und die anders aussehen als die Arbeit in journalistischen Redaktionen. Hier haben wir es also mit neuen Formen des Journalismus zu tun, die nicht auf den ersten Blick ins Auge springen, den Journalismus aber nachhaltig verändern.
Auffällig ist auch, dass im Pionierjournalismus – das verdeutlichen auch die o. g. Beispiele – oft ein besonderes Verständnis von Journalismus zum Ausdruck kommt: ein Journalismus, der
sich enger an den Bedürfnissen seines Publikums ausrichten will,
nicht nur über Probleme berichten will, sondern auch konstruktiv Lösungen aufzeigen will,
gemeinwohlorientiert und unabhängig von Werbeeinnahmen seiner Kritik- und Kontrollfunktion nachkommen und die Demokratie stärken will u. a. m.
Die neuen Formen im Journalismus reagieren damit auch auf verschiedene Externer Link: Krisenmomente, die den Journalismus seit langem betreffen wie z. B. Reichweitenverluste, angeschlagenes Medienvertrauen, Nachrichtenmüdigkeit und Nachrichtenvermeidung, gestiegene Ansprüche an Partizipation, Transparenz und Dialog beim Publikum, weggebrochene Werbeeinnahmen und Desinformationen.
Wie gut, nachhaltig oder erfolgreich solche neuen Formen des Journalismus diesen Herausforderungen in ihrer täglichen Praxis begegnen (können) ist eine andere Frage, insgesamt stehen sie aber ohne Zweifel für Veränderungen im gesamten Feld des Journalismus. So lässt sich etwa für Berichterstattungsmuster wie den Externer Link: Datenjournalismus oder den Externer Link: konstruktiven Journalismus beobachten, wie sie über die Jahre von ehemals neuen Formen des Journalismus mehr und mehr im journalistischen Alltag vieler Redaktionen angekommen sind, also von den Rändern in den Kern des Journalismus gewandert sind.
Ausblick: Die zunehmende Bedeutung von KI im Journalismus
Das, was als neu gilt, liegt im Auge des Betrachters bzw. der Betrachterin. In der Werbung ist die Konstruktion des Neuen z.B. Teil des Prinzips – auch dies kann verdeutlichen, dass es sinnvoll ist, Neuigkeitsversprechen mit einer gewissen kritischen Distanz zu begegnen.
Im Journalismus ist die Suche nach und das Experimentieren mit neuen Formen mit der Digitalisierung und der Etablierung des Internets zu einem zentralen Thema geworden – das ist also keine neue Entwicklung mehr. Die Gegenwart des Journalismus ist in der digitalen Gesellschaft mit ihren gewandelten Medien- und Kommunikationsbedingungen also seit vielen Jahren auch von Imaginationen von möglichen Zukünften des Journalismus geprägt. Dies mag zunächst abstrakt klingen, kann aber den Blick dafür öffnen, dass die Art und Weise, wie wir uns mit der Zukunft beschäftigen, immer in der Gegenwart stattfindet. Auch wenn wir nicht wissen können, wie sich dies schließlich in der Zukunft auswirken wird, können wir sicher sein, dass es Auswirkungen haben wird. Das macht die Auseinandersetzung mit Fragen zur Zukunft so voraussetzungsvoll und auch verantwortungsvoll.
Veröffentlichte Artikel über Künstliche Intelligenz (KI) (bpb)
Aktuell zeigt sich dies sehr deutlich am Thema „KI und Journalismus“. Im praktischen Journalismus ist dies schon länger ein Thema, aber mit der Veröffentlichung und der breiteren Zugänglichkeit des Chatbots und Large Language Models Externer Link: ChatGPT des Unternehmens OpenAI ist das Thema in der breiten Öffentlichkeit angekommen und viele Medien haben darüber berichtet – und damit auch der Journalismus über die eigene Betroffenheit. So wird in Analysen zur Medienberichterstattung zum Thema KI klar ersichtlich, dass es zu Beginn des Jahres 2023 einen deutlichen Externer Link: Anstieg der KI-Berichterstattung gab und dass sich die Mehrheit der Beiträge mit ChatGPT von OpenAI beschäftigt hat.
In der Befragung des Reuters Institute Digital News Report 2024 wird die Nutzungsseite beleuchtet und gezeigt,
dass in Deutschland die Mehrheit der Befragten sehr oder mäßig viel über KI gelesen oder gehört hat (52 Prozent),
dies allerdings in verschiedenen Altersgruppen unterschiedlich verteilt ist – am meisten vertraut mit dem Thema sind die unter 35-Jährigen (sehr viel oder mäßig viel über KI erfahren haben bei den 18- bis 24-Jährigen 60 Prozent; bei den 25- bis 34-Jährigen sind es 63 Prozent), knapp die Hälfte (49 Prozent) der Menschen im Alter von über 54 hat bisher wenig oder überhaupt nichts von dem Thema erfahren – und auch, dass
dem Einsatz von KI im Journalismus eher mit Skepsis begegnet wird.
Am unwohlsten fühlen sich die Befragten, wenn es um Nachrichten geht, die hauptsächlich durch KI produziert werden: 50 Prozent aller Befragten fühlen sich damit „unwohl“. Die Akzeptanz steigt, wenn es um Beiträge geht, die mit „etwas Hilfe von KI produziert“ werden; hier sagen noch 24 Prozent, dass sie sich damit unwohl fühlen (ebd.).
Beim Vergleich verschiedener Themen zeigt die Befragung, dass die Akzeptanz gegenüber automatisiert erstellten Nachrichten zum Thema Wissenschaft und Technik sowie Sport am größten ist, bei automatisiert erstellten Nachrichten zu den Themen Politik und Kriminalität haben die Menschen hingegen das größte Unbehagen : Nur 12 bzw. 14 Prozent haben ein gutes Gefühl bei der Nutzung von Nachrichten zu diesen beiden Themengebieten, die hauptsächlich durch künstliche Intelligenz mit etwas menschlicher Aufsicht produziert wurden. Eine repräsentative Bevölkerungsumfrage in der Deutschschweiz und der Suisse romande zeigt in ähnlicher Weise, dass die Akzeptanz für vollständig oder teilweise KI-generierte Textbeiträge im Journalismus gering ist – und auch in dieser Umfrage zeigt sich, dass sie für Politikberichterstattung am geringsten ist , die Menschen also bei gesellschaftlich besonders relevanten und komplexen Themen am kritischsten sind, was den Einsatz von KI betrifft.
Der Journalismus reagiert hierauf u. a. mit der Entwicklung von Richtlinien bzw. Guidelines zur Verwendung von KI im Rahmen journalistischer Arbeit, die einem verantwortungsvollen Umgang mit KI im Journalismus förderlich sein sollen. Eine Studie, die 37 solcher Guidelines in 17 Ländern ausgewertet hat, kommt zu dem Ergebnis, dass sich die Leitlinien vorrangig auf die Themen
Transparenz,
Rechenschaftspflicht,
Fairness,
Unabhängigkeit und
die Bewahrung journalistischer Werte
beziehen. Als besonders bedeutsam wird in den Guidelines die Bedeutung menschlicher Kontrolle bzw. Aufsicht über KI-Systeme, die Erklärbarkeit von KI-Systemen, die Kennzeichnung automatisierter Inhalte und der Schutz von Nutzerdaten herausgestellt (ebd.).
Ein Beispiel für eine solche KI-Richtlinie findet sich etwa beim Externer Link: Bayerischen Rundfunk (BR), der mit seinem Externer Link: AI + Automation Lab zu einem der Vorreiter in diesem Feld in Deutschland gehört. Dort arbeitet man z. B. auch mit dem Ansatz des sog. Algorithmic Accountability Reporting , um über KI unter Einsatz von technischen Investigationsverfahren kritisch zu berichten – also mit KI über KI.
Als ein international einflussreicher Akteur mit Blick auf die Verbreitung von KI-Anwendungen im Journalismus kann die Initiative Externer Link: JournalismAI, die von der Google News Initiative gefördert wird und an der London School of Economics und Politics angesiedelt ist, gelten. JournalismAI organisiert jährlich ein Externer Link: Festival, das einen guten Überblick über aktuelle Entwicklungen gibt: 2023 waren das z.B. Themen wie Bildergenerierung mit KI, KI-Tools für kleine Redaktionen, wie man Daten „chat-able“ machen und z. B. Chatbots zur Wahlberichterstattung entwickeln kann oder auch wie KI zur Verifikation von Inhalten eingesetzt werden kann u. v. m.
Geht es um KI im Journalismus haben wir es also mindestens mit fünf Perspektiven auf das Thema zu tun; KI als
Technologie, welche die Gesellschaft insgesamt betrifft und damit auch die Medien- und Informationsumgebung verändert, in der und mit der Journalismus arbeitet;
Thema der Berichterstattung mit ganz unterschiedlichen Facetten und als eines, über das auch kritisch berichtet werden muss;
praktisches Werkzeug in journalistischen Arbeitsprozessen und in allen Phasen journalistischer Aussagenentstehung;
Mittel zur Organisation journalistischer Arbeit (KI als Chefredakteur:in?);
Technologie, die auch beim Publikum des Journalismus auf bestimmte Einstellungen und Erfahrungen trifft.
Die hier angesprochenen Entwicklungen muss man als die Anfänge auf dem Weg zur weiteren Etablierung und Verbreitung von KI-Systemen im Journalismus bezeichnen. In jedem Falle werden sie die journalistische Praxis in den nächsten Jahren weiter verändern und zu neuen Formen des Journalismus beitragen.
Dr. Wiebke Loosen ist Senior Researcher am Leibniz-Institut für Medienforschung (HBI) und Professorin an der Universität Hamburg (gemäß §17 HmbHG). Zu ihren Arbeitsschwerpunkten zählen die Transformation des Journalismus in einer sich wandelnden Medienumgebung, die Journalismus/Publikum-Beziehung, Formen des Pionierjournalismus sowie die Datafizierung und Automatisierung von Kommunikation.