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"Irren ist menschlich" Debattenbeitrag

Dr. Özgür Özvatan

/ 7 Minuten zu lesen

Um identitätspolitische Konfliktlinie zu verstehen, müssen romantische Projektionen der nationalen Gemeinschaft als solche erkannt werden, meint Özgür Özvatan.

(© bpb)

Etwa 150 Jahre nach der Schaffung der nationalstaatlichen Ordnung der Welt erleben wir in westlichen Wohlfahrtsgesellschaften hitzige Debatten um „die Nation“ und beobachten eine tief gespaltene Debatten um nationale Zugehörigkeit. Um diese sich aufdrängende, identitätspolitische Konfliktlinie zu verstehen, bedarf es einer Auseinandersetzung mit den grundlegenden Gefühlen der nationalen Gemeinschaft, wie romantisierte Projektionen, die vernunftsorientierte Debatten blockieren oder anleiten.

Ein traditioneller Strang betrachtet das Fundament „der Nation“ als einen geschlossenen, ethnischen Volkskörper. Dieses ethno-nationale Konzept der Nation reicht vom Ethnopluralismus, die Idee der friedlichen, durchmischungsfreien Koexistenz von ethnischen Gruppen separiert in Ethno-Nationen, bis zum Ethnozentrismus, der die Welt ausgehend von der ethn-nationalen Gemeinschaft interpretiert. In beiden Fällen kommt die ethnische Gemeinschaft vor jedem politischen Gemeinschaftsprojekt, das Herzstück des Nationalstaates ist die Ethno-Nation mit Volksbürger*innen.

Zivile Nation und Wertegemeinschaft

Ein weiterer Strang interpretiert „die Nation“ als eine zivile Wertegemeinschaft. Andreas Wimmer bringt die Bedeutung einer solchen Wertegemeinschaft unter dem Deckmantel des „Neuen Nationalismus“ auf den Punkt. Der Nationalismus habe in einer historisch unvergleichlichen Weise zwischenstaatlich Frieden gesichert und innenpolitisch demokratische Ordnung hergestellt. Die zivile Nation fußt auf der Idee einer Wertegemeinschaft , die weite Teile des politischen Spektrums eint. „Verfassungspatriotismus“ ist ein besonders markantes Schlagwort für diese Form der nationalen Gemeinschaft jenseits ethnischer Färbung. Das Herzstück des Nationalstaates ist ein ziviles Konstrukt, wie die Verfassung und den ihr treuen Staatsbürger*innen.

Allerdings lehren uns die Zugehörigkeitsdebatten der letzten Jahrzehnte eines: Auch die zivile Wertegemeinschaft ist anfällig für ethnische Färbungen, so dass eine eindeutige Zweiteilung der nationalen Gemeinschaft in ethnisch oder zivil nicht aufrechterhalten werden kann. So werden häufig zivile und ethnische „kulturelle Werte“ zum Nachteil von Minderheiten vermengt. Sarah Farris schlüsselte beispielsweise mit dem Konzept des „Femonationalismus“ auf, dass westliche Gesellschaften Frauenrechte als eigene zivile Errungenschaft proklamieren und sich den Schutz von Frauenrechten vor vermeintlich rückständigen „anderen Kulturen“ (speziell Islam) auf die Fahnen schreiben. Dabei werden „eigene“ Gleichstellungsprobleme und sexistische Strukturen ausgeblendet und exportiert bzw. als importiert dargestellt.

Nationalstaatlich organisierte Gesellschaften benötigen Orientierungsmuster, insbesondere in Fragen von Migration und Zugehörigkeit. Die Öffnung ethnonationaler Zugehörigkeit ist ein wankelmütiger Prozess. Ihre Crux ist: rationalnormativen geführte Überzeugungsversuche verlaufen im Sand, sie erzeugen wechselseitig das Gefühl bevormundet zu werden. Nationale Zugehörigkeit ist schließlich ein Wir-Gefühl, das sich dem Anspruch auf Rationalität entzieht, bzw. ihm vorläuft. Der Nation attribuierten Emotionen können Öffnungsprozesse blockieren, eine etwaige Öffnung irrational erscheinen lassen, oder eben ermöglichen, die Öffnung plausibel wirken lassen. Entscheidend ist, wie die sie ummantelnde Erzählung vom nationalen Wir gestrickt ist – als romantisierte ethnische Gemeinschaft, die ihre Wiedergeburt feiern wird oder als zivile Gemeinschaft, die sich mittels Selbstdistanzierung stetig „neu“ formiert.

Zugehörigkeit im parteipolitischen Wettbewerb – Die Ethno-Nationale Wiedergeburt?

Das Versprechen einer ethno-nationalen Wiedergeburt ist die Kernerzählung der Alternative für Deutschland (AfD). Dass ihre Erzählung zeitgenössisch eine zunehmende Wählerschaft anspricht, liegt weniger an der parteipolitischen Strategie der AfD, als an der parteipolitischen Kommunikation der etablierten Parteien, die mit ihren Botschaften Zugehörigkeitssehnsüchte wecken, die sie nicht wieder einzufangen in der Lage sind. So profitierte die rechtspopulistische AfD, als die etablierten Parteien seit der propagierten Willkommenskultur im Herbst 2015 keinen breiten Konsens in der kulturell-identitären Konfliktlinie vermitteln konnten. Die kulturell-identitäre Konfliktlinie ist eine historisch erwachsene politische Kluft zwischen Kommunitaristen, die Interessen partikularer Gemeinschaften betonen, und Kosmopoliten, die mit humanitären Argumenten die Interessen einer Weltgesellschaft verteidigen.

Hier dient ein kurzer Exkurs zum Begriff des Populismus: Entgegen weit verbreiteter Annahmen handelt es sich im wissenschaftlichen Gebrauch nicht um eine populäre Aussage, die breite Massen ansprechen soll. Stattdessen wird Populismus in den Sozialwissenschaften als eine vertikale Gegenüberstellung von „den Eliten“ und „dem Volk“ definiert. Sie baut auf ein manichäisch moralisierendes Fundament („gut versus böse“): „die Eliten“ sind verblendet oder machtsüchtig, „das Volk“ ist rein und verfügt über „den gesunden Menschenverstand“. Zudem fußt sie auf eine horizontale Komponente: der Volkswille ist homogen, es gibt nur den einen Volkswillen.

Der Streit um den Umgang mit dem türkischen Staatspräsidenten Erdoğan und Türkischstämmigen in der Bundesrepublik markiert ein bezeichnendes Beispiel dafür, wie etablierte Parteien mit ihren Botschaften der rechtspopulistischen AfD einen günstigen Nährboden für ihre Erfolgsformel „Gegen die Eliten, für die (Ethno-)Nation“ servierten. Zur Ernüchterung parteiübergreifend konservativer Wählerschaften wurde der angekündigte restriktive Kurs gegenüber Erdoğan und „treulosen“ Türkischstämmigen nicht umgesetzt, sondern lediglich angekündigt.

Indessen warb die AfD mit ihrem positiven Einfluss auf die „politische Elite“, die nun zwar „ihre“ Forderungen in der Türkeipolitik imitierten, sie letztlich bloß „vorgaukeln“, aber nicht umsetzen. Auf diese Weise profilierte sich die AfD in dieser substantiellen parteipolitischen Frage erfolgreich als die einzige Vertreterin vermeintlich „deutscher Interessen“ im parteipolitischen Wettbewerb. Dieser Prozess, von der Forderung bis zur Nicht-Erfüllung der „harten Hand“ durch etablierte Parteien, ermöglichte ethnonational gefärbte Zugehörigkeitssehnsüchte mit einer neuen Wucht in die öffentliche Debatte in Berlin einzukehren – das AfD-Versprechen, das „Deutsche Volk“ wachzurütteln, so dass einer ethnonationalen Wiedergeburt entgegen aller „liberaler Phantasien“ nichts mehr im Weg steht, wurde dadurch salonfähiger.

Der neue Zugehörigkeitsmodus: Ironische Brüche statt Happy End

In den Sozialwissenschaften wird Zugehörigkeit (belonging) definiert als „das subjektive Gefühl in einer Kommune, Stadt, Nation oder Supra-Nation beheimatet zu sein“. Den notwendigen Counterpart für die Zugehörigkeit bildet ihre Anerkennung durch die nationale Gemeinschaft. Sprich, um Teil der nationalen Gemeinschaft zu sein, müssen Subgruppen unhinterfragt als zugehörig anerkannt sein.

Es bahnt sich ein neues Zeitfenster einer sich erneuernden, weil permanent irritierenden, nationalen Gemeinschaft jenseits der romantischen Erzählung von „Nationen“, die sich unbeirrt auf einem glückseligen Weg befinden. Das öffentliche Bewusstsein führt sich zunehmend vor Auge, dass es durch regelmäßige Irritationen und Scheitern lernt, den Kreis der Zugehörigen zu erweitern, neuen Perspektiven unhinterfragte Legitimität entgegen zu bringen. Drei Aspekte torpedieren bisweilen dessen Etablierung: (1) Oberlehrerverhalten; (2) Mangelnde Anerkennung und (3) die Unlust Kompromisse in Grauzonen einzugehen.

Das Oberlehrerverhalten dient aus

„Wann begreifen die anderen das endlich?“ – dies ist eine klassische Formulierung für verstaubendes Oberlehrerverhalten. Der Anspruch ist, das Richtige entweder auf Grundlage von gelernten Lektionen oder ideologischen Positionen besser beurteilen zu können als „die Anderen“. Diese Form der moralischen Erhabenheit, eine Position belehrt (und bekehrt) die andere, wie sie ihr Leben zu führen hat, was gut oder schlecht für sie ist, dient aus. Der transnationale deutsch-türkische Konflikt der letzten Jahre illustriert eindrücklich, wie das Oberlehrerverhalten im besten Fall mit einem Pyrrhussieg einhergeht.

Durchaus legitime Hinweise bezüglich einer schleichenden demokratischen Rezession in der Türkei verfehlen oftmals ihren Ton, wurden als „Belehrungen“ gedeutet. Die zweifelsfrei unangebrachten Nazi-Vorwürfe des türkischen Staatspräsidenten Erdoğan gegenüber der Berliner Republik sind aus dieser Brille zu lesen. Erdoğan schmettert wuchtig mit dem Vorwurf zurück, Deutschland meine „die Demokratie“ gepachtet zu haben, wenngleich Berlin nicht einmal das demokratische Recht der Versammlungsfreiheit für AKP-Auftritte gewährleiste oder eben türkischstämmige Minderheiten vor rechtsterroristischen Angriffen schütze. So wird das Deutschlandbild kurzerhand als Bedrohung gezeichnet, Berlin gebe aus alliiert zu sein, schmiede aber insgeheim finstere Pläne der Unterwanderung.

Das Beispiel zeigt: selbstgerechtes "Oberlehrerverhalten" blockiert Öffnungsprozesse, weil es in innen- und außenpolitischen Diskursen vermittelt, sich als „überlegen“ zu betrachten und infolgedessen wieder neue Schließungsprozesse zeitigt.

Anerkennung – Die Diskurspolizei wartet hinter der Ecke

Politische Initiativen von ethnischen Minderheiten wie bspw. #metwo und #vonhier klagen eine unhinterfragte Anerkennung ihres Deutschseins ein. Dies belegt: ihr Zugehörigkeitsgefühl ist porös, Ereignisse der Nicht-Anerkennung können es torpedieren. Und: ihre Zugehörigkeit wird umso kontroverser debattiert, je prestigeträchtigere Statuspositionen sie übernehmen. Kopftuchtragende Frauen stoßen erheblich weniger unangenehm auf, wenn sie in öffentlichen Einrichtungen als Putzkraft statt als Amtsträgerinnen engagiert sind.

Gleichzeitig beobachten wir, wie „einheimische“ Gesellschaftsgruppen sich ebenso nicht anerkannt fühlen – in extremen Fällen neigen sie dazu, der Erzählung eines (geplanten) Bevölkerungsaustausches Glauben zu schenken. Jedenfalls äußern sie das Gefühl, ihre Perspektive würde nicht gehört und repräsentiert, „die Eliten“ kümmerten sich lediglich um die Befindlichkeiten von Minderheitengruppen. Die Politikwissenschaftler Matthew Goodwin und Roger Eatwell argumentieren, dass das politische Diskursklima in westeuropäischen Gesellschaften nuanciert konservative Positionen in identitätspolitischen Fragen abgeschnitten habe. Der (Ethno-)Nationale Populismus sei als eine Revolte hiergegen zu lesen.

Für einen versöhnlichen Konsens in Grauzonen des demokratischen Spektrums dürfen weder die Sorgen der Minderheiten als „subjektive Überempfindlichkeiten“ abgetan, noch nuanciert konservative Position mit der „Nazikeule“ im Keim erstickt werden. Beides führt dazu, dass in separierten Öffentlichkeitssphären über- statt miteinander kommuniziert wird. Konflikte und Aushandlungsprozesse auszutragen hilft, sich von verkrusteten Schwarz-Weiß-Positionen zu lösen und gemeinsame Wege in Grauzonen einzuschlagen, statt wuchtige Schließungsprozesse zu erleben.

Politische Botschaften mit Maß und Weitsicht – Kompromisse in Grauzonen statt Narben im Grabenkampf

Der zuweilen fehlende Kompromiss traditioneller Parteien in zugehörigkeitspolitischen Fragen seit dem Sommer 2015 lässt wiederkehrend hitzige Debatten um die nationale Gemeinschaft aufkeimen. Dies führt nicht nur zur gesellschaftlichen Polarisierung und Grabenkämpfen infolge verstärkter Schließungsprozesse auf beiden Seiten (innen- und außenpolitisch), sondern rüttelt auch an den Grundfesten der liberalen und repräsentativen Demokratie, die sich aus Kompromissen in Grauzonen speist. Um Narben aus diesen Grabenkämpfen zu vermeiden, müssen sich die beteiligten Parteien von ihren manifesten Positionen „lösen“ können. Ironische Brüche mit „unserem“ Selbstverständnis leisten das, sie ebnen den Weg für befriedende Kompromisse, statt den Weg mit aussichtslosen Alleingängen zu blockieren. In zugehörigkeitspolitischen sind diese Alleingänge reaktionäre Romantisierung ethnischer Identitäten, dessen Öffnung umso komplizierter ist. Das Eingeständnis „Irren ist menschlich“ fällt für die ethnische Gruppe anschließend deutlich schwerer als es ohnehin schon ist. Die etablierten Parteien stehen in der Verantwortung, umsichtige Botschaften mit Maß zu vermitteln, statt für kurzfristige Zusprüche, langfristige Einbußen (ethnische Schließungen) einzutauschen. Ihre unvorsichtigen Botschaften hatten in den letzten Jahren zur (nicht-intendierten) Folge, dass rigide ethno-nationalen Zugehörigkeiten einen Aufschwung erlebt haben.

Weitere Inhalte

Özgür Özvatan ist Politischer Soziologe mit besonderem Fokus auf Integrations-, Extremismus- und Demokratieforschung. Er studierte Interdisziplinäre Sozialwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin, promovierte an der Berlin Graduate School of Social Sciences (BGSS) und war Visiting Fellow an der University of Melbourne.