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"Solidarität jenseits des Nationalstaats" | Rechtspopulismus | bpb.de

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"Solidarität jenseits des Nationalstaats" Debattenbeitrag

Julia Eckert

/ 5 Minuten zu lesen

Julia Eckert fordert, dass sich Solidariät auch jenseits des Nationalstaats einstellen muss.

(© bpb)

Von links wie von rechts erscheint der Nationalstaat gegenwärtig als ein bedrohtes Modell, und eines das schützenswert erscheint: Für die einen ist er die natürliche Vertretung eines "Volkes", für die anderen einziges Bollwerk gegen den entfesselten Kapitalismus. Für beide ist er somit die einzig wirksame Form einer Solidargemeinschaft, in der gegenseitige Pflichten und Rechte Menschen aneinander binden. Das gegenwärtige Zurück zur Nation wird mit dem Argument begründet, dass es keine Solidargemeinschaft geben könne, die Solidarität „umfassender und dauerhafter“ organisieren könne. Dies gehört wohl zu den Mythen des Nationalstaats, der „Westphalian fantasy“, denn er hat weder Bürgerkriege, noch die Verelendung breiter Bevölkerungsschichten verhindert. Der Nationalstaat ist jung, und seine Geschichte zutiefst mit der des Kapitalismus verwoben. Er ist heute fast allgegenwärtig, wo sich die meisten Staaten auf die Vertretung von Nationen – wie vielfältig auch immer – berufen, und viele derer, die um einen Staat kämpfen, dies mit Bezug auf eine Nation tun, der ein solcher zustehe.

Er war nie notwendig auch Solidargemeinschaft, ja: Solidarität im Sinne gegenseitiger Rechte und Pflichten wurde hart erkämpft. Wo Forderungen nach politischen und sozialen Rechten stattgegeben wurde, war dies den Befürchtungen sozialer Unruhen und sozialistischer Revolutionen, aber auch dem Interesse der Regierungen, tüchtige Soldaten für ihre Kriege zu haben, geschuldet. Die Versprechen moderner Staatlichkeit an Wohlfahrt und Rechtssicherheit, die in ihren wohlfahrtsstaatlichen, staatssozialistischen oder developmentalistischen Ausprägungen in fast jeden Winkel der Welt (wohlgemerkt: als Versprechen) vorgedrungen sind, blieben entweder unerfüllt oder wurden im Zuge von Strukturreformen zurückgenommen. Der Nationalstaat hat den Abbau von Solidarinstitutionen dort, wo es sie gab, nicht verhindert. Die kurze und geographisch extrem begrenzte Phase des sozialen Wohlfahrtsstaates könnte als Modell dienen, wäre sie nicht auf dem Rücken der globalen Ausbeutung errungen worden. Die Grundlagen dieser Wohlfahrt wurden zu einem großen Teil von jenen geschaffen, die nicht daran teilhaben konnten, weil sie den privilegierten Nationalstaaten nicht angehörten. Jede Rede vom Nationalstaat als quasi natürlicher Solidargemeinschaft blendet also nicht nur die Kämpfe um die Rechte auf Teilhabe innerhalb dieser Staaten aus, sondern auch die ungleichen weltwirtschaftlichen Beziehungen, welche die Grundlagen des Wohlstands geschaffen haben.

Solidarinstitutionen im Gemeinwesen

Solidarinstitutionen stehen somit in einem komplexen Verhältnis zu politischen Gemeinwesen und sind nicht identisch mit ihnen. Politische Gemeinwesen kann man definieren als eine Gruppe von Menschen, die gemeinsame Belange hat, die soziale Beziehungen dauerhafter Art pflegt und über den Haushalt und die Familie hinausgeht. Vielleicht könnte man noch weiter zuspitzen und sagen, dass ein politisches Gemeinwesen eine Gruppe von Menschen ist, die Probleme identifiziert und diese zu regeln versucht, sei dies die Bewässerung von Feldern, die (Um-)Verteilung von Ressourcen, die Schlichtung von Konflikten oder die Entsorgung von Müll. Es sind Herausforderungen, die alle, die da sind, betreffen und die man regeln muss, um (gemeinsam) existieren zu können. Politische Gemeinwesen sind also durch die Koexistenz bestimmt, die Gleichzeitigkeit der Problembetroffenheit, - alles andere, wie die Berufung auf Nationen, Kultur, Abstammung etc. sind ideologische Begründungen der Zugehörigkeit, Grenzziehungen.

Solidarinstitutionen hingegen sind gegenseitige Rechte und Pflichten auf Vor- und Fürsorge; es sind Reziprozitätsverpflichtungen, besonders solche generalisierter Art. Es hat lange vor, aber auch neben dem Nationalstaat immer andere soziale Zusammenhänge gegeben, Rechte und Pflichten gegenseitiger Fürsorge zu organisieren. Gerade weil der Nationalstaat viele, die ihm offiziell zugehörig waren, vielfach im Stich gelassen hat, haben sich andere, ältere Solidarinstitutionen – parallel oder subsidiär zum Staat - erhalten und neue Formen entwickelt, sei es über Verwandtschaft und Familie, die mit staatlicher Wohlfahrt vielfältige Verflechtungen entwickelt und auch transnationale Netzwerke ausgebildet hat, seien es ethnische Netzwerke, religiöse Gemeinschaften, oder auch lokale Selbstverwaltungsformen. Diese Solidargemeinschaften haben verbindliche Regeln der Gegenseitigkeit und dauerhafte Institutionen generalisierter Reziprozität entwickelt; manche sind seit langem weiträumig verflochten. Wir haben historisch reiche Evidenz, dass sowohl solidarische Praktiken und Identifikationen, als auch rechtlich bindende Institutionen über nationale Gemeinwesen hinausreichen können.

Schutz vor den Folgen des globalen Kapitalismus

Die gegenwärtig dominanten politischen Institutionen scheinen hoffnungslos anachronistisch gegenüber den Herausforderungen der Gegenwart. Der Nationalstaat kann seine Bürger vor den Verwerfungen des globalen Kapitalismus nicht schützen, denn der Wettbewerb unter Nationalstaaten nimmt ihnen die Mittel, ihre Solidarinstitutionen aufrecht zu erhalten. Weder Finanz- noch Klimakrisen enden an territorialen Grenzen, auch wenn nationalstaatliche Regulierung die Kosten auch innerhalb von Staaten unterschiedlich verteilen können. Der Nationalstaat stößt an seine Grenzen, Solidarinstitutionen zu organisieren, weil die Probleme, die sich uns heute stellen, keine nationalen sind, und die Schließung territorialer Grenzen nicht Problemursachen, sondern Symptome angeht.

Welche anderen Modelle gibt es, gegenseitige Rechte und Pflichten, aber auch Mitsprache und Mitgestaltung zu organisieren? Wo finden heute die Kämpfe um Solidarbeziehungen statt?

Kämpfe um neue Solidarinstitutionen

Allerorten sind Bewegungen zu beobachten, die um neue Solidarinstitutionen kämpfen, solche, die der Beschaffenheit unserer gegenwärtigen Existenz in ihrer grundlegenden globalen Verflochtenheit gerecht werden. Hier werden alternative Ideen von Verantwortung vorgebracht, die nicht entlang nationalstaatlicher Grenzen, sondern entlang von Verflechtungszusammenhängen verbindliche Rechte und Pflichten zu etablieren suchen, sei dies in Hinblick auf arbeitsrechtliche Standards, soziale Sicherung, Haftungspflichten bei Umweltschäden und ihren Folgen für die ansässigen Menschen, Mitbestimmungsrechte über Zugangs- und Nutzungsrechte an Gemeingütern, an Land oder intellektuellem Eigentum wie Saatgut oder Medikamenten, Nahrungsmittelhoheit, oder Freizügigkeitsrechte. Auch wenn sich viele auf die spezifischen lokalen Verwerfungen der kapitalistischen Weltwirtschaft, seien es lokale Umweltprobleme oder lokale Auswüchse der „Akkumulation durch Enteignung“, konzentrieren, sind sie, wie viele der Bewegungen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die um soziale und politische Rechte kämpften, trans-national vernetzt. Dies nicht notwendig auf Grund eines ideologisch begründeten Internationalismus, sondern oft schlicht auf Grund der Problemlagen, mit denen sie konfrontiert sind, und der Einsicht, dass allein transnationale Solidarität auch lokale und nationale Solidarinstitutionen erhalten kann.

Diese sozialen Kämpfe der Gegenwart versuchen vielfach zunächst existierendes Recht auf erweiterte Verantwortungszusammenhänge hin – z.B. über strategic litigation – zu deuten und so verbindliche Institutionen zu ‚erfinden’. Noch haben diese Allianzen kaum verbindliche Institutionen erkämpft; noch findet die faktische politische, ökonomische und ökologische Interdependenz kaum Entsprechung in verbindlichen Institutionen gegenseitiger Vor- und Fürsorgepflichten und –Rechte, die über nationalstaatlich begrenzte Verpflichtungen zum Menschrechtsschutz hinausgehen und die somit die verflochtenen „Ermöglichungsstrukturen“ reflektieren würden. Doch sehen wir in den vielfältigen Versuchen, Teilhaberechte neu zu gestalten, wie den Überlegungen zu einem universellem Grundeinkommen, der Stadtbürgerschaft neue Prinzipien der Zugehörigkeit und Teilhabe an Solidarinstitutionen, die sich an Problembetroffenheit fest machen. Sie gruppieren sich gleichermaßen um Orte und Verflechtungsbeziehungen.

Orte und Verflechtungsbeziehungen rechnen also all jene dazu, die da sind (und bleiben), bzw. die in irgendeiner Form der sozialen Beziehung praktisch, d.h. de facto und nicht notwendig de jure, beteiligt sind. Der Ort ist insofern kein „Territorium“, sondern geographisches Gebiet, an dem Menschen leben – und eben die Aufgaben, die sich an diesem Ort zum (gemeinsamen) Leben stellen, bewältigen. Der Ort als Ort gemeinsamen Lebens, konstituiert das Gemeinwesen. Wenn ‚Orte’ durch die gemeinsame Betroffenheit durch konkrete Handlungs-Aufgaben bestimmt sind, so müssen lokale Nachbarschaft und Weltgesellschaft heute gleichermaßen als politische Gemeinschaft verstanden werden. Die Reichweite der Praxisgemeinschaften muss der Reichweite der Problemlagen entsprechen, weil sonst alle Verfahren zur Bearbeitung der Probleme zum Scheitern verurteilt sind. Die soziale Kämpfe der Gegenwart thematisieren genau dies: Die Weltgesellschaft als de facto politische Gemeinschaft, die Solidargemeinschaft werden muss. Diese zu gestalten, bedarf weiterhin der politischen Erfindungskraft.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Dr. phil., geb. 1967; zurzeit wissenschaftliche Mitarbeiterin der Projektgruppe Rechtspluralismus des Max-Planck-Instituts für ethnologische Forschung, Halle/Saale.

Anschrift: Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung, Postfach 110351, 06107 Halle/ Saale.
E-Mail: E-Mail Link: eckert@eth.mpg.de

Veröffentlichungen u. a.: Landreform in Usbekistan, Eschborn 1995; Reconciling the Mohalla, in: T. Scheffler (Hrsg.), Religion between Violence and Reconciliation, Beirut - Stuttgart 2002.