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"Alles besser ohne Nationen?" | Rechtspopulismus | bpb.de

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"Alles besser ohne Nationen?" Debattenbeitrag

Andreas Nölke

/ 8 Minuten zu lesen

Gerade in Deutschland ist die Skepsis gegenüber dem Nationalstaat historisch sehr gut verständlich. Insofern verwundert es auch nicht, dass in der europäischen Diskussion gerade deutsche Vertreter häufig von der Notwendigkeit der Überwindung des Nationalstaats zugunsten der EU reden, beispielsweise Jürgen Habermas oder Ulrike Guérot. Allerdings sollen wir dabei nicht vergessen, dass die deutsche Bevölkerung aus denselben historischen Gründen viel EU-freundlicher ist als viele andere europäische Gesellschaften – auf deren Kooperation sie bei der Aufwertung der EU zum Staatsersatz aber angewiesen wäre. Zudem sollten wir bedenken, dass außerhalb der EU überhaupt keine Alternative zum Nationalstaat existiert.

Die Unverzichtbarkeit des Nationalstaats – und die begrenzte Attraktivität der Alternative der EU – wird sehr deutlich, wenn wir uns mit dessen Funktionen beschäftigen. Als erste und wichtigste Funktion ist hier die Organisation demokratischer Entscheidungsprozesse zu nennen. Letztere funktionieren derzeit weitaus besser auf der Ebene des Nationalstaates als auf jener der EU, wenn wir beispielsweise die Zustimmung der Bürger und Bürgerinnen zur Legitimität des politischen Prozesses, die Wahlbeteiligung oder die Existenz einer entsprechenden Öffentlichkeit einbeziehen.

Willensbildung im Nationalstaat

Zwar ist grundsätzlich eine Verlagerung der demokratischen Willensbildung auf die europäische Ebene denkbar, aber diese Verlagerung ist nicht nur auf absehbare Zeit politisch wenig wahrscheinlich, sondern würde selbst unter günstigsten Bedingungen auch durch strukturelle Probleme behindert. Zu diesen Problemen gehört beispielsweise die unterschiedliche Gewichtung der Wähler zum Europaparlament in verschiedenen Mitgliedsstaaten, bei denen ein Abgeordneter aus Malta viel weniger Stimmen benötigt als ein Abgeordneter aus Deutschland. Es ist überhaupt nicht abzusehen, dass die kleineren Mitgliedsstaaten bereit sind, auf diese Gewichtung zu verzichten.

Zudem gibt es Hinweise (beispielsweise von Dirk Jörke), dass die Demokratie in sehr großen Gebietskörperschaften viel schlechter funktioniert als in kleineren. So führt dann beispielsweise die höhere Komplexität dazu, dass der politische Prozess für die Wähler weniger durchschaubar ist. Wenn die demokratische Entscheidungsfindung systematisch von der Ebene der Nationalstaaten auf die Ebene der EU verlagert würde, würde sich dieses Problem noch intensivieren. Die Gefahr der Entfremdung der Repräsentanten von den Wählern würde weiter ansteigen.

Nicht nur in Bezug auf die Demokratie spielt der Nationalstaat heute nach wie vor eine prägende Rolle. Auch die Wirtschaft divergiert stark entlang der Grenzen des Nationalstaats, selbst nach Jahrzehnten der gemeinsamen Regulierung innerhalb der EU. Gerade die Krise des Euros hat demonstriert, wie stark der zeitgenössische Kapitalismus sich auch in Europa noch nach Nationalstaaten unterscheidet, ohne dass diese Unterschiede auf absehbare Zeit eingeebnet werden können. Während die gemeinsame Währung das deutsche Exportmodell beflügelt hat, litten die eher vom Binnenkonsum getragenen Volkswirtschaften Südeuropas unter den Euro-Regelungen. Zudem unterscheiden sich die Gesellschaften Europas auch ganz erheblich dahingehend, welche Institutionen sie für ihre Wirtschaft als unerlässlich betrachten. Während in Deutschland beispielsweise die Mitbestimmung in Unternehmen sehr geschätzt wird, spielt diese in anderen europäischen Wirtschaftsmodellen keine besondere Rolle.

Wirtschaftlichkeit im Nationalstaat

Trotz dieser Beobachtungen wird häufig behauptet, dass der Nationalstaat gerade in wirtschaftlichen Fragen obsolet sei. Nur die EU sei stark genug, um als Schutzschild gegen die Unbill der Globalisierung zu wirken. Grundsätzlich ist diese Idee sehr überzeugend. Leider funktioniert sie in der Praxis nicht – im Gegenteil, gerade die EU gehört zu den aggressiven Triebkräften der wirtschaftlichen Globalisierung. So ist die Vertiefung der transnationalen Finanzmärkte, die zur desaströsen Wirtschaftskrise von 2007/2008 geführt hat, ja gerade besonders von der EU betrieben worden. Insofern sollten wir auch in Bezug auf die Wirtschaft sehr vorsichtig sein, ein Ende des Nationalstaats zugunsten der EU auszurufen. Das gilt umso mehr, als dass die EU wirtschaftspolitisch nicht neutral ist, sondern eine starke Schlagseite in Bezug auf den Wirtschaftsliberalismus aufweist. Die Konstitutionalisierung der vier Grundfreiheiten sorgt dafür, dass die EU – im Gegensatz zum deutschen Grundgesetz – systematisch den ökonomischen Liberalismus bevorzugt, unabhängig von den demokratischen Mehrheiten.

Die Unverzichtbarkeit des Nationalstaats zeigt sich aber auch in Bezug auf die Grundnorm der Solidarität. Nur auf nationaler Ebene findet derzeit eine substantielle Umverteilung von reich zu arm statt. Nur auf der Ebene des Nationalstaats finden wir einen ausgebauten Wohlfahrtsstaat. Eine Verlagerung des Wohlfahrtsstaats auf europäischer Ebene ist unrealistisch, selbst wenn es wider Erwarten politische Unterstützung für solche Vorstellungen geben sollte. Wenn man sich die Größe der wohlfahrtsstaatlichen Bürokratie auch nur in Deutschland vor Augen hält, möchte niemand für einen Aufbau einer noch viel größeren Sozialstaatsbürokratie in Brüssel plädieren.

Aber auch unabhängig vom tagtäglichen Geschäft des Sozialstaats zeigt sich, dass Solidarität auf der Ebene des Nationalstaats viel besser funktioniert als auf transnationaler Ebene. Sehr deutlich wird das beispielsweise beim Vergleich von deutscher Wiedervereinigung und Eurokrise. Während die westdeutsche Bevölkerung im Fall der Wiedervereinigung ohne großen Widerstand bereit war, Lasten über eine Erhöhung der Einkommenssteuer zu zahlen (Solidaritätszuschlag), zeigte sich im Fall der Eurokrise selbst bei viel geringeren potentiellen Beiträgen ein massiver Widerstand, der nicht zuletzt zur Etablierung der AfD geführt hat. In der Extremsituation der Corona-Krise ist es ausnahmsweise gelungen, mit „Next Generation EU“ eine Form transnationaler Solidarität zu etablieren. Eine Verdauerung dieser Transfers scheint aber sehr unwahrscheinlich. Und im Vergleich zum Volumen der Stützungsmaßnahmen, mit denen Deutschland seine eigene Wirtschaft in der Krise unterstützt hat, fallen die deutschen Transfers kaum ins Gewicht.

Unverzichtbarkeit des Nationalstaats

Nicht nur diese Beobachtungen verweisen darauf, dass der Nationalstaat auf absehbare Zeit zur Realisierung von Solidarität in großem Maßstab unverzichtbar ist. In einer etwas abstrakteren Perspektive spricht viel für das Konzept der „Layered obligations“ (David Goodhart), das davon ausgeht, dass Solidarität im engsten Kreisen, beispielsweise der Familie, besonders ausgeprägt ist, dann auf lokaler und regionaler Ebene schon deutlich schwächer, auf nationaler Ebene ebenfalls noch weniger ausgeprägt, aber auf europäischer oder gar globaler Ebene kaum vorhanden ist. Insofern werden wir weiterhin den Nationalstaat für die Organisation von sozialem Ausgleich benötigen.

Menschen benötigen jedoch nicht nur soziale Sicherheit, sondern auch alltägliche Sicherheit im Sinne der Unverletzbarkeit von Leben und Wohnung. Auch hier ist der Nationalstaat auf absehbare Zeit unverzichtbar. In der Corona-Pandemie haben wir gesehen, wie die meisten Menschen in einer extremen Krisensituation den Schutz des Nationalstaats suchen. Selbst innerhalb der Europäischen Union haben die nationalen Regierungen zum Schutz der jeweiligen Bevölkerung in der Krise kurzfristig die Grenzen geschlossen und auch längerfristig den Grenzübertritt sorgfältig überwacht.

Der Nationalstaat ist zudem nach wie vor Hort des Rechtsstaats. Als solcher ist er die wichtigste Instanz zum Schutz der sozial und politisch Schwachen. Hinzu kommt das Gewaltmonopol, das auf absehbare Zeit auf der Ebene des Nationalstaates verbleiben wird. Auch hier ist die EU keine Alternative. Sie ist bei jenen rechtlichen Kompetenzen, die ihr zustehen, auf die Kooperation mit nationalstaatlichen Gerichten und der nationalstaatlichen Polizei angewiesen. Auch die kühnsten Fans der EU schlagen nicht vor, diese Funktionen auf die europäische Ebene zu verlagern.

Nicht nur der innere Frieden beruht nach wie vor in erster Linie auf dem Nationalstaat, sondern auch der äußere. Die potentiell gefährlichsten Störenfriede für die friedliche internationale Ordnung sind nicht die stabilen Nationalstaaten, sondern sogenannte „failed states“, denen es gerade an dieser nationalen Stabilität fehlt. Gerade wenn wir unseren Blick vom inneren Kreis der EU lösen, wird uns auffallen, dass außerhalb dieses Raums der Nationalstaat – und nicht ein supranationaler Zusammenschluss – als Garant von Stabilität und Selbstbestimmung gesehen wird. Nicht zuletzt deswegen streben unzählige Befreiungsbewegungen die Etablierung eines eigenen Nationalstaates an. Aber auch Entwicklungs- und Schwellenländer, die in stabilen Nationalstaaten existieren, schätzen dessen Funktion zum Schutz der eigenen Ökonomie gegen eine globale Wirtschaft, der sie ansonsten mangels Wettbewerbsfähigkeit schutzlos ausgesetzt wären. Wir sollten schließlich auch nicht vergessen, dass nach wie vor der Nationalstaat die wichtigste Grundlage internationaler Kooperation darstellt. Internationale Abkommen in essenziellen Bereichen wie dem Klimaschutz oder der Abrüstung funktionieren als Abkommen zwischen Nationalstaaten, nicht als supranationale Regime.

Nationalstaat ohne Nationalismus

Selbst wenn wohlmeinende Technokraten diese Gründe für die absehbare Beibehaltung - oder sogar Stärkung - des Nationalstaates ignorieren und trotzdem eine Ablösung des Letzteren durch die EU betreiben würden, wäre das mit großer Wahrscheinlichkeit ein zum Scheitern verurteiltes Unterfangen. Während große Teile der deutschen politischen und ökonomischen Eliten kosmopolitische Werte hochhalten und daher den Nationalstaat tendenziell als veraltet ansehen, sind die überwiegenden Teile unserer Gesellschaft viel stärker kommunitaristisch geprägt. Sie legen daher großen Wert auf den Schutz durch den Nationalstaat. Es ist kaum vorstellbar, wie sie davon überzeugt werden könnten, auf diesen Schutz zu verzichten. Ein Ignorieren kommunitaristisch gestimmter gesellschaftlichen Gruppen ist sehr gefährlich, wie in letzter Zeit beispielsweise der Brexit oder auch die Wahl von US-Präsident Trump gezeigt haben. Wir können davon ausgehen, dass auf absehbare Zeit keine ausreichende gesellschaftliche Unterstützung für einen „großen Sprung nach vorn“ in der europäischen Integration steht. Im Gegenteil, eine forcierte Integration könnte eher dazu führen, dass das europäische Einigungswerk unterminiert wird, durch eine Mobilisierung gesellschaftlichen Widerstands.

Es spricht also sehr viel dafür, dass wir auf absehbare Zeit nicht auf den Nationalstaat verzichten können. Hingegen bedeutet die Unverzichtbarkeit des Nationalstaats nicht die Unverzichtbarkeit des Nationalismus. Es gibt keine sachliche Notwendigkeit einer Verknüpfung von Nationalstaat und nationaler Kultur oder Sprache (vgl. etwa das Beispiel der Schweiz) oder gar von Religion oder Ethnie. Der Nationalstaat funktioniert auch ohne solche Vorstellungen einer Homogenisierung nationaler Kultur. Allerdings wird es auch nicht ganz ohne Identifikationsangebote gehen, die mit solchen kulturellen Aspekten häufig assoziiert werden. Gerade auch Zugewanderte in unseren europäischen Immigrationsgesellschaften benötigen solche Identifikationsangebote. Darauf verweisen auch Erhebungen des World Value Surveys, die darauf hinweisen, dass ein affektiver Nationalstolz weit verbreitet ist. In der letzten Erhebung (2010-2014) waren 86 Prozent der weltweit Befragten sehr oder ziemlich stolz auf ihre Nationalität.

Aus progressiver Perspektive ist es allerdings durchaus wünschenswert, den Nationalstolz einerseits und Fragen von Kultur, Sprache, Religion und Ethnie andererseits zu trennen. Diese Vorstellung ist nicht neu, sie ist im deutschen Sprachraum insbesondere in Form des Konzeptes des Verfassungspatriotismus (u.a. von Dolf Sternberger und Jürgen Habermas) verbreitet worden. Allerdings hat der Verfassungspatriotismus bisher nicht unbedingt zu dem Maß an Identifikation geführt, den seine Initiatoren sich wünschten. Möglicherweise ist das Konzept etwas zu abstrakt und zu kühl-rationalistisch.

Eine bessere Alternative ist womöglich der Vorschlag von Richard Rorty in „Achieving our country“ (1998). Rorty wendet sich gegen die verbreitete Verachtung des Nationalstolzes in der amerikanischen Linken und argumentiert, dass ein solcher affektiver Nationalstolz auch sehr progressiv sein kann, wenn er mit einem geeigneten Identifikationsangebot verknüpft ist. Kern seines Vorschlages ist, dass Menschen auf jeden Fall stolz auf das eigene Land sein sollten, aber nicht wegen der mitunter verhängnisvollen kulturalistischen Aufladung der Nation, zumal in Migrationsgesellschaften, sondern diesen Stolz eher auf progressive Leistungen des entsprechenden Landes projizieren sollten. Heute würde es sich beispielsweise anbieten, Nationalstolz auf besondere Leistungen im Klimaschutz zu beziehen.

Wir sollten also unseren gemeinsamen Nationalstolz darauf richten, unser Land zum sozial gerechtesten, zum demokratischsten, zum friedlichsten, zum umweltfreundlichsten und zum international solidarischsten Land zu machen. Wenn wir diese Werte anstreben und realisieren, ist auch der Nationalstolz eine positive Eigenschaft. Menschen können dann die essenziellen Funktionen des Nationalstaats wertschätzen, ohne gleichzeitig in zerstörerischen Nationalismus zu verfallen.

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Prof. Dr. Andreas Nölke ist ein deutscher Politikwissenschaftler und Professor an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main. Sein Arbeitsschwerpunkte sind die Internationalen Beziehungen und die Internationale Politische Ökonomie.