Naturschutzpolitik begründen: Warum Naturschutz eine politische Aufgabe ist
Uta Eser
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Viele Menschen engagieren sich im Naturschutz und können dabei einiges erreichen. Das Thema hat aber darüber hinaus eine Dimension, die staatliche Eingriffe erfordert. Warum ist die "Natur" so wichtig und welche Argumente gibt es dafür, dass ihr Schutz auch eine wichtige politische Aufgabe ist?
Zusammenfassung
In diesem Beitrag geht es um die Frage, warum und inwiefern der Schutz der Natur eine politische Aufgabe ist. Man könnte ja auch meinen, die Liebe zur Natur sei eine rein private Angelegenheit: Manche Menschen engagieren sich im Fußballverein, andere im Chor und manche eben im Naturschutz. Anders als Fußballspiel und Chorgesang stellt Naturschutz aber auch eine hoheitliche Aufgabe dar. Es gibt Naturschutzgesetze, Naturschutzbehörden, ein Bundesamt für Naturschutz und eine nationale Strategie, die Ziele und Maßnahmen für den Schutz der biologischen Vielfalt festlegt (BMU 2007). Warum es gut und richtig ist, dass der Staat sich um den Schutz der Natur kümmert – darum geht es in diesem Artikel.
Aufbau Im ersten Teil erkläre ich, was "Natur" eigentlich ist, welche Art von Handlungen man als Naturschutz bezeichnet und was unter Naturschutzpolitik zu verstehen ist. Im zweiten Teil diskutiere ich sodann drei Arten von Argumenten, die begründen, warum der Schutz der Natur eine Aufgabe des politischen Handelns darstellt.
Das erste und häufigste Argument, Klugheit, lautet: "Naturschutz nutzt uns". Hier geht es um instrumentelle Werte der Natur, aus denen folgt, dass die Gesellschaft sich langfristig selbst schadet, wenn sie ihre natürliche Existenzgrundlage zerstört.
Das zweite Argument, Gerechtigkeit, heißt: "Natur nutzt allen". Hier geht es darum, wie das Handeln der Einen die Naturnutzung der Anderen beeinträchtigt – und um die moralischen Verpflichtungen, die daraus folgen.
Der folgende Abschnitt widmet sich einem oft unterschätzten Argument, dem Glück. Es heißt: "Natur gehört zu einem guten Leben". Hier geht es um die Liebe zur Natur und um Naturästhetik. Im Anschluss daran wird der Unterschied zwischen dem glücksbezogenen (eudämonistischen) Eigenwert der Natur und ihrem moralischen Selbstwert erläutert.
Abschließend stelle ich Befunde aus der Naturbewusstseinsstudie des Bundesamts für Naturschutz vor, die zeigen, welche Argumente in der Bevölkerung Zustimmung finden.
I. Natur, Naturschutz, Naturschutzpolitik
Was ist Natur?
Seit der Antike verstehen wir unter Natur das, was nicht vom Menschen gemacht ist.
Zitat
Der griechische Philosoph Aristoteles (384-322.v. Chr.) definiert: "Unter den vorhandenen (Dingen) sind die einen von Natur aus, die anderen sind auf Grund anderer Ursachen da. Von Natur aus: Die Tiere und deren Teile, die Pflanzen und die einfachen unter den Körpern, wie Erde, Feuer, Luft und Wasser; von diesen und Ähnlichem sagen wir ja, es sei von Natur aus. Alle diese erscheinen als unterschieden von dem, was nicht von Natur aus besteht. Von diesen hat nämlich ein jedes in sich selbst einen Anfang von Veränderung und Bestand, teils bezogen auf Raum, teils auf Wachstum und Schwinden, teils auf Eigenschaftsveränderung."*
Würde man diese Definition eng auslegen, gäbe es heute gar keine Natur mehr, denn mittlerweile sind alle Interner Link: Ökosysteme mehr oder weniger von Menschen überformt. Spuren menschlichen Handelns finden sich selbst in den Eiswüsten der Polarregion und in den Tiefen der tropischen Regenwälder. Das bedeutet jedoch nicht, dass diese keine Natur mehr wären. Natürliche Prozesse wie Wachstum und Sterben, Verbreitung und Entwicklung geschehen ohne menschliches Zutun, ja entziehen sich diesem nachgerade. Wer einen Garten hat, Land bewirtschaftet oder ein Tier hält, weiß: Wir haben im Umgang mit der Natur nicht vollständig in der Hand, was passiert. Natur begegnet uns als eigenständig, eigensinnig und schöpferisch. Der Philosoph Baruch de Spinoza (1632-1677) betrachtete daher die gesamte Natur als göttlich. Er unterschied die schöpferische Kraft der Natur (natura naturans) von der geschaffenen Natur (natura naturata). Letztere bezeichnet das, was wir als sinnliche Erscheinungen wahrnehmen, beispielsweise Pflanzen, Tiere, Wälder, Seen, Landschaften. Spinozas Unterscheidung ist hilfreich, um die Vielgestaltigkeit des Naturschutzes zu verstehen.
Was ist Naturschutz?
QuellentextGesetz über Naturschutz und Landschaftspflege
(Bundesnaturschutzgesetz – BNatSchG)* § 1 Ziele des Naturschutzes und der Landschaftspflege (1) Natur und Landschaft sind auf Grund ihres eigenen Wertes und als Grundlage für Leben und Gesundheit des Menschen auch in Verantwortung für die künftigen Generationen im besiedelten und unbesiedelten Bereich […] so zu schützen, dass
die biologische Vielfalt,
die Leistungs- und Funktionsfähigkeit des Naturhaushalts einschließlich der Regenerationsfähigkeit und nachhaltigen Nutzungsfähigkeit der Naturgüter sowie
die Vielfalt, Eigenart und Schönheit sowie der Erholungswert von Natur und Landschaft auf Dauer gesichert sind; der Schutz umfasst auch die Pflege, die Entwicklung und, soweit erforderlich, die Wiederherstellung von Natur und Landschaft (allgemeiner Grundsatz).
Der allgemeine Grundsatz des Bundesnaturschutzgesetztes (siehe Kasten) zeigt, wie vielförmig Naturschutz ist. Zum einen will er konkrete Naturstücke wie Arten, Lebensräume oder Landschaften schützen (also natura naturata), zum anderen aber auch Raum geben für natürliche Prozesse (natura naturans). Ersteres erfordert aktives Eingreifen in Form von Pflegemaßnahmen oder Bewirtschaftungsregeln, letzteres ein Gewährenlassen, das auf eine Festlegung erstrebenswerter Endzustände bewusst verzichtet. Es gibt also innerhalb des Naturschutzes unterschiedliche Schutzgüter, die unterschiedlicher Schutzstrategien bedürfen. Naturschutz kann insofern nicht nur in Konflikt mit anderen Formen der Landnutzung kommen, Naturschutzziele können auch untereinander in Konflikt geraten.
Naturschutzpolitik
Viele Menschen dürften bei Naturschutzpolitik vor allem an Schutzgebiete denken: Landschaftsschutzgebiete, Naturschutzgebiete, Biosphärenreservate oder Nationalparke. In der Tat ist die Ausweisung von Schutzgebieten unterschiedlicher Art ein wichtiges Instrument des Naturschutzes. Naturschutz kann und darf allerdings nicht auf Schutzgebiete beschränkt bleiben. Unterschiedliche Landnutzungen haben erhebliche Auswirkungen auf Ökosysteme und Artenvielfalt und müssen daher so ausgestaltet werden, dass sie Naturschutzziele nach Möglichkeit unterstützen – oder ihnen zumindest nicht schaden. Daher müssen Land- und Forstwirtschaft, die Erschließung von Siedlungs- und Verkehrsflächen oder der Ausbau der Erneuerbaren Energien so gestaltet werden, dass sie im Einklang mit dem Naturschutz stehen. Naturschutzpolitik heißt auch, die Interner Link: diesbezüglichen Regeln politisch durchzusetzen.
II. Naturschutzargumente
1. Naturschutz nutzt uns
Das Argument "Naturschutz nutzt uns" ist das in der Naturschutzkommunikation am häufigsten benutzte. Argumente dieses Typs wurden in einer Studie des Bundesamts für Naturschutz (BfN) als Klugheitsargumente bezeichnet. Im Kern geht es bei diesem Argument darum zu zeigen, dass wir Menschen uns selbst schaden, wenn wir die natürlichen Lebensgrundlagen zerstören, denn diese sind die Bedingung unserer Existenz.
Zitat
Wenn wir das Artensterben nicht aufhalten, dann sägen wir an dem sprichwörtlichen Ast, auf dem wir sitzen.
Mit diesen Worten hat beispielsweise die damalige Umweltministerin Svenja Schulze den globalen Externer Link: Bericht des Weltbiodiversitätsrats kommentiert. Dieser hatte nachgewiesen, dass derzeit eine Million Arten vom Aussterben bedroht sind.
Die vielfältigen und unverzichtbaren Gewinne, die wir der Natur verdanken, werden seit einiger Zeit als Ökosystemdienstleistungen ins Zentrum der Naturschutzargumentation gestellt (in Deutschland beispielsweise im Projekt Externer Link: Naturkapital Deutschland). Dieses der Ökonomie entlehnte Konzept soll deutlich machen, dass Natur ein wertvolles Kapital darstellt. Funktionierende Ökosysteme und die Lebewesen, aus denen sie aufgebaut sind, erbringen viele Leistungen, die kaum oder nur unter hohem finanziellem und technischem Aufwand zu ersetzen wären, z. B.:
Pflanzen binden Kohlendioxid und wandeln es durch Photosynthese in Sauerstoff und Biomasse um,
Mikroorganismen machen die Böden fruchtbar,
Wälder reinigen die Luft und regulieren das Klima und
schöne Landschaften tragen zur Erholung bei.
Es ist also, so das Argument, in unserem eigenen Interesse, uns diese unentgeltlichen Dienste noch lange zu erhalten.
In einem ökonomisch dominierten Umfeld, das von Kosten-Nutzen-Kalkülen geprägt ist, ist eine solche Argumentation am leichtesten anschlussfähig. Sie bedarf keiner anspruchsvollen moralischen Einstellung und keiner Liebe zur Natur, sondern verlangt von den Menschen nicht mehr, aber auch nicht weniger (!), als die langfristige Sicherung unser aller Existenz im Blick zu behalten.
2. Natur nutzt allen
So richtig es ist, dass Natur uns nutzt, so wichtig ist aber auch der Umstand, dass sie unterschiedlichen Menschen in unterschiedlichen Weisen nutzt – und dass diese Nutzungen sich gegenseitig ausschließen können. Ein trockengelegtes Feuchtgebiet nutzt der Landwirtschaft, aber schadet den Fröschen – und den Menschen, die Frösche lieben. Eine Umgehungsstraße nutzt den Pendler*innen und entlastet den Ortskern, aber schadet den Landwirt*innen – und den Menschen, die sich von deren Getreide ernähren. Die Rodung der Regenwälder nutzt der Palmöl- oder Erdölindustrie – und den Menschen, die deren Produkte billig konsumieren können. Sie schadet aber den Menschen und allen anderen Lebewesen, die in diesen Regenwäldern leben – und den zukünftigen Generationen, die dort keine Urwälder mehr erleben können.
Im Verhältnis von Schädigenden und Geschädigten kommen Klugheitserwägungen an ihre Grenzen. Um im vorhin gebrauchten Bild zu bleiben: Wer einen Ast absägt, auf dem andere sitzen, ist dem Geschädigten gegenüber rechenschaftspflichtig. Die Rechte anderer zu respektieren, ist keine Frage des Eigennutzes, sondern der Moral. Unser Handeln hier und heute hat Folgen für das Leben anderer: anderer Menschen, zukünftiger Generationen und anderer Lebewesen. Im Hinblick auf diese stellen sich daher Fragen der inter- und intragenerationellen Gerechtigkeit sowie der ökologischen Gerechtigkeit: Welche Handlungen sind im Hinblick auf die Rechte anderer erlaubt, geboten oder verboten? Welche Rechte und wessen Rechte dabei anzuerkennen sind, ist in der Philosophie eine strittige Frage. Vergleichsweise unstrittig sind die Menschenrechte, zu denen seit kurzem auch das Recht auf eine saubere und gesunde Umwelt gehört.
QuellentextResolution 48/13
The human right to a clean, healthy and sustainable environment The Human Rights Council, [...]
Recognizes the right to a safe, clean, healthy and sustainable environment as a human right that is important for the enjoyment of human rights;
Notes that the right to a safe, clean, healthy and sustainable environment is related to other rights that are in accordance with existing international law;
Affirms that the promotion of the human right to a clean, healthy and sustainable environment requires the full implementation of the multilateral environmental agreements under the principles of international environmental law;
[…]
Das Menschenrecht auf eine saubere, gesunde und nachhaltige Umwelt Der UN-Menschenrechtsrat [….]
erkennt das Recht auf eine saubere, gesunde und nachhaltige Umwelt an als ein Menschenrecht, das für die Wahrnehmung anderer Menschenrechte wichtig ist;
stellt fest, dass das Recht auf eine saubere, gesunde und nachhaltige Umwelt verbunden ist mit anderen Rechten und dem bestehenden Völkerrecht;
bekräftigt, dass die Förderung des Menschenrechts auf eine saubere, gesunde und nachhaltige Umwelt die vollständige Umsetzung der multilateralen Umwelt-Vereinbarungen nach den Grundsätzen des internationalen Umweltrechts erfordert;
Strittiger ist die Frage, ob und inwiefern Menschen, die noch gar nicht leben, Rechte haben können. Und vollends umstritten ist die Frage, ob die Natur Rechte hat bzw. haben kann, und was genau das bedeuten würde. Wären alle und jedes einzelne Lebewesen Träger von Rechten? Dann könnte niemand leben, ohne die Rechte anderer zu verletzten – eine wenig plausible Vorstellung. Können Berge, Flüsse und Wälder Rechte haben? Was genau wäre dann im Einklang mit diesen Rechten – und was nicht?
Für die Begründung einer konsequenten Naturschutzpolitik ist die Lösung dieser ebenso relevanten wie interessanten philosophischen Fragen allerdings nicht nötig. Denn das mittlerweile verbriefte Recht aller und jedes einzelnen Menschen auf eine gesunde Umwelt ist ohne einen konsequenten Naturschutz nicht zu gewährleisten. Wirtschaft und Gesellschaft sind auf funktionierende Ökosysteme angewiesen. Alle Menschen brauchen für ihr leibliches und seelisches Wohlergehen Natur. Die Einzelnen aber sind mit der Bewahrung dieses Kollektivguts überfordert. Es steht nicht in ihrer Macht, Schutzgebiete auszuweisen oder Regeln zu erlassen. Dafür ist staatliches Handeln etwa in Form der Naturschutzpolitik gefragt.
3. Natur gehört zu einem guten Leben
"Wir müssen die Natur schützen, weil wir selbst und andere Menschen sie brauchen" – so lassen sich die bisherigen Argumente in einem Satz zusammenfassen. Doch was genau bedeutet "brauchen"? Dass wir ohne Natur nicht überleben können? Das wäre ein zu enges Verständnis. Bei aller Angewiesenheit auf Natur: es geht im Naturschutz nicht immer um Leben oder Tod. Es geht auch um schöne Landschaften, faszinierende Formen- und Farbenvielfalt oder berührende Erfahrungen des Naturerlebens. Diese Argumente gehen über die instrumentelle Perspektive des Klugheitsarguments weit hinaus. Naturschutz dient nicht (nur) dem Überleben, sondern einem guten Leben. "Schließlich steht der Mensch nicht vor der Frage, ob er als biologische Spezies überleben wird, sondern ob er wird überleben können, ohne den Rückfall in eine Existenzform, die nicht lebenswert erscheint" – so schrieb der Interner Link: Club of Rome schon vor 50 Jahren in seinem Geleitwort zur wegweisenden Studie "Die Grenzen des Wachstums".
Was genau das ist, ein lebenswertes Leben, darüber gehen die Vorstellungen zwar weit auseinander. Aber dass Natur zu einem guten Leben dazugehört, wird von vielen Menschen bejaht. Die Naturbewusstseinsstudien des Bundesamts für Naturschutz zeigen eindrücklich, dass Natur für die Deutschen zunehmend eine wichtige Rolle spielt. So stieg in der Studie aus dem Jahr 2020 der Anteil derjenigen; die der Aussage "Es macht mich glücklich, in der Natur zu sein" voll und ganz zustimmen, von 53 auf 59 Prozent. Noch deutlicher ist die Zunahme bei der Wertschätzung von Wildnis. Der Aussage "Je wilder die Natur, desto besser gefällt sie mir" stimmten 2015 noch 54 Prozent der Befragten zu, 2019 waren es schon 75 Prozent (vgl. Abb. 1).
In der aristotelischen Philosophie gibt es ein Konzept, das uns helfen kann zu bestimmen, was ein gutes Leben ausmacht: die Eudämonie. Sie bezeichnet das "Leben aus einem guten Geist" (griechisch ‚eu‘ = gut und ‚daimon‘ = Geist) und besteht in der Verwirklichung dessen, was uns Menschen zu Menschen macht – also von anderen Lebewesen unterscheidet. Was genau es heißt, ein wahrhaft menschliches Leben zu führen und ein guter Mensch zu sein, davon erzählen viele Märchen, Legenden und Sagen. Die Philosophin Martha Nussbaum hat solche Geschichten studiert und daraus eine Reihe menschlicher Grundfähigkeiten abgeleitet, auf deren Verwirklichung es für ein gutes Leben ankommt. Eine dieser Fähigkeiten ist die Fähigkeit zur Naturverbundenheit: die "Fähigkeit, in Verbundenheit mit Tieren, Pflanzen und der ganzen Natur zu leben und pfleglich mit ihnen umzugehen" .
Wenn man ein gutes Leben führen will, ist es erstrebenswert, diese Fähigkeit zu entwickeln. Man muss das nicht tun – in der tugendethischen Tradition geht es nicht um unbedingte Gebote. Aber wenn man danach strebt, ein wahrhaft menschliches Leben zu führen, dann ist der Weg dazu die Verwirklichung der menschlichen Grundfähigkeiten. Aufgabe des Staates ist es in dieser Konzeption, dafür zu sorgen, dass alle Bürger*innen die Möglichkeit haben, nach einem guten Leben zu streben. Im Hinblick auf Naturschutzpolitik kann ein solcher Ansatz begründen, warum es eine (politische) Aufgabe ist, Natur als die Bedingung der Möglichkeit von Naturverbundenheit zu bewahren.
Eigenwert und Selbstwert
Die im Bundesnaturschutzgesetz verankerte Auffassung, dass Natur "auch aufgrund ihres eigenen Wertes" schutzwürdig sei (siehe Quellenkasten oben), lässt zwei Interpretationen zu, die hier noch kurz erläutert werden müssen: Gemeint sein kann entweder der (eudämonistisch oder ästhetisch oder relational bestimmte) Eigenwert der Natur oder ihr (moralischer) Selbstwert. Was bedeutet das?
Wie oben dargestellt, begründen Klugheitsargumente den Schutz der Natur mit ihrer Nützlichkeit. Im Zentrum dieser Argumentation steht also der Nutzwert von Natur. Natur ist wie die berühmte "Gans, die die goldenen Eier legt": Man muss sie nicht lieben, um ein Motiv für ihren Schutz zu haben, ein Interesse an den goldenen Eiern genügt. Viele Menschen sind mit dieser rein instrumentellen Argumentation nicht einverstanden. Sie wollen Natur nicht nur als Mittel für menschliche Zwecke schützen. Vielmehr halten sie Natur auch jenseits ihrer Zweckmäßigkeit für "an sich" wertvoll. Dieses "an sich" kann nun einerseits bedeuten, dass Natur Menschen wichtig ist, ohne dass sie sie nutzen wollen. Beispielsweise, weil sie sie schön finden, lieben, interessant finden oder bewundern. Es kann aber andererseits auch bedeuten, dass Natur für sich selbst wichtig und wertvoll ist – zum Beispiel für die Tiere und Pflanzen, die in ihr leben, und deren Wohlergehen einen Selbstwert hat, unabhängig davon, ob Menschen in einer Beziehung zu ihnen stehen.
Für den Naturschutz sind somit drei Wertkonzepte zu unterscheiden:
der (instrumentelle) Nutzwert
der (moralische) Selbstwert und
der (relationale) Eigenwert der Natur
Abbildung 2: Nutzwert, Eigenwert, Selbstwert (Maria Orlova, NADExRioTic, Michael Morse - alle Pexels.) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/
Die Begriffe ‚Nutzwert‘ und ‚Selbstwert‘ sind exklusive Konzepte. Der Grund für den Wert liegt hier entweder im Menschen und seinen Zwecken (gr. anthropos) oder aber in der Natur selbst (gr. physis). Der Begriff des Eigenwerts hingegen erkennt an, dass Natur nicht nützlich sein muss, um für Menschen wichtig zu sein. Wertgebendes Kriterium ist dabei die Beziehung zwischen Menschen und Natur. Und in einer gelingenden Beziehung stellt sich die Frage nicht, um wen es eigentlich geht. Das Wohlergehen beider bedingt sich gegenseitig. Daher wird diese Sicht als inklusiv bezeichnet (vgl. Abb. 2) .
Im Fall des Eigenwerts ist der Schutz der Natur eine Frage des Respekts vor den Menschen, die naturverbunden sind. Im Fall des Selbstwerts hingegen wäre Naturschutz eine direkte Pflicht gegenüber Pflanzen, Tieren, Ökosystemen oder der Erde als ganzer. Viele Menschen sind davon überzeugt, dass Pflanzen und Tiere ein eigenes Existenzrecht haben, das unabhängig von menschlichen Interessen ist. Dennoch können wir als Menschen nur leben, wenn wir essen und trinken, uns kleiden und behausen. Für all das benötigen wir Pflanzen und Tiere und greifen in die Natur ein. Deren Existenzrecht kann also entweder nicht absolut gelten, oder aber wir werden als Menschen im Vollzug unseres Lebens unausweichlich schuldig. Beide Alternativen geben in der Ethik seit Jahrzehnten Anlass zu tiefgreifenden Debatten. Für die Naturschutzpolitik indessen genügt es vollauf, neben dem Nutzwert auch den relationalen Eigenwert der Natur anzuerkennen. Dass es viele Menschen gibt, denen die Natur am Herzen liegt, die naturverbunden leben und Natur ästhetisch erfahren möchten, ist Grund genug, Natur zu schützen.
III Naturbewusstsein und Politik
Naturbewusstsein
Einstellungen zu Naturgefährdung und Schutz der Natur in 2019 und 2017 (bpb, BMU & BfN 2020:46)
Abbildung 3: Einstellungen zu Naturgefährdung und Schutz der Natur in 2019 und 2017 (bpb, BMU & BfN 2020:46) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/
Um herauszufinden, wie Menschen in Deutschland über Natur denken, was sie von ihr wissen und wie viel sie ihnen bedeutet, führt das Bundesamt für Naturschutz regelmäßig repräsentative Befragungen durch, die sog. Naturbewusstseinsstudien. In einer Studie aus dem Jahr 2011 wurde ausdrücklich nach den persönlichen Gründen für den Schutz der Natur gefragt. Die Ergebnisse der Befragung waren überraschend: Ausgerechnet die Argumente, von denen sich die offizielle Naturschutzkommunikation die größte Wirkung verspricht, erzielten die geringsten Zustimmungsraten. Die Bewahrung noch ungeahnter zukünftiger Nutzungsmöglichkeiten und die Bedeutung der Natur als Rohstoffquelle für Industrie und Wirtschaft nahmen die untersten Ränge ein. Die drei Top-Argumente waren hingegen die Bedeutung der Natur für Gesundheit und Erholung des Menschen, die Rechte der zukünftigen Generationen und die Rechte von Tieren und Pflanzen.
Diese Ergebnisse zeigen, dass die verbreitete Auffassung, die Menschen ließen sich nur durch ihren eigenen Nutzen motivieren, falsch ist. Eine weit überwiegende Mehrheit der Bevölkerung erkennt Argumente der Gerechtigkeit und des Glücks als Gründen für Naturschutz an. Der Aussage "Wir dürfen die Natur nur so nutzen, dass dies auch für kommende Generationen im gleichen Umfang möglich ist", stimmten in der Naturbewusstseinsstudie 2019 97 % der Befragten zu. Dem Satz "Es macht mich glücklich, in der Natur zu sein" pflichteten 94 % der Befragten bei.
Unabhängig von diesen Zahlen argumentiert heute etwa die "Fridays for Future"-Bewegung unter dem Stichwort ‚Climate Justice‘ maßgeblich mit den Rechten zukünftiger Generationen sowie mit den Rechten der Menschen, die heute schon Opfer des Klimawandels werden – und macht damit nicht Klugheits-, sondern vor allem Gerechtigkeitsgründe geltend.
Warum, könnte man sich nun fragen, brauchen wir dann überhaupt noch Naturschutzpolitik, wenn doch so viele Leute angeben, dass Natur zu ihrer Vorstellung von einem guten Leben dazugehört? Ganz einfach: Natur gehört zwar zu einem guten Leben dazu, aber andere Güter eben auch. Dies veranschaulicht die ebenfalls regelmäßig durchgeführte Umweltbewusstseinsstudie. Die Antworten auf eine offene Frage nach Aspekten des guten Lebens zeigen, dass andere Lebensziele auch wichtig sind und teilweise noch vor dem Erleben intakter Natur rangieren: Gesundheit, die Erfüllung existentieller Grundbedürfnisse, Geborgenheit in Familie und Gemeinschaft und ein guter Lebensstandard (siehe Abbildung 4).
Unter dem Eindruck der Klimawandels und der "Fridays for Future"-Bewegung hat sich die hier abgebildete Rangfolge aus dem Jahr 2014 mittlerweile geändert. In der Externer Link: Studie 2020 wurden die Befragten gebeten, aus einer Liste von zwölf gesellschaftlichen Bereichen die aus ihrer Sicht wichtigsten auszuwählen, in denen Veränderungen notwendig seien, um ein gutes Leben für alle zu ermöglichen:
Der Bereich "Gesundheitswesen/Pflege stärken" wurde mit 72 % am häufigsten genannt.
Am zweithäufigsten genannt wurde mit 61 % der Bereich "mehr Umwelt-, Natur- und Klimaschutz",
gefolgt von "ausreichendem und bezahlbarem Wohnraum" (55 %) und
"Verringerung von Armut und sozialer Ungleichheit" (54 %).
Doch selbst wenn sich heute eine Mehrheit der Bevölkerung mehr Umwelt- Natur- und Klimaschutz wünscht, bleibt es eine unbequeme Tatsache, dass die Verwirklichung dieses Ziels mit anderen Lebenszielen in Konflikt stehen kann. Nolens volens (zwangsläufig) tragen Menschen bei der Erfüllung von Grundbedürfnissen wie Ernährung, Mobilität und Behausung dazu bei, dass Natur geschädigt wird. So ist etwa die Landwirtschaft einer der wesentlichen Treiber des Biodiversitätsverlusts, ebenso wie der Flächenfraß für Einfamilienhäuser und Straßen. Dies zu ändern, liegt jenseits der Möglichkeiten der Einzelnen. Hier ist politisches Handeln gefragt. Der Ausgleich konkurrierender Interessen ist ein Wesensmerkmal der Politik. Ihre Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass Menschen in der Art und Weise, wie sie sich ernähren, wie und wo sie wohnen und arbeiten und wie sie ihre Wegstrecken zurücklegen, die Natur nicht übermäßig belasten. Damit ist Naturschutzpolitik eine ressortübergreifende Aufgabe. Wie Nahrung produziert und konsumiert wird, ist eine Frage der Landwirtschaftspolitik, welche Mobilitätsoptionen Menschen haben, ist einer Frage der Verkehrspolitik, und wieviel Flächen zugebaut werden, eine Frage der Baupolitik. Statt an individuelles Bewusstsein der Bürger*innen zu appellieren, kann und muss Naturschutzpolitik dafür sorgen, dass in den jeweiligen Ressorts politische Maßnahmen ergriffen werden, die es den Einzelnen leichter machen, das zu tun, was dem Naturschutz dient und das zu lassen, was ihm schadet. Beispiele hierfür wären etwa
eine gezielte Förderung natur-, tier- und klimafreundlicher Anbaumethoden,
Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs und
Abschaffung steuerlicher Fehlanreize sowie
die Förderung innovativer Wohnformen.
Maßnahmen zum Schutz der Biodiversität im Agrar- und Siedlungsbereich kann man vorschreiben oder angemessen vergüten, den Einsatz von Bioziden durch strengere Regulierung reduzieren und naturverträglichen Produktionsweisen durch eine sozialökologische Steuerreform einen Wettbewerbsvorteil verschaffen.
Wichtig ist dabei, sich in der Kommunikation über diese Maßnahmen nicht auf die falsche Alternative ‚Mensch oder Natur‘ einzulassen. Es stimmt nicht, dass der Straßen- und Wohnungsbau "dem Menschen" dient und der Verzicht darauf "der Natur". Vielmehr gilt es, viel stärker als bislang zu betonen, dass Maßnahmen zum Schutz der Natur nicht nur Fröschen, Libellen und Hamstern dienen, sondern auch Menschen. Und zwar nicht nur, weil Menschen in ihrer physischen Existenz auf funktionierende Ökosysteme angewiesen sind, sondern auch – oder vielleicht sogar vor allem – weil sie in einer Beziehung zur Natur stehen. In dieser Beziehung ist das Wohl und Wehe der einen untrennbar mit dem Wohl und Wehe der anderen verbunden. Die menschliche Fähigkeit zur Naturverbundenheit begründet so, neben dem unbestreitbaren Nutzen der Natur für menschliche Zwecke, warum Naturschutz eine wichtige politische Aufgabe ist.
Dr. Uta Eser, Jahrgang 1964, promovierte nach dem Studium der Biologie in Tübingen am Internationalen Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (Externer Link: www.uni-tuebingen.de/izew) mit einer naturschutzethischen Arbeit. An der Hochschule für Wirtschaft und Umwelt (Externer Link: www.hfwu.de) hat sie als Nachhaltigkeitsbeauftragte Umweltethik und Umweltkommunikation verbunden. Im Auftrag des Bundesamts für Naturschutz (Externer Link: www.bfn.de) hat sie mehrfach Gutachten zu ethischen Fragen des Naturschutzes und der Naturschutzkommunikation erstellt. 2015 gründete sie das Büro für Umweltethik (Externer Link: www.umweltethikbuero.de) und ist seither als freie wissenschaftliche Autorin tätig.
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