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Die Vereinten Nationen und die Nationalstaaten

Lothar Brock

/ 11 Minuten zu lesen

(© picture alliance / Xinhua News Agency | Eskinder Debebe/UN Photo)

Die Vereinten Nationen (UN) wurden am Ende des Zweiten Weltkrieges in San Francisco gegründet, um weitere Kriege zu vermeiden, die Wohlfahrt aller Menschen zu fördern und ihre Rechte zu schützen. Das soll nicht durch eine Einschränkung staatlicher Souveränität und die Delegation staatlicher Aufgaben an die UN geschehen. Vielmehr liefern die Vereinten Nationen einen Rahmen für das Zusammenleben und die Zusammenarbeit der souveränen Staaten. Und nicht nur das: Die Vereinten Nationen stehen für das Recht aller Menschen, in einem souveränen Staat zu leben, sofern dieser Staat auf dem Grundsatz der Selbstbestimmung der Völker beruht.

Die Präambel der UN-Charta bringt das zum Ausdruck, indem sie „die Völker“ als die eigentlichen Subjekte des Zusammenschlusses identifiziert. Die in San Francisco vertretenen Regierungen handelten so gesehen lediglich als Repräsentanten der Völker. Warum heißen die Vereinten Nationen dann aber nicht „Vereinte Völker“? In der Namensgebung kommt zum Ausdruck, dass es hier um die politische Identität der Völker als Nationen geht. Diese politische Identität manifestiert sich im „Nationalstaat“, d.h. in einem territorialen Herrschaftsverband (Max Weber), dessen Bevölkerung als politische Gemeinschaft gilt, die sich (nach unterschiedlichen Definitionskriterien) von den jeweils anderen Gemeinschaften unterscheidet. In diesem Sinne sind die Vereinten Nationen eine Organisation der Nationalstaaten bzw. ein Zusammenschluss von Nationen, die auf der internationalen Bühne durch ihre jeweiligen Regierungen in Erscheinung treten.

Die Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen erlaubt es den Staaten aber auch, sich als Teil einer internationalen Gemeinschaft mit gemeinsamen Problemen und gemeinsamen Verantwortlichkeiten zu verstehen. Damit weist die Existenz der UN über die Nationalstaaten hinaus: Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts erhielt diese Sichtweise der Vereinten Nationen erheblichen Auftrieb. Die UN wurden zum Fokus eines neuen Internationalismus, der die Bedeutung des Nationalstaates für die Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung der Weltordnung zugunsten transstaatlicher oder nicht-staatlicher Formen des Regierens relativierte. Im Gegensatz dazu stellt sich heute mit wachsender Dringlichkeit die Frage, ob das Zusammenleben der Nationen von einer erneuten Verabsolutierung des nationalstaatlichen Bezugsrahmens aller Politik, also von einem neuen Nationalismus überlagert wird, der das Selbstverständnis der Staatenwelt als internationale Gemeinschaft aushöhlen und damit auch die Vereinten Nationen zu einer leeren Hülle werden ließe, die in diesem Falle über kurz oder lang zerfallen würde.

Aufgabenstellung der Vereinten Nationen

Nach der Gründung und dem Scheitern des Völkerbundes bilden die Vereinten Nationen den zweiten Versuch, eine allgemeine internationale Organisation zu schaffen, die die Einzelstaaten in ein System der umfassenden Kooperation einbindet. Dem dienen Vorkehrungen für die kollektive Friedenssicherung, die Förderung und den Schutz der Menschenrechte und die Förderung der weltweiten materiellen Wohlfahrt (zu der heute auch die Eindämmung des Klimawandels und die Durchsetzung des Prinzips der Nachhaltigkeit gehören).

Die kollektive Friedenssicherung umfasst ein allgemeines Gewaltverbot, ein Interventionsverbot (Art. 2 Abs. 4 und Abs. 7 UN-Charta) und ein Gebot zur friedlichen Beilegung von Streitigkeiten (Kap. VI UN-Charta). Die Gründungsmitglieder der UN glaubten aber nicht, die Menschheit schon dadurch „vor der Geißel des Krieges bewahren“ zu können (Präambel UN-Charta), dass man den Krieg verbietet. So wurden im Kapitel VII der UN-Charta spezielle Regelungen für die Bewahrung oder Wiederherstellung des Friedens geschaffen. Die zentrale Rolle kommt dabei dem UN-Sicherheitsrat zu, der die Möglichkeit hat, mit diplomatischer und wirtschaftlicher Druckausübung und notfalls mit militärischer Zwangsgewalt in einen Konflikt einzugreifen.

Die UN-Aktivitäten auf dem Gebiet der Sicherung oder Wiederherstellung des Friedens sind schon bald nach der Gründung der UN durch eine Praxis erweitert worden, die in der Charta gar nicht vorgesehen ist: das Peacekeeping. Es handelt sich dabei um die Entsendung von UN-Friedenstruppen, die im Einvernehmen mit den Konfliktparteien durch ihre physische Präsenz Kampfhandlungen unterbinden und den nötigen Raum für Friedensverhandlungen schaffen bzw. offen halten sollen. Nach dem Ende des Ost-Westkonflikts kam es zu einer explosionsartigen Zunahme von Friedensmissionen dieser Art, die von einem entsprechenden Ausbau der UN-Kapazitäten und einer Professionalisierung ihres Einsatzes begleitet waren und sind. Der Erfolg der Friedensmissionen bleibt aber umstritten.

Förderung der allgemeinen Wohlfahrt

Die Förderung der allgemeinen Wohlfahrt ergänzt die Bestimmungen der Charta zur kollektiven Friedenssicherung, indem sie helfen soll, Konfliktursachen abzubauen; sie ist jedoch auch ein eigenständiges Ziel der UN, dem die Einrichtung eines Wirtschafts- und Sozialrates mit zahlreichen ihm angeschlossenen Untergliederungen dient. Das politische Schwergewicht der Zusammenarbeit auf diesem Gebiet lag und liegt bei Spezialeinrichtungen, die formal zwar zum UN-System gehören, aber weitgehend eigenständig arbeiten. Hierzu zählen die in zeitlichem Zusammenhang mit den UN gegründeten Einrichtungen für die Regulierung des Welthandels, die Finanzierung von Entwicklungsvorhaben, die Stabilisierung der Welt-Währungsbeziehungen und zur Sicherung der Welternährung (Weltbank, Internationaler Währungsfonds, Allgemeines Zoll- und Handelsabkommen [heute Welthandelsorganisation] und Welternährungsorganisation).

Der Wirtschafts- und Sozialrates der UN verfügt über weniger Gestaltungskompetenz. Allerdings haben sich die Aktivitäten der UN auf wirtschaftlichem und sozialem Gebiet inzwischen sehr weit ausdifferenziert. Das geschah durch die Einberufung internationaler Konferenzen und die Einrichtung von Arbeitsprogrammen, die zu quasi-permanenten Einrichtungen der UN wurden. Hierzu zählen die Welthandels- und Entwicklungskonferenz der UN (UNCTAD), die 1992 ins Leben gerufene Umweltkonferenz, die Entwicklungs-, Umwelt-, Bevölkerungs- und Umweltprogramme der UN und das Kinderhilfswerk.

Schutz der grundlegenden Rechte eines jeden Menschen

Die Förderung und der Schutz der grundlegenden Rechte eines jeden Menschen und seiner Lebensgemeinschaften werden in der UN-Charta ebenfalls als eigenständiges Ziel vorgegeben. Die Rechte sind aber nicht Bestandteil der Charta (wie das bei den Grundrechten im deutschen Grundgesetz der Fall ist), sondern werden in der (rechtlich unverbindlichen) Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 ausgeführt. Als besonders heikel hat sich inzwischen das Verhältnis von klassischen Abwehr- und Freiheitsrechten auf der einen Seite, den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten auf der anderen, erwiesen. Die Menschenrechtspakte von 1966 akzentuieren diese Gegenüberstellung und eröffnen die Möglichkeit, sich ihnen durch Zusatzprotokolle verbindlich zu unterwerfen.

Die Wiener Menschenrechtskonferenz von 1993 versuchte darüber hinaus, die Kluft zwischen Abwehr- und Teilhaberechten dadurch zu überbrücken, dass sie den Grundsatz der Unteilbarkeit der Menschenrechte und ihrer universellen Geltung verabschiedete. Der Streit um die Menschenrechte ist damit nicht erledigt. Er ist durch die Debatte über die Verantwortung jeder Regierung und der internationalen Gemeinschaft für den Schutz von Menschen vor Massenverbrechen („Schutzverantwortung“) im Rahmen „humanitärer Interventionen“ weiter angefacht worden.

Die Regelungen auf dem Gebiet der kollektiven Friedenssicherung, der materiellen Wohlfahrt und der Menschenrechte sollen dazu beitragen, die materiellen Grundlagen für ein friedliches Zusammenleben der Staaten und auch für das friedliche Zusammenleben der Menschen in den Staaten zu schaffen und zu verbessern. Die Vereinten Nationen sind mit ihren auf diesen Zweck ausgerichteten Bemühungen nicht ganz erfolglos geblieben. Insbesondere bei der Formulierung von Standards angemessenen Verhaltens und umfassender Agenden der internationalen Zusammenarbeit haben sie Erstaunliches geleistet (zuletzt Agenda 2030, Pariser Klima-Abkommen, beide von 2015). Sie haben damit die Bereitschaft der Mitgliedsstaaten, sich als Teil einer internationalen Gemeinschaft zu verstehen, aber nur vorübergehend gefestigt, obwohl die Vereinten Nationen selbst dazu beigetragen haben, das Prinzip der nationalstaatlichen Organisation des gesellschaftlichen Lebens und aller Politik weltweit durchzusetzen. Man könnte meine, die UN befänden sich in der Lage eines Zauberlehrlings, der zum Opfer der Geister wird, die er gerufen hat.

Universalisierung des Nationalstaatsprinzips

Die Vereinten Nationen wurden von 50 bzw.51 Staaten (nach der späteren Akkreditierung der polnischen Regierungsvertreter) gegründet. Heute gehören ihnen 192 Staaten an. Die eklatante Erhöhung der Mitgliederzahl ist in zwei großen Schüben erfolgt: im Gefolge der Auflösung der Kolonialreiche und nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Alle neuen Staaten, die sich im Laufe dieser beiden Entwicklungen bildeten, konnten in die UN eintreten, weil die UN im Unterschied zum Völkerbund als universale Organisation gegründet wurden. Die UN beruhen auf dem Grundsatz der Inklusion und nicht der Exklusion, die für die Nationalstaaten kennzeichnend ist. Gegenwärtig wird im Rahmen der UN aber versucht, die Exklusivität der Nationalstaaten dadurch abzuschwächen, dass Wanderungsbewegungen zwischen den Staaten in geregelte Bahnen gelenkt werden (Migrationspakt von 2018).

Die UN haben selbst wesentlich dazu beigetragen, dass wir heute in einer Welt der (exklusiven) Nationalstaaten leben. Als die UN gegründet wurden, standen weite Gebiete Afrikas und Asiens noch unter Kolonialherrschaft. Die Charta sprach den Kolonialismus nicht ausdrücklich an. Sie bekannte sich aber zum Grundsatz der kollektiven Selbstbestimmung, der Gleichberechtigung und der grundlegenden Rechte aller Menschen ungeachtet ihrer ethnischen Zugehörigkeit, ihres Geschlechts, ihrer Sprache oder Religion. Gleichzeitig formulierte Art. 1 der UN Charta, dass die UN ein Zentrum für die Harmonisierung aller Anstrengungen zur Verwirklichung dieser gemeinsamen Ziele seien. Die UN boten sich also als Arena oder Forum für die weltweite Verwirklichung von Zielen an, die mit einer Fortsetzung des Kolonialismus unvereinbar waren. In diesem Sinne musste auch der Treuhandrat als Einrichtung für den Übergang vom Kolonialismus zu einer post-kolonialen Ordnung verstanden werden, obwohl der von den Treuhandstaaten nicht unbedingt so verstanden wurde. Erst die Durchsetzung der Unabhängigkeit der ehemaligen Kolonien durch die damals so bezeichneten nationalen Befreiungsbewegungen, die sich auf die Grundsätze der UN-Charta beriefen, wendete das Blatt. Die ehemaligen Kolonien wurden unter dem Schirm der UN als Nationalstaaten selbständig, wobei die Nationalstaatlichkeit aber umstritten blieb. Ethnisch ausgerichtete Konflikte führten vielfach zur Fortsetzung der Unabhängigkeitskämpfe innerhalb der neuen Staatsgebiete und im Falle Ruandas 1994 sogar zum Völkermord.

Die neuen Staaten entstanden innerhalb der von den Kolonialmächten gezogenen Grenzen. Hierin manifestiert sich die Widersprüchlichkeit oder zumindest Unschärfe des Begriffs der Nation. Der Begriff verweist zum einen auf die besondere Zusammengehörigkeit der Bevölkerung eines bestimmten Territoriums; diese Zuordnung ist aber zugleich das Ergebnis partikularer politischer Interessen; denn wer in welchen Grenzen zur Nation gehört, ist der Ausübung von Herrschaft nicht vorgegeben, sondern entsteht in Wechselwirkung mit ihr.

Die UN boten also den Rahmen für die Emanzipation der ehemaligen Kolonien, sie richteten den Emanzipationsprozess aber am Modell des in Europa gewachsenen Nationalstaates und den durch die Kolonialmächte gezogenen Grenzen aus und schränkten ihn damit zugleich ein. Das gilt auch für die Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion, wobei die Selbstbestimmung in diesem Fall weitgehend an vorsowjetische Formen der Eigenständigkeit anknüpfte.

Sozialisationseffekte der UN

Nicht alle Mitgliedsländer der UN sind im europäischen Verständnis Nationalstaaten. Die Mitgliedschaft in den UN bietet aber eine gewisse Garantie dafür, dass auch fragile oder versagende Staaten als solche angesehen und unterstützt werden. In dieser Hinsicht sind die UN konservativ. Als Arena für die Formulierung von weitreichenden Standards angemessenen Verhaltens und von Agenden der Zusammenarbeit erfüllen sie jedoch eine progressive Funktion. Damit verbindet sich bei den Befürwortern einer fortschreitenden Einbindung der Staaten in ein System internationaler Organisationen die Hoffnung, dass die Staaten die im Rahmen der UN formulierten Normen internalisieren und Kooperation nicht nur von Fall zu Fall als in ihrem Interesse liegend betrachten, sondern eine Identität herausbilden, zu der die Bereitschaft zum kooperativen, gewaltfreien Umgang mit Konflikten gehört (zivile Konfliktbearbeitung). D

ie Politikwissenschaft hat insbesondere in den 1990er Jahren auf solche Sozialisationseffekte der UN-Mitgliedschaft und die Herausbildung einer Kooperationsroutine gesetzt. Aber Kooperation ist auch mit gewissen materiellen und ideellen Kosten verbunden. Dieser Sachverhalt fördert ein opportunistisches Verhalten, das je nach Interessenlage und Machtposition auch in einen Widerstand gegen die Einschränkung staatlicher Handlungsfreiheit durch Gemeinschaftsaufgaben oder Verhaltensregeln münden kann. Dieser Widerstand scheint heute in vielen Staaten größer zu sein als Ihre Bereitschaft, sich an der Erledigung von Gemeinschaftsaufgaben zu beteiligen. Wenden sich die Nationalstaaten gegen die Vereinten Nationen, obwohl gerade die UN viel zur Universalisierung des Nationalstaatsprinzips beigetragen haben?

Dass nach dem Scheitern des Völkerbundes der Versuch, den Frieden durch eine allgemeine internationale Organisation zu sichern oder wiederherzustellen, nicht aufgegeben sondern weiterentwickelt wurde, ist keineswegs selbstverständlich. Darin spiegelt sich die unmittelbare Kriegserfahrung wie auch ein wachsendes Bewusstsein für die Vorteile institutionalisierter Zusammenarbeit zwischen den Staaten bei wachsender wechselseitiger Abhängigkeit. So wirkten die amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson und Franklin D. Roosevelt maßgeblich an der Bildung von Völkerbund und UN mit. Während der US Senat jedoch den Beitritt zum Völkerbund verweigerte, konnten sich die amerikanischen Isolationisten am Ende des Zweiten Weltkrieges nicht (mehr) durchsetzen. Das lag besonders an zwei Faktoren: dem Interesse der USA an der Verhinderung einer (erneuten) wirtschaftlichen Nachkriegsrezession und ihrem Interesse an der Aufrechterhaltung ihres im Krieg neu erworbenen weltpolitischen Führungsanspruchs.

Die Entscheidung der USA für eine Nachkriegsordnung im Rahmen einer allgemeinen internationalen Organisation beruhte also auf einer Kosten-Nutzen-Abwägung, in die aber auch ideelle Faktoren wie die Förderung der Menschenrechte angesichts der Gräuel des Holocaust eingingen. Auch Russen, Briten und Franzosen kam es darauf an, die Schaffung einer stabilen Nachkriegsordnung mit der Wahrung nicht nur ihrer Interessen sondern ihrer Identität als Siegermächte über den Faschismus zu verbinden. Die besondere Struktur des Sicherheitsrates mit den fünf Ständigen Mitgliedern, die dort über ein Veto verfügen, ist Ausdruck dieser Interessenlage. Das Veto der fünf Ständigen Mitglieder ist eine schwere Hypothek für das Funktionieren der Vereinten Nationen. Ohne diesen Sonderstatur der Siegemächte und Chinas wären die UN jedoch nicht zustande gekommen.

Das Entscheidende ist hier jedoch nicht, dass hinter der Gründung der UN die je spezifischen Interessen der Siegermächte steckten, sondern dass die Siegermächte es als in ihrem Interesse liegend verstanden, die Idee einer Weltorganisation, die mit dem Völkerbund zunächst gescheitert war, wieder aufzugreifen und in Gestalt der UN weiterzuentwickeln. Es spricht eher für als gegen die welthistorische Bedeutung dieser Entscheidung, dass Staaten oder politische Gruppierungen heute teilweise von den UN abrücken und sich verstärkt ihr Heil in der eigenen Nation suchen. Es spräche allerdings gegen die erwarteten oder erhofften Sozialisationseffekte der Politik im Rahmen der UN, wenn sich allgemein die Stimmung durchsetzen würde, dass eigenständiges Handeln mit weniger Kosten und mehr Gewinn verbunden ist als multilaterale Kooperation. Ein solches Null-Summen-Denken, bei dem er eine verliert, was der andere gewinnt, würde angesichts der sich real verdichtenden wechselseitigen Abhängigkeit der Staaten schon bald in eine weitere Katastrophe münden, von der heute nicht vorausgesagt werden kann, dass sie noch Raum für einen Neubeginn der internationalen Politik wie am Ende des zweiten Weltkrieges bieten würde. Doch so weit sind wir noch nicht.

Fazit

Die UN sind keine Weltregierung, sondern ein Staatenverbund, der die Mitgliedsstaaten zum Teil einer internationalen Gemeinschaft macht. Diese internationale Gemeinschaft manifestiert sich in dem Vertrauen, dass Verträge eingehalten und Konflikte kooperativ bearbeitet werden. Als Verkörperung dieses Vertrauens tragen die UN dazu bei, jene Voraussetzungen einer für die Einzelstaaten nützlichen Ordnung zu schaffen, die sie selbst als vereinzelte Staaten nicht schaffen können. Der politische Realismus geht davon aus, dass Staaten aufgrund der Abwesenheit eines staatlichen Gewaltmonopols auf internationaler Ebene lernen, ihre Politik auf den Ausbau ihrer Machtressourcen auszurichten. Die UN haben dagegen idealtypisch gesehen die Funktion, den politischen Raum für eine Maximierung von Kooperationsressourcen zu bieten.

Dabei geht es um die Verinnerlichung von Kooperation als Standard angemessenen Verhaltens und Teil des staatlichen Selbstverständnisses. In den 1990er Jahren verband sich damit die Erwartung, dass die UN zu einem Knotenpunkt in einem Netz von Einrichtungen auf sub-, inter- und transnationaler Ebene werden könnten, das der Selbstregulierung von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft in einer „post-nationalen“ Konstellation dient.

Diese Erwartung wird heute in vielen Teilen der Welt durch die erneute Hinwendung politischer Eliten und einer breiten Öffentlichkeit zum Nationalstaat verdrängt. Sprach man in den 1990er Jahren von einem Wandel von Staatlichkeit in Verbindung mit einer Entgrenzung der Staatenwelt, so geht es heute offenbar darum, Grenzen neu zu befestigen und sich der eigenen Nation zu vergewissern. Darin zeigt sich das ambivalente Verhältnis der Nationalstaaten zu den Vereinten Nationen. Der Nationalismus lebt von der Verabsolutierung des Eigenen und ihrer Eigenständigkeit. Die Nationalstaaten können sich aber auf dieser Grundlage nicht entfalten. Sie können nur im Verbund mit dem und den Anderen leben, die in den UN ihren Platz haben. Insofern haben wir es mit einer Verschiebung des Meinungsspektrums in der politischen Öffentlichkeit zu tun, die aber (noch?) keine prinzipielle Abkehr von der Einsicht in die Notwendigkeit staatenübergreifender Organisationen signalisiert.

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Dr. phil., geb. 1939; Professor für Politikwissenschaft an der Johann Wolfgang Goethe-Universität und Forschungsgruppenleiter an der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) in Frankfurt/M.

Anschrift: FB 03, Institut II, Universität Frankfurt, 60054 Frankfurt; HSFK, Leimenrode 29, 60322 Frankfurt.
E-Mail: Brock@soz.uni-frankfurt.de

Veröffentlichung u. a.: (Hrsg. zus. mit Mathias Albert und Klaus Dieter Wolf) Civilizing World Politics. Society and Community beyond the State, Lanham 2000.