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Separatistische Bewegungen in Europa

Sabine Riedel

/ 8 Minuten zu lesen

Sabine Riedel skizziert Hintergründe, Akteure und Kontexte separatistischer Bewegungen in Europa und stellt auch die Frage, was diese mit nationalistischen Bestrebungen zu tun haben.

Demonstranten sind im Februar 2022 auf der Plaza de Sant Jaume zu sehen und protestieren für die Unabhängigkeit Kataloniens. (© picture alliance / ZUMAPRESS.com | Paco Freire)

Unter separatistischen Bewegungen werden solche gesellschaftlichen Kräfte bezeichnet, die sich von ihrem Staat abspalten wollen, um sich entweder unabhängig zu machen oder sich einem anderen Staat anzuschließen. Die folgende Analyse gliedert sich nach inhaltlichen Schwerpunkten, ohne einen Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben. Sie sollen Anstöße für weitere Debatten über den Separatismus geben. Separatismus und Nationsbildung.

Der Separatismus ist auf Engste mit der Gründung der modernen Staatenwelt verbunden. Einige Großreiche des 19. Jahrhunderts wie die Habsburgermonarchie, das Russische und das Osmanische Reich haben die Entwicklung hin zu parlamentarischen Staatsformen verhindert oder verpasst. Militärische Niederlagen begünstigten deren Zerfall in einzelne Nationalstaaten. Doch das moderne Konzept der Nation, die den Monarchen als Träger der Souveränität ablöste, wird unterschiedlich interpretiert: Das eine Modell speist sich aus politischen Werten, die ideengeschichtlich auf die Französische Revolution zurückgehen. Danach legitimiert sich die Staatsmacht über eine Willensnation, die an der Ausgestaltung der Verfassung und nachgeordneter Gesetze beteiligt ist.

Das zweite Modell drängt diese willentliche Zustimmung der Staatsbürger zu ihrer Nation in den Hintergrund. Stattdessen wird deren kulturelle Identität wie z.B. die religiöse Orientierung oder die Muttersprache zum entscheidenden Kriterium ihrer Nationszugehörigkeit. Auf den ersten Blick scheint dieses Kriterium objektiv messbar und wissenschaftlich nachweisbar zu sein. Es stellt aber nicht in Rechnung, dass die Staatbürger im Laufe ihres Lebens verschiedene kulturelle Orientierungen annehmen, diese verändern oder ablegen. Deshalb bleibt die Einteilung der Bevölkerung in unterschiedliche ethnische Gruppen einem obrigkeitsstaatlichen Denken verhaftet, das die Staatsbürger als Objekt und nicht als Subjekt politischer Entscheidungsprozesse betrachtet.

Separatismus und Nationalismus

Fast alle separatistischen Bewegungen der letzten einhundert Jahre verfolgen das Modell einer Nation als Kultur-, Sprach- oder Religionsgemeinschaft. Denn nur damit können sie ihre Forderungen nach einer territorialen Abspaltung legitimieren. Sie behaupten, dass eine Bevölkerungsgruppe allein durch ihre kulturelle Besonderheit eine Nation bilde. Diese ethnische Differenz zum Rest der Bevölkerung gäbe ihnen das Recht auf Selbstbestimmung. Gegen dieses kulturelle Deutungsmuster des Nationsbegriffs steht die internationale Staatenordnung, die vom Völkerbund im Jahre 1919 begründet wurde und heute von den Vereinten Nationen repräsentiert wird. Sie basiert auf dem Konzept der Willensnation als Träger der staatlichen Souveränität. Sämtliche Menschenrechtsdokumente zum Schutz vor Diskriminierung wären obsolet, wenn es ein solches Recht auf Abspaltung gäbe.

Einen ernsthaften und nachhaltigen Rückschlag erlitt das Konzept der politischen Willensnation zur Zeit des Nationalsozialismus. Er unterstützte separatistische Bewegungen in den europäischen Nationalstaaten, die mit den Friedensverträgen von 1919/20 unzufrieden waren und Grenzrevisionen zugunsten ethnischer Minderheiten forderten. Dies nutzte das Deutsche Reich, um den Kontinent zu unterwerfen und politisch neu zu ordnen. Separatistische Kollaborateure gab es nicht nur im Osten, z.B. in der Tschechoslowakei, Jugoslawien oder Rumänien, sondern auch in Westeuropa, in den Beneluxstaaten, Frankreich oder im Vereinigten Königreich. Viele der heutigen Sezessionskonflikte gehen auf diese Zeit zurück oder wurden dadurch maßgeblich geprägt.

Nationalismus und Separatismus stehen sich bis heute ideologisch nahe, wie Programme führender separatistischer Parteien belegen. Einige gründeten im Jahre 1981 das Netzwerk der Europäischen Freien Allianz (EFA), das sich im Jahre 2004 als Partei konstituierte. Sie fokussiert ihre Aktivitäten auf die „kulturelle und linguistische Diversität als auch auf Nationalismus, Regionalismus, Autonomie und Unabhängigkeit“ (www.e-f-a.org). Nur wenige Mitglieder führen den Begriff Nation im Namen wie die Schottische Nationalpartei (SNP, Vereinigtes Königreich), die Friesische Nationale Partei (FNP, Niederlande) oder der Galicische Nationalistische Block (BNG, Spanien). Doch bekennen sich viele Mitglieder zum Nationalismus und spezifizieren ihn als demokratisch und humanitär, wie die Neu-Flämische Allianz (N-FA, Belgien). Nicht alle separatistischen Parteien haben sich dem EFA-Netzwerk angeschlossen, das im Europäischen Parlament eine Fraktion mit den Grünen bildet.

Die irische nationalistische Partei Sinn Féin gehört dagegen zur Fraktion der Vereinten Europäischen Linken/Nordische Grüne Linke. Die nordirische Social Democratic and Labour Party (SDLP) ist mit ihrem - selbst so bezeichneten - "progressiven Nationalismus" Mitglied der Sozialdemokratischen Partei Europas (SPE). Die Nationalistische Partei des Baskenlandes (EAJ/PNV, Spanien) trat der liberal ausgerichteten Europäischen Demokratischen Partei(EDP) bei. Das konservative katalanische Parteienbündnis Konvergenz und Union (CiU, Spanien), das ab 2012 die Unabhängigkeit anstrebte, arbeitete mit der Europäischen Volkspartei zusammen. Die Lega Nord (Italien) und der Vlaams Belang (Belgien) gehören zur Fraktion Europa der Nationen und der Freiheit, in der die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) und die Nationale Sammlungsbewegung in Frankreich vertreten sind. Demzufolge kann sich der Separatismus mit allen bestehenden politischen Weltanschauungen und politischen Ausrichtungen verbinden.

Separatismus und Demokratie

Alle separatistischen Parteien bekennen sich zur Demokratie und nutzen ihre Vorteile. Doch schüren sie eine stete Unzufriedenheit mit bestehenden Mitwirkungsrechten. Dabei haben die meisten der 47 Mitgliedstaaten des Europarats Dokumente zum Schutz vor Diskriminierung unterzeichnet. Die Europäische Union (EU) verfolgt sogar mit ihrer Grundrechtecharta (2009) eine eigene Antidiskriminierungspolitik. Schließlich sind die Separatisten aus den Vereinigten Königreich, Spanien, Italien oder Belgien auch mit ihrer regionalen Selbstverwaltung unzufrieden und fordern stattdessen die staatliche Unabhängigkeit. Sie lehnen einen Ausbau ihrer Autonomiestatute (z.B. für Schottland, Nordirland, Katalonien, das Baskenland, Trentino-Südtirol) ebenso ab wie föderale Systeme (z.B. Flandern in Belgien, Bayern in Deutschland).

Durch ihre Präsenz im Europäischen Parlament ist es den separatistischen Parteien erfolgreich gelungen, sich als Verfechter demokratischer Wert zu präsentieren. Dabei kommt ihnen das Verdienst zu, Volksbefragungen als Instrumente der direkten Demokratie wiederzubeleben. Doch müssen Referenden demokratische Standards beachten, um nicht politisch missbraucht zu werden. In dieser Hinsicht gab es bei der Volksabstimmung über eine Unabhängigkeit Schottlands vom Vereinigten Königreich (19.9.2914) einige Defizite zu verzeichnen. So hatte der britische Premierminister mit der Regionalregierung im Jahr 218 eine entsprechende Übereinkunft geschlossen, ohne das Parlament zu konsultieren oder daran zu beteiligen. Dadurch wurden mehr als 90 Prozent der britischen Bevölkerung von einer Entscheidung ausgeschlossen, die das Schicksal des gesamten Landes berührt.

Problematisch bleibt die Entwicklung auch nach der Volksbefragung, weil die schottische Regionalregierung zugesichert hatte, auch ein für sie negatives Ergebnis zu akzeptieren. Es dauerte aber keine zwei Jahre, bis sie eine zweite Abstimmung forderte. Nicht nur wegen dieser Eigendynamik lehnt die spanische Regierung ein Referendum in Katalonien ab. Sie kann sich auch auf die Verfassung stützen, wonach über eine regionale Abspaltung alle Spanier abstimmten müssten. Über diese und andere gesetzlichen Rahmenbedingungen begann sich die katalanische Regionalregierung seit 2012 hinwegzusetzen. Sie verabschiedete seitdem eigene Rechtsakte, um staatliche Parallelstrukturen aufzubauen und der Unabhängigkeit Kataloniens den Weg zu ebenen.

Dazu gehörte die Durchführung eines Unabhängigkeitsreferendums am 1.10.2017, das jedoch vom spanischen Verfassungsgericht untersagt wurde. Im Gegensatz zum ersten Versuch drei Jahre zuvor (10.11.2014) schritten diesmal die spanischen Sicherheitskräfte ein. Nach einer gewaltsamen Zuspitzung erschienen die Separatisten in den Medien als Opfer zentralstaatlicher Willkür. Dies ließ vergessen, dass die Regionalregierung nicht nur die spanische, sondern auch die katalanische Rechtslage missachtet hatte. Das Gesetz zur Durchführung der Abstimmung wurde im Eilverfahren und ohne Beteiligung der parlamentarischen Opposition verabschiedet. Schließlich unterschrieb die Regionalregierung eine Unabhängigkeitserklärung (10.10.2017) auf der Basis von nur 42,3 Prozent Ja-Stimmen, womit sie das Votum der Mehrheit der Katalanen für ein Nein ignorierte.

Separatismus und Europäische Integration

Die Volksbefragungen in Schottland und Katalonien haben nicht nur ihr Ziel verfehlt. Sie schadeten damit anderen europäischen Regionen. Denn die Forderung nach staatlicher Unabhängigkeit geht heute von jenen aus, die bereits über weitgehende Autonomierechte verfügen. Dies weckt bei anderen EU-Mitgliedern Skepsis gegenüber einem Ausbau der regionalen Selbstverwaltung. Damit wird Prozess der Regionalisierung als ein wichtiger Aspekt der Europäischen Integration geschwächt. Noch vor der EU-Osterweiterung war im Jahre 1994 der Ausschuss der Regionen (AdR) gegründet worden, um nach dem Prinzip der Subsidiarität dezentraler Verwaltungsstrukturen zu stärken.

Das Anliegen der europäischen Regionen nach mehr Mitsprache wird von den separatistischen Bewegungen aufgegriffen, jedoch Maximalforderungen geopfert. Denn mit dem Griff nach Unabhängigkeit stellen sie die Eigeninteressen ihrer jeweiligen Region innerhalb der betreffenden Nationalstaaten in den Mittelpunkt. Das lässt sich am Verhalten des Baskenlandes ablesen. Es genießt innerhalb Spaniens die meisten Autonomierechte, u.a. die Steuerhoheit. Als die spanische Zentralregierung im Herbst 2017 das katalanische Autonomiestatut vorübergehend aufhob, solidarisierten sich die baskischen Abgeordneten im spanischen Parlament mit den katalanischen Separatisten. Doch dauerte ihre Unterstützung nur so lange, bis ihnen Madrid bei den Haushaltsverhandlungen Zugeständnisse machte.

Die Separatistischen Bewegungen stützen sich also auf ein regionales Gemeinschaftsgefühl, das sich wesentlich davon nährt, entlang kultureller Differenzen neue Grenzen zu ziehen. Waren ihre Motive früher eher politischer Natur, stehen im 21. Jahrhundert die Finanzen im Vordergrund. Denn heute kommen die Forderungen nach Unabhängigkeit ausnahmslos aus wirtschaftlich potenten Regionen, die ihren Reichtum nicht mehr mit anderen teilen wollen. Auch wenn einige Vorwürfe zutreffen, z.B. die mangelnde Haushaltsdisziplin oder die Anfälligkeit für Korruption, so gilt eine staatliche Sezession nicht die Lösung, sondern in der Debatte auch als Beginn eines wirtschaftlichen Niedergangs aller.

Im Falle einer Sezession ist deshalb der Streit ums Geld vorprogrammiert. Im Herbst 2017 hatte bereits der katalanische Finanzminister damit gedroht, Katalonien werde sich aus der Tilgung der gemeinsamen Staatsschulden zurückziehen, wenn Madrid eine Anerkennung verweigere. Um seine Verhandlungsposition zu stärken, versicherte sich Barcelona der Unterstützung ausländische Investoren. Katalonien ist seit der spanischen Finanzkrise im Jahre 2012 von Krediten des Zentralstaats abhängig. Dieser musste sich wiederum bei der Europäischen Zentralbank (EZB) verschulden, um seine wirtschaftlich potenten Regionen Katalonien oder Valencia vor einem Finanzkollaps zu bewahren. Damit sind alle Spanier für ihr Land hohe Risiken eingegangen.

Weil Spanien dem Euroraum angehört, werden die Folgekosten einer Abspaltung letztlich auf die europäischen Bürger abgewälzt. Dies lenkt Wasser auf die Mühlen anderer separatistischer Bewegungen. Die Freiheitlichen im italienischen Südtirol sehen die Gefahr einer Verschuldung Italiens, der einen Austritt aus dem Euroraum nach sich ziehen könnte. (https://die-freiheitlichen.com). Umso deutlicher fordern sie mehr finanzpolitische Selbstverantwortung und ihren eigenen Staat. Denn sie wollen im Extremfall den Euro behalten. Auch beim Brexit spielen Währungsfragen eine Rolle. Die schottischen sowie die nordirischen Separatisten hegen die Hoffnung, dass sie im Zuge der Verhandlungen das Vereinigte Königreichs verlassen können. Deshalb sind sie potenzielle Mitglieder des Euroraums.

Separatismus und Frieden

Am Beispiel Nordirlands wird deutlich, dass der Separatismus den Frieden aufs Spiel setzt. So haben sich die Konfliktparteien mit dem Karfreitagsabkommen (10.4.1998) auf eine Autonomie Nordirlands im Vereinigten Königreich geeinigt. Das Brexit-Referendum (23.6.2016) sehen die irischen Nationalisten jedoch als Chance auf eine Vereinigung der Insel. Sinn Féin boykottiert seit Ende 2016 die Bildung einer Regionalregierung, um für Nordirland einen Sonderstatus in der EU zu erwirken. Die irische Regierung hat diesen Plan übernommen, obwohl er einen Sezessionskonflikt herauf beschwört. Selbst der EU-Verhandlungsführer Michel Barnier möchte Nordirland im EU-Binnenmarkt halten. Er verlangt damit von London für einen EU-Austritt den Verzicht auf einen Teil seines Staatsterritoriums.

Das Netzwerk der separatistischen Parteien EFA sieht darin keine Gefahr für den Frieden in Europa. Es verfolgt im Gegenteil eine staatliche Neuordnung der EU genau nach diesem Muster. Die großen Mitgliedstaaten sollten entlang kultureller oder sprachlicher Diversität in Regionen aufgeteilt und als Staaten anerkannt werden. Hierfür hat sie den Begriff der inneren EU-Erweiterung geprägt. Ein solcher Prozess solle sicherstellen, dass die Regionen nach einer Sezession EU-Mitglieder bleiben. Nach dem Lissabon-Vertrag würden sie nämlich auch die EU verlassen. Doch eine solche staatliche Neuordnung entlang kultureller Diversität ist nicht innovativ, sondern rückwärtsgewandt. Es belebt mit seiner nationalistischen Ideologie ein Nationskonzept, das Europa in zwei Weltkriege verwickelt hat. Eine politische Auseinandersetzung mit dem Separatismus ist daher für die EU und Europa insgesamt eine große Herausforderung.

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Dr. habil., geb. 1956; wissenschaftliche Mitarbeiterin der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) Berlin und Privatdozentin für Politikwissenschaft an der Universität Magdeburg. SWP, Ludwigkirchplatz 3 - 4, 10719 Berlin.
E-Mail: E-Mail Link: sabine.riedel@swp-berlin.org