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Make Hungary great again Rechtspopulismus in Ungarn

Stephan Ozsváth

/ 8 Minuten zu lesen

Als Viktor Orbán im Alter von 35 Jahren erstmals in Ungarn an die Macht kam (1998-2002), war er der jüngste Ministerpräsident Europas. 2010 gelang es ihm erneut, seitdem hat er das Land mit einer Zweidrittelmehrheit im Parlament zu einem „illiberalen“ System umgebaut.

Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban, Vorsitzender der Fidesz-Partei, während einer Kundgebung in Budapest, Ungarn, am 10. Juni 2024. (© picture-alliance, Xinhua News Agency | Attila Volgyi)

Die Revolution an der Wahlurne

Im April 2010 war Viktor Orbán am Ziel: Seine Partei Fidesz und der kleine christlich-nationale Koalitionspartner KDNP erzielten mit fast 53 Prozent einen Erdrutschsieg bei der Parlamentswahl – damit hatte die Regierung eine verfassungsändernde Zweidrittelmehrheit, für Orbán eine „Revolution an der Wahlurne“. Großer Verlierer der Wahl waren die Sozialisten, die um 24 Prozentpunkte in der Wählergunst abrutschten. Fidesz sollte „zum nationalen Kraftfeld“ werden, hatte Orbán bereits ein Jahr zuvor als Marschrichtung ausgegeben.

Der Umbau des Staates

Nach dem Wahlsieg Orbáns 2010 begann ein radikaler Umbau des Staates und seiner Institutionen. Entscheidendes Machtinstrument Orbáns: die Zweidrittelmehrheit im Parlament. Sie ermöglichte es ihm, eine neue Verfassung zu verabschieden, die unter Protesten 2012 in Kraft trat und mehr als ein Dutzend Mal verändert wurde. So wurde das Verfassungsgericht geschwächt, etliche Politikfelder bekamen Verfassungsrang und können seither nur noch mit einer Zweidrittelmehrheit im Parlament wieder verändert werden (z. B.: Schuldenbremse oder die unter Strafe gestellte „Nutzung öffentlichen Raums für Wohnzwecke“, wodurch Obdachlose kriminalisiert wurden). Die vielen Verfassungsänderungen seien „eine ernsthafte Bedrohung für die Demokratie“, urteilte 2013 der Europaparlamentarier Tavares in seinem Report zu Ungarn, die Regierung wolle ihre Macht zementieren.

Abwählen unmöglich?

Eine zweite Säule von Orbáns Macht sind mehrere Reformen des Wahlrechts seit 2010. Die Hürden für eine Abwahl wurden so immer höher. In diesem Sinne wurde 2011 auch die Zahl der Abgeordneten im Parlament quasi halbiert. Die Wahlkreise mussten dafür neu definiert werden, wodurch seither die stärkste Partei begünstigt wird. Um zur Wahl zugelassen zu werden, müssen Parteien in zwei Drittel der Verwaltungsbezirke Kandidat/-innen aufstellen, was besonders kleinere Parteien benachteiligt. Orbán schaffte sich auch ein zusätzliches Wählerreservoir bei der ungarischen Minderheit in den Anrainerstaaten. Durch den Friedensvertrag von Trianon (1920) hatte Ungarn zwei Drittel seines Territoriums verloren. Deshalb leben in Rumänien, Serbien, der Slowakei und der Ukraine etwa zwei Millionen Ungarisch-Stämmige. Diesen Minderheiten gab Orbán Wahlrecht und doppelte Staatsbürgerschaft, sie ihm mehrheitlich ihre Stimme.

Die Auslandsungarn sind für Orbán wichtig, weil sie den Traum vergangener Größe und das Trauma Trianon wachhalten. Das ist zentral für Ungarns Rechte in ihrem Selbstverständnis als Opfer ausländischer Mächte. Daran knüpft Orbán in Reden an, wenn er Brüssel „als neues Moskau“ oder „liberales Imperium“ einem ungarischen Kampf um Souveränität gegenüberstellt. So lässt sich ein Faden bis zurück in die Zwischenkriegszeit spinnen – zum Reichsverweser Miklós Horthy, den Orbán einen „Ausnahmestaatsmann“ nannte. Horthy hatte sich mit Hitler verbündet, um die 1920 verlorenen Gebiete Ungarns (d.h. Teile der Tschechoslowakei, der Norden Siebenbürgens und das Széklerland) zurück zu bekommen, was kurzzeitig auch gelang. Den Tag der Vertragsunterzeichnung in Trianon (4. Juni) hatte die Regierung Orbán schon 2010 zum „Tag des nationalen Zusammenhalts“ erklärt. Und 100 Jahre nach dem Vertrag von Trianon weihte der Regierungschef das Denkmal für den „nationalen Zusammenhalt“ am Budapester Parlament mit dem Versprechen von „Ungarns neuer Größe und neuem Ruhm“ ein. Die Zwischenkriegszeit dient der Regierung Orbán als Referenzrahmen ihrer Geschichtspolitik. Anderes dagegen soll im kollektiven Gedächtnis umgedeutet werden. So wurde etwa der Interner Link: Ungarische Volksaufstand von 1956 als bewaffnete Erhebung von Jugendlichen („Pester Jungs“) gegen Sowjetpanzer idealisiert, während verschiedene linke Parteien und Arbeiterräte in dieser Lesart ungarischer Geschichte verschwinden und die Leitfigur, der Kommunist und frühere Ministerpräsident Imre Nagy in seiner Bedeutung abgeschwächt wird. In diesem Sinne wurde 2019 seine Statue vom Kossuth-Platz am Parlament auf einen kleinen Platz neben den Abgeordnetenbüros an der Donau versetzt – stattdessen errichtete die Regierung Orbán an jener Stelle ein Denkmal für die Opfer des „roten Terrors“ während der kommunistischen Ungarischen Räterepublik 1919. Der antisemitisch grundierte „weiße“ Terror der Freischärler um den Reichsverweser Horthy hingegen wird verschwiegen. Vielmehr wird der autoritäre Zwischenkriegsherrscher Horthy von Orbán trotz antisemitischer Gesetze als „Ausnahmestaatsmann“ rehabilitiert. Für Holocaustüberlebende und führende Historiker ein deutlicher Bruch der Erinnerungskultur. Schließlich sei die Ermordung von fast 600.000 ungarischen Juden maßgeblich mit der Unterstützung des Regimes unter Horthy möglich geworden.

Orbáns Medienpolitik

Eine dritte Säule von Orbáns Macht sind die Medien. Im Kulturkampf um die Köpfe will Orbán vor allem seine EU-skeptischen Botschaften verbreiten. Dabei hilft ihm ein mächtiges Mediennetzwerk und Medieninstitutionen. Erster Baustein war ein neues Mediengesetz 2010. Es sorgte für Proteste und Interventionen aus Brüssel. Denn es verpflichtete Journalist/-innen unscharf zur „Stärkung der nationalen Identität“. Die Leitung der Medienbehörde NMHH – deren Stellung in der Verfassung verankert ist – wurde mit Fidesz-Parteigängern besetzt, ihre Amtszeit beträgt neun Jahre. Die Behörde vergibt Rundfunklizenzen und ahndet Verstöße gegen das Mediengesetz. Ihre Wirkmacht zeigte die Medienbehörde beispielsweise gegenüber dem regierungskritischen Budapester Klubrádió. Mit Kurzzeit-Lizenzen kleingehalten und der Regionallizenzen beraubt, sendet Klubrádió seit 2021 ausschließlich online und finanziert sich über Spenden.

Die öffentlich-rechtlichen Medien und die einzige Nachrichtenagentur MTI waren bereits 2010 unter dem Dach der Medienholding MTVA zentralisiert worden, die dem ungarischen Staat gehört. Etwa 1.000 missliebige Redakteure wurden nach Gründung der MTVA 2011 entfernt, Whistleblower prangerten inhaltliche Vorgaben der Regierung an. Jeden Freitag antwortet Viktor Orbán im staatlichen Kossuth-Rádió auf sorgsam choreografierte Fragen.

Auch die privaten Medien und der Werbemarkt sind von regierungsnahen Akteuren dominiert und mit staatlichen Anzeigen alimentiert. Orbáns Schulfreund und Oligarch Lörinc Mészáros riss 2016 die linksliberale Tageszeitung Népszabadság an sich, um sie einzustellen. Ein Dutzend Regionalzeitungen behielt er, die seitdem Sprachrohr der Regierung sind. Andere Oligarchen kauften reichweitenstarke Online-Medien und TV-Sender. Mehr als 400 Pro-Regierungs-Medien schlossen sich 2018 zur Mitteleuropäischen Presse- und Medienstiftung (KESMA) zusammen. Die Nichtregierungsorganisation Mérték Media Monitor spricht von einem „zentralisierten Mediensystem“ in Ungarn. Denn den vielen regierungsnahen Medien stehen nur etwa ein Dutzend unabhängige Medien gegenüber. Sie kämpfen um Aufmerksamkeit, Publikum, finanzielle Mittel – und mit dem „Amt für den Schutz der Souveränität“: es leitete 2024 Ermittlungen gegen das Budapester Büro von Transparency International und die Investigativ-Journalisten der Plattform Átlátszó ein, die immer wieder Korruption rund um die Familie Orbán aufgedeckt hatten. Das Amt beschuldigte Transparency International, „den Willen der Wähler beeinflussen“ zu wollen. In einem weiteren Falle sorgte 2022 die sogenannte Pegasus-Affäre international für Aufsehen. Mittels einer israelischen Spionagesoftware hatte die Regierung Orbán Journalisten, Oppositionspolitiker und Verleger überwachen lassen. Auch ausländische Journalisten setzte die Regierung Orbán unter Druck.

Seit der Machtübernahme Orbáns im Jahr 2010 sank Ungarn in punkto Pressefreiheit im Ranking von Reporter ohne Grenzen von Platz 23 Externer Link: auf Platz 67 (2024) von 180.

Kontrolle und Repression

Immer wieder sind Zehntausende Ungarn gegen die Regierung Orbán auf die Straße gegangen: Mal ging es um die neue Verfassung, mal um die Pressefreiheit, ein andermal um die Vertreibung der Central European University aus Budapest, die Zivilgesellschaft oder die Bildungspolitik der Regierung Orbán. Die Regierung antwortet stets mit mehr Kontrolle und Repression. Etwa mit einem neuen Gesetz, das Lehrer/-innen den Beamtenstatus absprechen sowie ein Punkte- und Strafsystem für die Auszahlung der Gehälter einführen soll, nachdem diese monatelang gegen eine geplante Bildungsreform protestiert und dabei sehr deutlich und öffentlichkeitswirksam Kritik an der staatlichen Bildungspolitik geäußert hatten. Auch wurden fast alle Hochschulen in private Stiftungen überführt, kontrolliert von handverlesenen Kuratorien. In der Justiz dominieren Richter und Staatsanwälte, ausgewählt von einer Orbán-Vertrauten. Und die Zivilgesellschaft wurde nach russischem Vorbild systematisch geschwächt (LexNGO, Anti-LGBTQI-Gesetz). So wurde, wer von dem Philanthropen Interner Link: George Soros Geld bekam, als „Soros-Agent“ diffamiert. Dessen Central European University und seine Open Society Stiftungen vertrieb Orbán aus Budapest. Der ungarische Holocaust-Überlebende George Soros wurde von der Regierung zum Feindbild Nummer Eins erklärt. Er wolle millionenfach Migranten in die Europäische Union bringen, so die Verschwörungserzählung, die auf Angst vor Überfremdung setzt.

Ausländische Konzerne bedrängte die Regierung Orbán mit Steuern, deutsche Mittelständler wurden genötigt, an Unternehmer aus dem Umfeld Orbáns zu verkaufen, einige EU-Parlamentarier warfen der Regierung gar „Mafia-Methoden“ vor. Das Interner Link: EU-Parlament sprach 2022 dem von Orbán regierten Land den Status einer „Demokratie“ ab. Wegen Rechtsstaatsmängeln hält Brüssel EU-Milliarden für Ungarn zurück.

Ideologischer Schwenk nach Rechtsaußen und Dauerclinch mit Brüssel

Der einst liberale Soros-Stipendiat Viktor Orbán hat sich seit der politischen Wende 1989 weltanschaulich um 180 Grad gedreht: Im Jahr 2024 ist er Fan von Donald Trump, hofiert Wladimir Putin, nennt sein Ungarn „illiberale“ Demokratie und spricht von drohender Rassenvermischung und Interner Link: „Bevölkerungsaustausch“, einem Kampfbegriff der neurechten Identitären Bewegung. Einem Rauswurf aus der konservativen Parteienfamilie EVP im Europaparlament war Fidesz nach vielen Provokationen 2021 zuvorgekommen.

Nach dem Umbau seines Staates will Orbán auch über die Grenzen Ungarns hinauswirken. Mit dem Mathias Corvinus Collegium (MCC) – mit Ablegern auch in Wien und Brüssel – sollen rechtspopulistische Akteure miteinander vernetzt werden. MCC verfügt über erhebliche finanzielle Mittel dank eines Aktienpakets des ungarischen Erdölkonzerns MOL.

Um seinen Wertvorstellungen in Brüssel mehr Schlagkraft zu verleihen, hat er sich in der Fraktion „Patrioten für Europa“ mit anderen Rechtspopulisten (FPÖ, Vox u.a.) verbündet. Sie wollen weniger Migration, weniger Europa, mehr Nation. Was sie auch eint, ist die Ablehnung von Ukraine-Hilfen und Russland-Sanktionen. Viktor Orbán sei mittlerweile Putins Trojanisches Pferd in der EU geworden und vertrete „russische Interessen“, urteilte der tschechische Europaminister Dvořák. Bisher blockierte er Ukraine-Hilfen und Russland-Sanktionen, bezieht weiterhin Öl und Gas aus Russland und pflegt gute Beziehungen nach Moskau und ins verbündete Belarus. 2022 initiierte die EU-Kommission nach vielen Vertragsverletzungsverfahren ein Rechtsstaatsverfahren nach Interner Link: Artikel 7 der Europäischen Verträge, EU-Milliarden für Ungarn wurden eingefroren. Viktor Orbán belastete das angespannte Verhältnis zu Brüssel zusätzlich mit einer Provokation zum Auftakt der Interner Link: ungarischen Ratspräsidentschaft im Juli 2024: Nach einem Besuch in der Ukraine, besuchte er ohne Mandat auf einer sogenannten Friedensmission Moskau, Peking und Donald Trump in den USA – und brüskierte damit EU-Kommission und -Parlament. Dass die Regierung in Budapest noch im selben Monat Russen und Belarusen die einfache Einreise in den Schengenraum ermöglichte, wurde von der EU-Kommission als Sicherheitsrisiko für die ganze EU gewertet. Und erst jüngst kündigte die EU-Kommission an, Ungarn vor dem Interner Link: Europäischen Gerichtshof wegen des Ende 2023 beschlossenen sogenannten "Souveränitätsgesetzes" zu verklagen, da es Meinungsfreiheit und weitere Grundrechte einschränke.

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Stephan Ozsváth war ARD-Hörfunk Korrespondent für Südosteuropa, veröffentlicht hauptsächlich im Bereich Radio und Podcast, schreibt auch Artikel und Bücher, unterrichtet in Magdeburg Radiojournalismus. Inhaltlicher Schwerpunkt Ungarn. Lebt und arbeitet bei Wien und in Berlin. Externer Link: www.der-rundfunker.com