In Deutschlands Atomkraftwerken wird weiter gearbeitet, man sieht es nur nicht. Drinnen sind seit zwei Jahren die Rückbaufirmen zugange. Sie müssen radioaktive Strahlung beseitigen, etwa aus Kühlleitungen, und auch jene Teile der Kraftwerke abbauen, die nicht verstrahlt sind. Irgendwann werden sich Roboter daran machen, unter Wasser den hoch verstrahlten Reaktordruckbehälter zu zerlegen. Das Ziel: eine „grüne Wiese“, wo einst ein Kraftwerk stand. Noch 2010 produzierten Kernkraftwerke und Kohlekraftwerke mehr als die Hälfte des Stroms. Bis spätestens 2038 soll dieser Anteil ersetzt werden. Kann das funktionieren?
Kohle- und Atomausstieg
Die letzte Schicht war am 15. April 2023. Nach 35 Jahren fuhr die Betriebsmannschaft im bayerischen Kernkraftwerk Isar 2 den Reaktor zum aller letzten Mal runter. Das gleiche geschah in den Kraftwerken Lingen im Emsland und Neckarwestheim 2 bei Heilbronn. So endete die Ära der Atomkraft in Deutschland. Interner Link: Begonnen hatte sie mit großer Euphorie, doch die wich nach den Reaktorunfällen in Interner Link: Harrisburg (1979), Interner Link: Tschernobyl (1986), und Fukushima (2011) immer mehr der Ernüchterung. 2011 hatte Interner Link: die Koalition aus Union und FDP das Ende besiegelt, unter dem Eindruck der Katastrophe in Fukushima. Eine „Energiewende“ sollte die Atomkraft überflüssig machen – mit Sonne und Wind, letzterer an Land und zur See.
2020 folgte der Ausstieg aus der Kohle. Diesmal standen keine Unfälle hinter der Entscheidung, sondern die Klimakrise. Denn Strom kam in den Kraftwerken vor allem aus Braunkohle. Während alle Steinkohle mittlerweile importiert werden muss, gibt es Braunkohle in Tagebauen im Rheinland, in der Lausitz und in Mitteldeutschland reichlich. Doch dieser Strom ist besonders klimaschädlich. Bei der Verbrennung von Braunkohle entsteht besonders viel Kohlendioxid, mehr noch als bei der Steinkohle. Und so beschloss eine Koalition aus Union und SPD, auch Interner Link: die Stromerzeugung aus Kohle zu beenden, jedenfalls schrittweise bis spätestens 2038. Bis dahin sollen die erneuerbaren Energien auch die Kohle ersetzt haben.
Plus und minus - die Folgen für die deutsche Klimabilanz
Tatsächlich hat sich die Zusammensetzung des deutschen Stroms, der „Externer Link: Strommix“, seit 2010 massiv verändert. Damals stammten noch 22,4 Prozent der deutschen Bruttostromerzeugung aus Kernkraft, und 42 Prozent aus Braun- und Steinkohle. Erneuerbare Energien steuerten 16,8 Prozent bei. Schon zehn Jahre später, im Jahr des Kohleausstiegs, sah das Bild anders aus: Da kamen nur noch 23,7 Prozent aus der Kohle und 11,3 aus Kernkraft. Erneuerbare Energien machten 44,3 Prozent aus. Und 2024? Da liegen Erneuerbare mit 57,8 Prozent an der Spitze, Kohle kommt noch auf 21,7 Prozent – und die Atomkraft ist bei null.
Vor allem rund um den Atomausstieg gab es jahrzehntelang hitzige Debatten. Ihre Gegner sahen darin eine Hochrisikotechnologie, verbunden mit der ungeklärten Frage der Endlagerung. Ihre Befürworter warben mit einer verlässlichen, klimafreundlichen Stromversorgung.
Preis
Auch im Jahr 2022, als die Abschaltung der letzten Meiler unmittelbar anstand, Interner Link: flammte diese Diskussion noch einmal auf – mit Hinweis auf die preissenkende Wirkung, wenn die Kraftwerke länger im Betrieb blieben. Wie groß die aber sein würde, war und ist umstritten. Externer Link: Verschiedene Studien schätzten, dass die Preise an der Strombörse im Jahr 2023 ein bis acht Prozent niedriger hätten sein können. Am Ende sanken die Börsenpreise für Strom, auch nachdem die Atomkraftwerke abgeschaltet waren.
CO2-Emissionen
Auch die Externer Link: Kohlendioxid-Emissionen der Stromerzeugung sanken im Verlauf des Atomausstiegs. Lagen sie noch 2010 bei 354 Millionen Tonnen, waren es 2024 nach Zahlen des Umweltbundesamts nur noch 185 Millionen Tonnen – etwas mehr als die Hälfte. Vor allem der Rückgang bei der Kohle macht sich hier bemerkbar, flankiert vom Ausbau der erneuerbaren Energien. Dieser Rückgang der fossilen Energieträger gilt auch für das Jahr 2024, als erneuerbare Energien den Atomstrom laut Berechnungen des Fraunhofer-Instituts für Solare Energiesysteme ersetzen konnten.
Zumindest bei der Stromerzeugung geraten die deutschen Klimaziele in Reichweite. Allerdings wären die CO2-Emissionen schneller gesunken, hätte Deutschland erst den Ausstieg aus der Kohle und dann den aus der Atomkraft vollzogen.
Im Nachhinein ist das allerdings eine hypothetische Diskussion. Rein historisch betrachtet begann der Widerstand gegen die Risiken der Kernkraft früher als der gegen die Klimakrise. Unter anderem wegen der vielen Arbeitsplätze, die etwa die Braunkohletagebaue bieten – allen voran auch in der strukturschwachen Lausitz – gestaltet sich der Ausstieg aus der Kohlekraft zudem schwieriger als der aus der Kernkraft.
Viele kleine statt weniger großer – so verändert sich das Stromsystem
Einfach ist das alles trotzdem nicht – denn genau genommen bedeutet Energiewende, bei laufendem Rennen die Pferde zu wechseln. Seit mit dem Wirtschaftswunder der 1950er Jahre auch der Strombedarf rasant wuchs, setzte Deutschland auf große Kraftwerke. Sie standen in der Nähe der Braunkohletagebaue und Steinkohleminen. Kernkraftwerke wurden so über das Land verteilt, dass sie in der Nähe von Ballungszentren Strom erzeugten. Von diesen großen Kraftwerken führten die Stromleitungen in Städte und zu großen Industrieunternehmen.
Doch diese Stromleitungen verlieren an Bedeutung, wenn anstelle der großen Kraftwerke Millionen von Solaranlagen und zehntausende von Windrädern den Strom erzeugen. Sie sind mehr oder weniger über das ganze Land verteilt; mehr Wind im Norden, etwas mehr Sonne im Süden. Das bestehende Stromnetz ist für ihre Zwecke nicht gemacht, noch nicht.
Und noch etwas ist anders. Ein System mit ein paar hundert Großkraftwerken lässt sich leichter steuern als eines mit unendlich vielen kleinen Anlagen. Je nach Tageszeit konnten die großen Kraftwerke mal etwas mehr, mal etwas weniger Strom erzeugen. Doch Deutschland im Jahr 2025 ist anders: Es gibt nun Tage, in denen der Strom komplett aus erneuerbaren Energien kommt – die großen Kraftwerke liefern dann allenfalls für den Export. Oder es gibt Stunden, in denen plötzlich viel weniger Ökostrom da ist, weil Wolken aufziehen und der Wind abflaut. Dann müssen schnell Kraftwerke einspringen, um die Lücke zu stopfen. Doch Kohle- und Kernkraftwerke sind dafür häufig nicht flexibel genug. Auf Dauer können die alte und die neue Stromwelt also nebeneinander nicht existieren.
Ist die deutsche Stromversorgung noch sicher?
Doch der Verzicht auf die Kernkraft hat noch einen anderen Nebeneffekt: Deutschland, lange ein Exporteur von Strom, muss mehr importieren. 2024 machten die Nettoimporte rund 6,5 Prozent des deutschen Stromverbrauchs aus. Der meiste Strom kam aus Frankreich und damit auch aus den dortigen Kernkraftwerken, gefolgt von Dänemark. Allerdings gibt es auch viele Stunden, in denen Deutschland Strom exportiert – dann vor allem Ökostrom. Mit einem wachsenden Anteil erneuerbarer Energien dürften die Ausfuhren noch zulegen. Richtig autark, also jederzeit unabhängig von seinen Nachbarn, ist Deutschland aber nicht beim Strom. Aber das gilt für kein Land Europas.
Unsicher wird die Stromversorgung dadurch nicht, im Gegenteil. In den vergangenen Jahren ist auch das europäische Stromnetz engmaschiger geworden, mit mehr Leitungen, die Länder miteinander verbinden, so genannten Interkonnektoren. Dadurch wird das System insgesamt stabiler und effizienter. Und Strom wird dadurch billiger. Es muss also gar kein Nachteil sein, dass die einzelnen Länder sich nicht autark mit Strom versorgen können. Das europäische Stromnetz und der darauf aufbauende Markt sind genau darauf ausgelegt, dass die Länder flexibel importieren und exportieren können. Externer Link: Studien gehen davon aus, dass sich bis 2040 um die neun Milliarden Euro jährlich einsparen lassen, wenn das europäische Netz entsprechend weiter ausgebaut wird.
Großbaustelle Energiewende
Doch die Stromleitungen sind auch in Deutschland Teil der Großbaustelle Energiewende. Insgesamt Externer Link: müssen 16.800 Kilometer Leitungen neu- oder ausgebaut werden, bisher sind davon gut 3.100 Kilometer fertig und noch mal so viele genehmigt oder im Bau. Die Leitungen werden nötig, weil Strom nun anders verteilt werden muss. In den nächsten Jahren muss der Ausbau der Stromleitungen beschleunigt werden, Interner Link: um das Netz weiter stabil halten zu können. Momentan zeigt das Ampelsystem der Expertenkommission zur Energiewende beim Netzausbau auf rot - was bedeutet, dass die Ziele wahrscheinlich nicht erreicht werden.
Auch der Ausbau der erneuerbaren Energien ist noch lange nicht abgeschlossen. Nach dem zugehörigen Gesetz, dem Externer Link: Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG), soll ihr Anteil am Bruttostromverbrauch bis 2030 auf 80 Prozent ansteigen. Das Erreichen dieser Zielmarke hält die Expertenkommission für wahrscheinlich. Das Fernziel ist eine vollständig erneuerbare Stromerzeugung.
Gleichzeitig wird der Strombedarf unter anderem durch die steigende Zahl an E-Autos und Wärmepumpen steigen. Bis zum Jahr 2045, wenn Deutschland ein klimaneutrales Industrieland sein soll, gehen Szenarien für den Netzausbau von einem Strombedarf zwischen 1050 und 1300 Terawattstunden jährlichem Stromverbrauch aus. Im Jahr 2024 lag der noch bei 515 Terawattstunden.
Reserve: Gaskraftwerke
Um den doppelten Strombedarf zu decken, braucht es mehr als nur neue Windräder und Stromleitungen – zum Beispiel neue Kraftwerke. Zwar verträgt sich der schwankende Strom aus Sonne und Wind nicht gut mit Großkraftwerken. Aber eine Reserve braucht es für die Zeiten der Stromflaute. Am besten eignen sich dafür Gaskraftwerke, die sich quasi auf Knopfdruck anwerfen lassen. Diese Kraftwerke lassen sich im Idealfall nicht nur mit Erdgas betreiben, sondern auch auf den Betrieb mit Wasserstoff umrüsten. Wasserstoff wiederum lässt sich auch aus erneuerbaren Energien herstellen, das chemische Verfahren dafür nennt sich „Elektrolyse“. So könnte über den Umweg Gaskraftwerk irgendwann das gesamte Stromsystem klimaneutral werden.
Der Haken: Kein Unternehmen baut ein Gaskraftwerk, das nur an wenigen Stunden im Jahr läuft. Es braucht also eine Finanzierung dafür, etwa als Aufschlag auf den Strompreis. Das gleiche gilt für große Stromspeicher. Sie könnten Wind- und Sonnenstrom einspeichern, wenn es sie im Überfluss gibt, und in das Stromnetz einspeisen, wenn es knapp wird. Im Gespräch ist für diese Reserven ein so genannter Kapazitätsmechanismus: Die Betreiber würden hier dafür entlohnt, dass sie Kraftwerke oder Großspeicher bereithalten.
Finanzierung des Umbaus
Für denInterner Link: Umbau der Strominfrastruktur muss viel Geld investiert werden. Nach Schätzungen verschiedener Studien sind hierfür in den nächsten Jahren Investitionen in Höhe von über 650 Milliarden Euro notwendig. Circa die Hälfte muss von der öffentlichen Hand getragen werden, die andere Hälfte von Privatleuten und Unternehmen, wie das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung prognostiziert. Aktuell Interner Link: zahlen Haushalte in Deutschland die höchsten Strompreise in Europa. Das liegt auch an den Zuschlägen, mit denen der Umbau der Strominfrastruktur finanziert wird.
Der Ausbau der erneuerbaren Energien wird durch die sogenannte EEG-Umlage gefördert, die Verbraucherinnen und Verbraucher bisher über den Strompreis zahlten. Um den Strompreis zu senken, wird diese Umlage seit 2023 aus Steuergeldern finanziert. Der Interner Link: Erhalt und Ausbau des Stromnetzes wird über die Netzentgelte finanziert. Ihr Anteil am Strompreis ist in den vergangenen Jahren bereits gestiegen. Expertinnen und Experten gehen davon aus, dass die Netzentgelte weiter steigen werden.
Macht im Hintergrund: der europäische Emissionshandel
2038 sollen die letzten Kohlekraftwerke abgeschaltet werden. Klimaschützern ist das viel zu spät. Unter anderem ostdeutsche Bundesländer lehnen einen früheren Kohleausstieg wiederum ab, da sie den Verlust von Arbeitsplätzen fürchten.
Durch den europäischen Emissionshandel könnte der Ausstieg dennoch früher kommen. Er existiert seit 2005, und lange hat kaum jemand etwas davon gemerkt. Die Idee: Für jede Tonne Kohlendioxid, die ein Kraftwerk oder eine Fabrik ausstößt, müssen die Betreiber ein so genanntes Emissionszertifikat kaufen. Doch die Menge dieser Zertifikate ist begrenzt – und schrumpft von Jahr zu Jahr. Das hat gleich zwei Vorteile: Zum einen kann die Gesamtmenge der Emissionen in Kraftwerken und Industrie nicht mehr über diese Obergrenze steigen, sie ist also unter Kontrolle. Zum anderen gibt es einen Anreiz, das Klima weniger zu schädigen – die Unternehmen sparen so Geld.
Lange gab es zu viele dieser Zertifikate. Ihr Preis war zu niedrig, als dass er viel hätte bewirken können. Doch mittlerweile wird die Knappheit spürbar, und der Preis steigt . Das hat vor allem Folgen für Kohlekraftwerke mit ihren hohen Emissionen – und ist jenseits des vereinbarten Kohleausstiegs einer der Gründe dafür, dass der Anteil des Kohlestroms in den letzten Jahren so stark gesunken ist. In den nächsten Jahren werden die Zertifikate weiter verknappt . Gut möglich, dass deshalb schon vor 2038 die letzten Kohlekraftwerke ihren Dienst einstellen – der hohen Kosten wegen.