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Untergang oder Rettung: Bürgerbudgets als Hoffnungsträger?

Interview: Redaktion Netzwerk Bürgerhaushalt - Alexandra Lau

/ 4 Minuten zu lesen

Bürgerhaushalte wurden in Deutschland lange Zeit stiefmütterlich behandelt, sagt Norbert Kersting, Professor am Lehrstuhl für Vergleichende Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Kommunal- und Regionalpolitik in Münster. Weshalb das so ist und warum ein Blick ins Ausland lohnt, um den Bürgerhaushalt wiederzubeleben, erklärt der Politologe im Interview.

Prof. Dr. Norbert Kersting, Lehrstuhl für Vergleichende Politikwissenschaft in Münster - Kommunal- und Regionalpolitik (© privat)

Herr Kersting, Sie haben die Entstehung und Entwicklung der Bürgerhalte von Beginn an verfolgt – was ist Ihr Eindruck?

Zur Jahrtausendwende haben in Deutschland immer mehr Städte und Kommunen damit begonnen, Bürgerhaushalte einzuführen. Dabei orientierte man sich an zwei internationalen Vorbildern: zum einen das Verfahren in der brasilianischen Großstadt Porto Alegre, die als Wiege der Bürgerhaushaltsbewegung gilt. Hier setzte man anfänglich zunächst ausschließlich auf analoge Beteiligungsformen, wie etwa Bürgerversammlungen. Ein anderer Ansatz kommt aus Christchurch, Neuseeland, der die Bürgerhaushalte stärker als ein Instrument betrachtet, um der Verwaltung in Form eines Vorschlagswesens weitere Informationen zu liefern. Per Post, über das Internet und nur begrenzt über Informationsforen und Diskussionsveranstaltungen, an denen Bürgermeister/-innen oder Ratsmitglieder/-innen teilnehmen, konnten die Bürger/-innen ihre Vorschläge vortragen, die anschließend vom Rat geprüft wurden – auf dieser Grundlage wurde dann entschieden, ob sie in die endgültige Fassung des Gemeindehaushalt einfließen.

Welchem Trend ist Deutschland gefolgt?

Das Label Bürgerhaushalt gab und gibt es unter verschiedenen Vorzeichen mit unterschiedlichen Instrumenten, aber die Mehrzahl hat sich an der Christchurch-Variante orientiert. Heißt: Bürgerversammlungen waren oft nur Information über die Funktionsweise des Haushalts durch Kämmerer und Bürgermeister. Die Bürger/-innen setzen sich zunächst zusammen, diskutieren und reichen anschließend ihre Vorschläge ein. Die Mehrzahl der Vorschläge wurden zumeist postalisch und später zunehmend digital eingereicht. Diese werden dann noch einmal gerankt, danach gehen sie in die Verwaltung, die die Vorschläge prüft und an den Rat weiterleitet. Das Problem war, dass der analoge Teil, also die Versammlungen trotz Teilnahme der Verwaltungsspitze, häufig sehr schlecht besucht waren. Letztendlich hat sich – bis auf ein paar Ausnahmen – fast ausschließlich das digitale Vorschlagswesen etabliert. Hinzu kam eine weitere Entwicklung angesichts der vielerorts maroden Gemeindefinanzen. Man hat angefangen, nur Vorschläge für Sparhaushalte zu sammeln – also Ideen, wie man sparen, nicht wo man etwas entwickeln kann.

Rückblickend betrachtet sind die Bürgerhaushalte in Deutschland eher stiefmütterlich behandelt worden, indem sie sehr stark als Verwaltungsinstrument gesehen wurden, und weniger als Instrument, das auf der sublokalen Ebene wirkt, zum Beispiel um nachbarschaftliche Beziehungen zu entwickeln. 2014 wurden in einer deutschlandweiten Umfrage unter Bürger/-innen und Ratsmitglieder/-innen Daten zum Thema Bürgerbeteiligung erhoben, wo auch die Bürgerhaushalte genannt wurden. Leider landeten diese in der Hierarchie recht weit unten. Dies erklärt sich auch dadurch, dass die Verfahren häufig nicht richtig implementiert wurden.

War die Entwicklung zu eindimensional?

Ich denke schon. Es fehlte an Vielfalt. Das hat auch damit zu tun, dass es nur wenige Beratungsfirmen gab und gibt, die diese Instrumente umgesetzt haben. Außerdem waren sie überwiegend digital orientiert und sind sehr stark in der Implementation verhaftet. Inzwischen setzen einige Kommunen aber auch wieder mehr auf analoge Formate. Ein weiteres Problem ist die mangelhafte Evaluation, die häufig dieselben Beratungsagenturen vornehmen, die auch implementieren. Das ist meines Erachtens ein großer Fehler – es darf nicht sein, dass der, der implementiert, auch evaluiert. Da muss es eine Gewaltenteilung geben!

Sollten wir uns mehr in der Welt umschauen?

Ja, man hätte sich hierzulande schon früher breiter aufstellen müssen und vergleichen, welche Tools z.B. andere Länder nutzen. Allerdings sind auch hier nicht alle Entwicklungen glücklich verlaufen. Schauen wir heute nach Porto Alegre, ist das Bild ernüchternd. Dort ist man demselben Trend gefolgt und hat nach den ersten Erfolgen später fast ausschließlich noch auf digitale Instrumente gesetzt – ein Fehler, wie sich jetzt zeigt. Der Bürgerhaushalt dort ist leider nicht mehr wirklich existent. Trotzdem war Porto Alegre ein großes Vorbild für Brasilien, aber auch für andere Länder wie z.B. die Dominikanische Republik, wo das Verfahren legislativ verankert wurde. Auch in Spanien und Italien ist diese Art der Beteiligung traditionell sehr gut implementiert. In der Toskana z.B. ist der Bürgerhaushalt in der Regionalverfassung festgeschrieben. Ich glaube, eine Stärke dieser Länder ist, dass sie auch auf alternative, analoge Instrumente wie Versammlungen setzen.

Dort spielten früh Bürgerräte – auch bekannt als Minipublics, Citizen Jurys oder Planungszellen – eine Rolle, die ihre Mitglieder über Zufallsauswahl auswählen. Dann sitzen nicht mehr die Parteivertreter/-innen und Repräsentant/-innen der organisierten Interessen oder die „üblichen Verdächtigen“, sondern Normalbürger/-innen an Bürgergutachten. Das kann auch lokale Demokratie beleben. Dieses Format boomt in vielen Ländern. Ein interessantes Beispiel waren etwa die Bürgerräte in Irland zu den Verfassungsprozessen rund um die Legalisierung der Abtreibung und der gleichgeschlechtlichen Ehe. Sie haben damit einen breiten, öffentlichen Dialog angestoßen. Auch in Frankreich haben sich im Zuge der Gelbwesten-Proteste solche Instrumente gebildet mit dem Ziel, die Proteste einzufangen und in einen rationalen Kurs zu lenken. Langsam schwappen diese Entwicklungen auf nationaler Ebene auch nach Deutschland über, wie wir im Bürgerrat zur Zukunft der Demokratie 2019 gesehen haben. Auf lokaler Ebene gab es seit den 1970ern mit der Planungszelle derartige Experimente. Aber nicht in Kombination mit einem Bürgerhaushalt.

Ihr Fazit: Ist der Bürgerhaushalt in Deutschland noch zu retten?

Ich sehe eine positive Entwicklung. In den letzten Jahren kommt die Tendenz auf, dass immer mehr Städte und Kommunen in Richtung Bürgerbudget gehen, also ein spezielles Budget einrichten. Das hat auch damit zu tun, dass man stärker ins Ausland schaut. Wuppertal etwa hat sein Verfahren auf Empfehlung von Kolleg/-innen aus Italien und Portugal und anderen Ländern umgestellt. Bonn hat das dann kopiert – und es folgen immer mehr Kiezfonds, die extra Mittel reservieren. Ich denke, darin liegt die Zukunft. Auch die Kombination mit Bürgerräten ist interessant. Das kann den Bürgerhaushalten neuen Elan geben.

Fussnoten

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