Eine heikle Aufgabe hat die deutsche Außenhandelskammer in China übernommen. Das Büro mit Sitz in Shanghai berät deutsche Firmen beim Thema „Diversifikation“. Vorsichtiger Begriff, kontroverser Inhalt: Deutsche Unternehmen erhalten dort auch Unterstützung, wenn sie sich von China wegorientieren wollen. Eine Liste potenzieller Ausweichländer liefert die Kammer gleich mit. Allerdings ist Fingerspitzengefühl gefragt – für viele Firmen ist der chinesische Markt zu wichtig, um ihn aufzugeben.
„Der Höhepunkt der Globalisierung im Sinne der ökonomischen Verflechtung ist überschritten“, sagt Jürgen Sandau, Partner und Experte für Lieferketten bei der Unternehmensberatung Deloitte. Im Gegensatz zur Phase der vergangenen 40 Jahre bewegen sich Weltpolitik und Weltwirtschaft nun nicht mehr in Richtung eines immer größeren, einheitlichen, offenen Marktes, der regulierungsarmen und kostengünstigen Handel über Grenzen hinweg erlaubt. Stattdessen zerfällt die Welt wieder in konkurrierende Machtblöcke. Zumindest teilweise ziehen sich die USA aus ihrer Rolle als globaler, liberaler Führungsmacht zurück, die sie spätestens seit dem Zweiten Weltkrieg eingenommen hatten. China, die nach den USA inzwischen zweitwichtigste Wirtschaftsnation weltweit, ist zum Rivalen mit politischem und ökonomischem Machtanspruch aufgestiegen.
Nicht nur die deutschen Unternehmen in China müssen heute auch den Faktor Krieg wieder mit einkalkulieren. In Osteuropa hat er mit dem russischen Angriff auf die Ukraine schon begonnen. Wie am Beispiel der drastischen Reduzierung russischer Energielieferungen nach Europa zu beobachten ist, können sich dadurch Lieferketten von Unternehmen grundlegend verändern. Weil zahlreiche Fachleute in den kommenden Jahren eine Eskalation der chinesischen Aggression gegen den unabhängigen Staat Taiwan erwarten, müssen Firmen die möglichen Folgen für ihre dortigen Lieferanten, Kunden und Standorte in Betracht ziehen. Wie also verändern sich die globalen Liefer-, Produktions- und Wertschöpfungsketten in der Phase der neuen Geoökonomie?
Während der Globalisierung seit den 1980er Jahren haben deutsche und europäische Unternehmen eine guten Teil der Produktion aus Kostengründen nach Asien ausgelagert, oft nach China. Von dort beziehen sie Vor- und Fertigprodukte für den hiesigen Markt oder beliefern Endkunden in anderen Weltregionen.
Deutsche Firmen suchen Standorte in Vietnam
Ein Beispiel für aktuelle Veränderungen: Seit 2023 betreibt die deutsche Firma RRC Power Solutions eine Fertigungsstätte in Vietnam. Das Unternehmen aus dem saarländischen Homburg produziert unter anderem Stromspeicher für Roboter, Drohnen, Geräte der Medizin- und Verteidigungstechnik. Das neue Werk diene der „Diversifizierung unserer Lieferanten- und Produktionsbasis in China und Taiwan“, erklärt RRC. Mit Hilfe von Vietnam „können wir mögliche Störungen in der Lieferkette besser abfedern und eine kontinuierliche und zuverlässige Belieferung sicherstellen“ – bei gleichzeitiger Ausnutzung der niedrigen Arbeits- und Produktionskosten.
Die deutsche Außenhandelskammer in Vietnam kennt weitere Beispiele. 2024 verzeichneten man 470 Investitionsprojekte deutscher Firmen. Diese böten rund 50.000 Arbeitsplätze. Einen Schwerpunkt bilden Beratungsunternehmen, aber auch die Produktion in Branchen wie Maschinen, Textil, Chemie und Elektronik ist stark. Ein Motiv für neue Ansiedlungen in Vietnam sind laut Handelskammer hauptsächlich sogenannte „China-plus-Eins-Strategien“.
Dieser Ansatz bedeutet, dass Firmen, die in China produzieren, nun Niederlassungen in anderen Ländern aufbauen, um ihre Fertigung auf mehrere Orte zu verteilen. Auf diese Art ließen sich etwaige Sanktionen der Europäischen Union gegen China ausbalancieren, sollten sich die Spannungen um Taiwan verschärfen. Lieferungen aus Vietnam an ausländische Kunden oder eigene Fabriken in Europa könnten weiterlaufen, auch wenn sie aus China nicht mehr möglich wären.
Der in Ludwigshafen ansässige Chemie-Konzern BASF will neben China zwar auch „Indien, Indonesien, Malaysia, Singapur, Thailand und Vietnam stärker in den Blick nehmen“, wie Vorstandschef Markus Kamieth im Mai 2025 erklärte. Dennoch ist die Lage in diesem Fall etwas anders: Der riesige „Verbundstandort“ in der chinesischen Provinz Guangdong, in den BASF bis zu zehn Milliarden Euro investierte, sollte im gleichen Jahr die volle Produktion aufnehmen. Es handelt es sich um die bisher größte Einzelinvestition und die drittgrößte entsprechende Anlage des Unternehmens weltweit. Das ist kein Abschied von, sondern ein Bekenntnis zu China. BASF will sich den gigantischen chinesischen Markt unter anderem für chemische Grundstoffe nicht entgehen lassen. BASF sieht dort enormes Wachstumspotential: Das Land stehe für 50 Prozent globalen Umsatzes in der Chemie¬industrie, bislang entfielen aber „weniger als 15 Prozent des welt¬weiten BASF-Umsatzes auf China“, heißt es von Seiten des Konzerns.
„Derisking“ in verschiedenen Formen
Die Konsequenzen aus den neuen globalen Verwerfungen unterscheiden sich von Unternehmen zu Unternehmen. 43 Prozent der befragten Mitgliedsfirmen wollten die Risiken im Zusammenhang mit ihrem China-Geschäft reduzieren, ermittelte die dortige Deutsche Außenhandelskammer. Gleichzeitig plante die Hälfte der Betriebe, ihre Investitionen in dem Land zu erhöhen – 2020 waren es allerdings noch drei Viertel der Firmen gewesen. Das sogenannte „Derisking“ kann also verschiedene Formen annehmen. Neben „China plus Eins“ heißen weitere Ansätze „Lokalisierung“, „Regionalisierung“ oder „China für China“. In diesen Fällen liegt die Betonung auf einer Neusortierung der Lieferketten: Ein deutsches Unternehmen würde dann in China für China produzieren und in Vietnam oder woanders für den Weltmarkt. So ließen sich eventuelle Sanktionen gegen China leichter umgehen. In diese Richtung kann auch die Entkopplung der Dateninfrastruktur zwischen europäischen Firmenzentralen und ihren Niederlassungen in China wirken.
Oft fordern Expertinnen und Experten, die deutsche Wirtschaft müsse sich „neue Partner“ suchen, ebenso als Liefer- wie als Zielländer für Exporte. Dabei geht es um Alternativen oder Ergänzungen zu China in Asien, etwa Indien, Japan, Malaysia, Philippinen, Thailand oder Vietnam. Erweitert man den Fokus auf den Zollkonflikt mit den USA, wird unter anderem Südamerika genannt.
Die EU-Kommission und auch die Bundesregierung versuchen derartige Umorientierung mit neuen Handelsabkommen zu unterstützen. In dieser Richtung wurde der offizielle Abschluss der Verhandlungen zwischen der EU und den Mercosur-Staaten Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay gedeutet. Eine ähnliche Variante könnte darin bestehen, dass die EU und europäische Unternehmen stärker mit den Staaten des Comprehensive and Progressive Trans- Pacific-Partnership (CPTTP) kooperieren. An dieser Handelsorganisation zu beiden Seiten des Pazifik nehmen unter anderem Australien, Singapur, Vietnam, Japan, Chile und Peru teil. Großbritannien schloss sich 2023 an.
Die Frage nach der Neujustierung von Lieferketten stellt sich verschärft, weil die USA seit der ersten Präsidentschaft Donald Trumps 2017 eine zunehmend einseitige Wirtschaftspolitik betreiben, die nationale Interessen auf-, die internationale Kooperation hingegen abwertet. Mittel dieser Politik sind unter anderem Ausfuhrbeschränkungen für strategische Güter, etwa Hochleistungschips nach China und hohe Zölle für Importe in die USA.
Unternehmen denken über Verlagerung nach
Diese sind beispielsweise relevant für europäische Unternehmen, die Stahl, Aluminium, Autoteile und Fahrzeuge in die USA einführen. „Hohe Importzölle schaffen Anreize, Fertigung dort anzusiedeln“, erklärt Deloitte-Berater Jürgen Sandau. Das erwägen deutsche Fahrzeughersteller und Zulieferer, um die Einfuhrzölle zu vermeiden, die die Verkaufspreise in den USA tendenziell erhöhen. Derartige Verlagerungen können künftig auf Kosten europäischer Fertigungsstätten gehen.
Andererseits „haben wir hinsichtlich der USA ein gemischtes Bild“, weiß Phillip Flore, Experte für Lieferketten-Diversifizierung bei der Deutschen Industrie- und Handelskammer. „Die Handelshemmnisse und die mit der neuen US-Wirtschaftspolitik verbundenen Unsicherheiten verunsichern die Investoren intensiv.“ Flore spielt an auf widersprüchliche Zollentscheidungen von US-Präsident Donald Trump, die es Unternehmen erschweren, die Situation in den kommenden Jahren einzuschätzen. Außerdem mögen Befürchtungen eine Rolle spielen, dass US-Steuern auf Gewinne ausländischer Firmen steigen, die Funktion des US-Dollar als Reservewährung in Frage stehen und die Bedeutung des US-Marktes für die Weltwirtschaft insgesamt abnehmen könnte. „Investitionen in die USA werden vertagt und andere Märkte zunehmend in Betracht gezogen“, sagt DIHK-Experte Flore.
Die Probleme mit Handelspartnern wie China und USA führen im politischen Raum zu Wünschen nach mehr Souveränität Europas. Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sind ProtagonistInnen dieses Diskurses. Souveränität ist hierbei auch zu verstehen als verminderte ökonomische Abhängigkeit von Lieferländern in Gestalt einer größeren Eigenproduktion strategischer Güter. Dieser Logik entsprangen in den vergangenen Jahren EU-Gesetze wie der Net Zero Industry Act, in dessen Rahmen unter anderem die europäische Fertigung von Solarzellen zur Energiegewinnung gefördert werden soll. Ähnliche Ansätze stecken im Critical Raw Materials Act und im Critical Medicins Act, mit denen die EU ihre Autonomie bei bestimmten, knappen Rohstoffen sowie Medizin-Produkten erhöhen will. In diesen Fällen ist aber noch nicht klar, ob die Regulierungen praktische Wirkungen entfalten und die Unternehmen die Anreize umsetzen.
Schwer abzusehen ist auch, was aus der menschenrechtlichen Lieferketten-Regulierung wird. Das deutsche Lieferketten-Sorgfaltspflichten-Gesetz (LkSG) und die entsprechende EU-Richtlinie CSDDD (Corporate Sustainability Due Diligence Directive) sollen entschärft und verschoben werden. Ihr Ansatz, die Arbeits- und Umweltbedingungen in ausländischen Fabriken hiesiger Firmen zu verbessern, könnte unter dem Druck der neuen Geoökonomie leiden.
Insgesamt aber scheint die neue Unordnung noch zu frisch zu sein, als dass praktische Konsequenzen schon deutlich zu erkennen wären. „Es wird viel diskutiert, aber wenig getan“, sagt Holger Görg, Außenwirtschaftsexperte am Institut für Weltwirtschaft in Kiel. „Die Corona-Pandemie und die geopolitischen Veränderungen haben bei den Unternehmen bisher kaum Veränderungen der Lieferketten ausgelöst“. Eine Erklärung könne darin liegen, dass Investitionsentscheidungen Jahre bräuchten, bis sie wirksam würden, sagt Görg. „Andererseits warten die Firmen ab, so lange sie nicht sicher sein können, in welche Richtung der Zug wirklich fährt.“