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Nato und Nationalstaat

Johannes Varwick

/ 9 Minuten zu lesen

(© picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Olivier Matthys)

Die Nato (North Atlantic Treaty Organization) wurde im April 1949 von 12 Staaten gegründet. Heute hat sie 29 Mitgliedstaaten, ein deutlich breiteres Aufgabenspektrum und ist trotz aller Debatten um ihre Relevanz und Zukunftsfähigkeit das bedeutendste Militärbündnis der Welt. Die heutige Nato hat nicht mehr allzu viel mit der Allianz gemein, die in der Zeit des Ost-West-Konflikts als reines Verteidigungsbündnis den politischen Status quo in Europa sichern sollte. Obgleich bereits der Nato-Vertrag vom April 1949 einen breiteren Zuständigkeitsbereich umfasst, war die Allianz jahrzehntelang ein klassisches, eindimensionales Verteidigungsbündnis. Der Sicherheitsbegriff war eng, umfasste vorwiegend militärische Aspekte, und die Auf-gabe war demnach klar und einfach definiert: Sicherheit für die Bündnispartner durch Verteidigung der Außengrenzen des Nato-Bündnisgebietes.

Sieben Jahrzehnte nach ihrer Gründung haben sich Konzeption, Zusammensetzung und Aufgaben der Allianz grundlegend verändert. Sie hat zahlreiche ehemalige Gegner als Mitglieder auf-genommen und agiert heute mit Militäreinsätzen in einem breiten Spektrum ohne territoriale Beschränkung weit außerhalb ihres ursprünglichen Bündnisgebiets. Angesichts der Verschlechterung des Verhältnisses zu Russland ab Frühjahr 2014 steht die klassische Funktion als transatlantisches Verteidigungsbündnis wieder im Mittelpunkt. Gleichzeitig bleibt sie aber im Bereich des militärischen Krisenmanagements aktiv und widmet sich außerdem neueren Themen wie Cyberkrieg, hybrider Kriegsführung, Kontrolle der Migration über das Mittelmeer oder Stabilisierung von Partnern im Süden.

Kompetenzen der Nato

Als Kernaufgabe nennt das gültige strategische Konzept der Nato die Wahrung der Freiheit und der Sicherheit der Mitgliedstaaten mit politischen und militärischen Mitteln in den drei Bereichen kollektive Verteidigung (‚collective defence‘), Krisenmanagement (‚crisis management‘) und kooperative Sicherheit (‚cooperative security‘). Unter Bezug auf Artikel 5 des Nato-Vertrages wird erklärt, dass sich die Nato-Mitglieder einander beistehen und sich gegen eine Aggression oder gegen aufkommende Sicherheitsherausforderungen gemeinsam verteidigen, wenn diese die fundamentale Sicherheit einzelner Alliierter oder die Allianz als Ganzes berühren. Die Art und Weise des Beistands nach Art. 5 ist gleichwohl nicht näher definiert, sondern umfasst lediglich die Maßnahmen, die von den einzelnen Mitgliedstaaten für erforderlich erachtet werden – dies kann von der Möglichkeit der Anwendung von Waffengewalt bis hin zu unverbindlichen verbalen Solidaritätserklärungen reichen.

Um diesen Auftrag zu erfüllen, gliedert sich die Nato in eine politische und eine militärische Organisation. Jeder Signatarstaat ist zwar Mitglied der politischen Organisation, muss jedoch nicht zwangsläufig (wie etwa im Falle Frankreichs bis 2009) der militärischen Organisation angehören. Zur Struktur heißt es im Gründungsvertrag der Allianz lediglich, dass die Parteien eine ständige Organisation des Nordatlantikvertrags einrichten werden. Festgelegt ist, dass ein Rat zu gründen sei, der so zu gestalten ist, dass er jederzeit schnell zusammentreten kann. Zudem errichtet er bei Bedarf nachgeordnete Stellen, insbesondere einen Verteidigungsausschuss. Das institutionelle Design ist also im Detail nicht vertraglich festgelegt, sondern ergibt sich aus den – durchaus wechselnden – Funktionen des Bündnisses und ist damit anpassungsfähig und flexibel. Jeder Mitgliedstaat kann zudem alle die ihm relevant erscheinenden Fragen im Nato-Rat vorbringen.

Auf der Ebene der Außen- und Verteidigungsminister tritt der Nato-Rat im Frühjahr und im Herbst zu regelmäßigen Sitzungen zusammen. Auf der Ebene der Ständigen Vertreter tagt der Nato-Rat wöchentlich, bei Bedarf sogar öfter. Jede Ratstagung entspricht mehr als 300 bilateralen Kontakten und kann somit zu einer leichteren Harmonisierung der nationalen Politiken im Alltagsgeschäft führen. Der Rat veröffentlicht Erklärungen und Kommuniqués, in denen die Bündnispolitik für die interessierte Öffentlichkeit erläutert wird. Fragen der Verteidigung werden im Verteidigungsplanungsausschuss beraten, dem die ständigen Vertreter der Mitgliedstaaten mit Ausnahme Frankreichs angehören. Dieser Ausschuss berät die Militärbehörden der Nato und hat in seinem Verantwortungsbereich dieselben Aufgaben wie der Rat.

Der Amtssitz des Nato-Generalsekretariats in der belgischen Hauptstadt Brüssel (von 1952 bis 1966 war der Sitz in Paris) ist zugleich das politische Hauptquartier der Organisation und der ständige Sitz des Rates. In Brüssel sind u. a. die nationalen Delegationen, der Generalsekretär und der internationale Stab, wichtige Ausschüsse sowie zahlreiche Nato-Behörden untergebracht. Fast 4.000 Mitarbeiter sind im militärischen Nato-Hauptquartier in Mons – das ab 2010 für über eine Milliarde Euro neu gebaut und 2018 bezogen wurde – beschäftigt, von ihnen etwa 2.200 Mitarbeiter der nationalen Delegationen und militärischer Vertretungen der Mitgliedstaaten bei der Nato. Dem internationalen Stab gehören etwa 1.000 Mitarbeiter an, der Internationale Militärstab (IMS) hat etwa 500 Mitarbeiter. Die Arbeit der Organe – nicht aber die Nato-Einsätze – wird durch die Mitgliedstaaten nach einem festgelegten Schlüssel finanziert, wobei der Rat die Verantwortung für den Haushalt trägt.

Stellung des Nationalstaats innerhalb der Nato

Wichtiges Grundprinzip der Nato ist zunächst der Primat der Politik und nicht des Militärs. Die militärische Organisation untersteht also der politischen Führung. Sowohl für den politischen als auch für den militärischen Bereich ist die institutionelle Struktur durchgängig in drei Ebenen unterteilt. Als oberstes Leitungsgremium besteht ein Hauptorgan, diesem unterstehen jeweils Unterorgane, die die ständige Arbeit zwischen den Tagungen des Hauptorgans koordinieren. Darunter befinden sich diverse administrative Organe, die die politischen und militärischen Beschlüsse vorbereiten und ausführen. Die obersten Organe mit Leitungskompetenz fällen ihre Entscheidungen durchgängig nach dem Konsensprinzip, und Änderungen einmal gefällter Beschlüsse sind wiederum nur einstimmig möglich. Die untergeordneten Organe sind an alle Entscheidungen gebunden.

Auf der einen Seite soll kein Mitgliedstaat darauf angewiesen sein, sich bei sicherheitspolitischen Herausforderungen allein auf seine eigenen nationalen Anstrengungen zu verlassen, auf der anderen Seite trägt jedes Mitglied nach wie vor die souveräne Verantwortung für seine eigene Sicherheit und Verteidigung. Wenn fast 30 Staaten in einem Politikfeld wie der Sicherheitspolitik eine gemeinsame Politik formulieren und umsetzen wollen, das die nationale Souveränität derart unmittelbar berührt, setzt dies voraus, dass alle Mitgliedstaaten – zumindest in Grundzügen – über Politik und Strategie ihrer Partner informiert sind und über diese beraten können. Eine solche Zielsetzung setzt regelmäßige, intensive politische Beratungen in allen Phasen der Entscheidungsfindung voraus.

Entgegen weit verbreiteter Meinung gibt es aber keine ‚Nato-Streitkräfte‘ im engeren Sinne, sondern die Allianz kann ledig konsensfähige Einsätze leiten und steuern (durch ihre strategischen und operativen Hauptquartiere), die dann durch Kontingente der Streitkräfte ihrer Mitgliedstaaten gebildet werden und an denen sich die Staaten auf freiwilliger Basis beteiligen – und diese auch national finanzieren. Sehr wohl gilt in der Militärpolitik aber das Prinzip der ‚Multinationalität‘, d. h. der intensiven Zusammenarbeit der Streitkräfte mehrerer Nationen bei einer bestimmten Aufgabe. Diese geht oftmals über die strategische bzw. operative Führungsebene hinaus und spielt sich heute auch auf der Ausführungsebene ab. In der Folge gibt es eine erhebliche Abhängigkeit der Streitkräfte untereinander, weniger im Sinne eines politischen Automatismus bei der Entscheidung über Einsätze, aber gewiss bei den Möglichkeiten, noch rein national Einsätze durchzuführen.

Der Nationalstaat hat also in der Nato in allen Fragen das letzte Wort, gegen seinen Willen kann und wird nichts entschieden. Die Konsensregel wird dabei aber zum einen durch die militärische Multinationalität überlagert. Zum anderen ist diese nicht mit dem Prinzip der Einstimmigkeit zu verwechseln, denn formelle Abstimmungen über einzelne Maßnahmen finden so gut wie nicht statt. Im Nato-Jargon wird dieses Entscheidungsverfahren als ‚silent procedure’ bezeichnet. Vielmehr teilen in aller Regel Mitgliedstaaten dem Generalsekretär Bedenken schriftlich mit. Geschieht dies nicht, wird ein Schweigen in den Gremien als Zustimmung gewertet. Hinter dem Begriff der Konsensregel verbirgt sich mithin die langwierige, sich oft über Wochen und Monate erstreckende Prozedur, während der die Mitgliedstaaten die Gelegenheit haben, ihre Positionen in die Abstimmungsprozesse so einzubringen und miteinander auszuhandeln, bis schließlich alle Partner zustimmen können.

Dieses Beschlussverfahren bedeutet, dass zumindest formal gerade die kleineren Staaten ein erhebliches Mitbestimmungspotenzial im Entscheidungsprozess der Nato über die grundlegende Politik der Allianz besitzen, denn jeder Staat behält seine volle Souveränität und trifft seine Entscheidung in eigener Verantwortung. Andererseits ermöglicht das ‚Schweigeverfahren’ einem nationalen Vertreter, der noch keine konkrete Weisung aus seiner Hauptstadt erhalten hat, einen gewissen Spielraum. Zudem sind natürlich faktisch die großen und militärisch schlagkräftigen Staaten hinter den Kulissen oft bestimmend.

Rückwirkung auf den Nationalstaat

Die politische und militärische Struktur der Nato soll grundsätzlich in der Lage sein, die politisch definierten militärischen Aufgaben umzusetzen, allerdings mit der Schwierigkeit, dass die Staaten im Prinzip für sich alleine entscheiden, mit welchen militärischen Fähigkeiten sie sich beteiligen wollen. Die Organisation hat hier zwar Möglichkeiten der Einflussnahme, u. a. im Rahmen der sogenannten gemeinsamen Verteidigungsplanung, sie kann aber die souveränen Mitglieder zu nichts zwingen.

Wie weitgehend der Einfluss bzw. die Rückwirkungen der Allianz auf den Nationalstaat sind, hängt nicht zuletzt von der Größe, der militärischen Leistungsfähigkeit sowie den alternativen Handlungsmöglichkeiten eines Staates ab. Die USA beispielsweise können ihre Interessen und Ziele in (fast) jedem Fall immer auch unilateral verfolgen. Für die kleineren Bündnispartner scheidet in jedem Fall eine rein nationale Handlungsfähigkeit als Alternativoption aus. Aber für die größeren Staaten – Deutschland, Türkei, Frankreich, Großbritannien, Spanien, Italien, Polen – sieht das schon anders aus. Auch wenn in allen genannten Fällen der transatlantische oder zumindest der europäische Verbund die Handlungsmöglichkeiten vervielfältigen (bzw. bei Lichte betrachtet: erst schaffen) würde und es deshalb in ihrem Interesse bleibt, diese Dimension zu stärken, kann erwartet werden, dass für den Notfall weiterhin – und möglicherweise künftig sogar verstärkt – auch national gedacht wird.

Sowohl für die USA als auch für Großbritannien und Frankreich war die Nato immer nur eine sicherheitspolitische Option, und es blieb ihnen als Alternative nationalstaatliches Handeln. Deutschland ist nicht nur politische Zentralmacht Europas sondern nach Einwohnerzahl und Wirtschaftskraft das zweitgrößte Nato-Mitglied; hinsichtlich der Zahl der aktiven Soldaten liegt Deutschland hinter den USA, der Türkei, Frankreich und Italien an fünfter Stelle und stellt insgesamt einen Anteil von rd. 15 Prozent der Dienstposten in der Nato-Kommandostruktur. Die Verteidigungsausgaben liegen nicht nur in den USA, sondern auch in Frankreich und Großbritannien in der Summe deutlich höher. Gemessen an dem Prozentsatz am Bruttoinlandsprodukt liegt Deutschland im unteren Drittel.

Für die deutsche Sicherheitspolitik spielt die Nato allerdings traditionell eine zentrale Rolle. Alle Bundesregierungen der Nachkriegszeit sahen im nordatlantischen Bündnis nicht nur den Garanten der Sicherheit und des Friedens Deutschlands und Europas. Gleichzeitig stellte die Allianz den wichtigsten (wenngleich nicht immer exklusiven) sicherheits- und verteidigungspolitischen Handlungsrahmen sowie das zentrale institutionalisierte transatlantische Bindeglied dar. Ohne die Nato war und ist deutsche Sicherheitspolitik kaum denkbar und dementsprechend bedeutsam ist die Nato für die deutsche Sicherheitspolitik.

Zusammenfassung

Die Rückwirkung der Nato auf die Politik der Mitgliedstaaten Nato hängt künftig neben der Entwicklung des Sicherheitsumfeldes wesentlich von der Ausbildung der Interessenslage ihrer Mitglieder ab, insbesondere von Schlüsselstaaten wie den Vereinigten Staaten von Amerika (die unter Präsident Trump in vielen Fragen Zweifel an ihre Verlässlichkeit aufkommen lassen), Deutschland, Frankreich und Polen, aber auch der Türkei (die in einer der brisantesten Krisenzonen der Gegenwart liegt und sich innenpolitisch von der Wertebasis der Allianz entfernt). Absehbar ist, dass sich in verschiedenen Krisen und Operationen – die aller Erfahrung nach sicher kommen werden – verschiedene Koalitionen bilden und sich die Rolle und Bedeutung der Nato nach deren Brauchbarkeit bei der Koalitionsbildung wie auch der Verfügbarkeit ihrer Ressourcen bemessen werden.

Zudem: Trotz der neuen Aufgaben und der ungebrochenen Attraktivität für alte wie neue Mitglieder befindet sich die Nato in einem vielschichtigen Dilemma. Die militärischen Aufgaben im Bereich des Krisenmanagements führen schnell zu einer Überforderung (siehe Afghanistan), die neuen politischen Aufgaben werden die innere Kohärenz nicht in dem Maße gewährleisten, wie es die gemeinsame Bedrohungswahrnehmung während des Ost-West-Konfliktes getan hat. Stattdessen könnten Ad-hoc-Koalitionen (‚coalitions of the willing‘) an Attraktivität gewinnen und den Zusammenhalt im Bündnis untergraben. Zudem stellt auch die Konkretisierung der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik wie auch die veränderte Rolle der USA im Bündnis die Frage nach Bedarf, Funktion und Rolle der Nato neu. Es ist also durchaus fraglich, ob die Nato die Bedeutung behält, die sie für die Mehrzahl der Mitgliedstaaten in den vergangenen 70 Jahren hatte.

Weitere Inhalte

Dr. phil., geb. 1968; Professor für Politikwissenschaft an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel.
Anschrift: Institut für Politische Wissenschaft, CAU Kiel, Westring 400, 24118 Kiel.
E-Mail: E-Mail Link: varwick@politik.uni-kiel.de

Veröffentlichungen u. a.: Deutsche Außenpolitik in globaler Perspektive: Kooperativer Multilateralismus und die Vereinten Nationen, in: Politische Bildung, (2003) 2; Die NATO-Politik der rot-grünen Bundesregierung 1998 - 2003, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft, (2004) 1; Vom Partner zum Rivalen? Die Zukunft der transatlantischen Sicherheitsbeziehungen, in: Österreichische Militärische Zeitschrift, (2004) 2.