Politisch ist die EU geeint. Als einer der drei großen Wirtschaftsräume auf dem Globus, der seine Außenhandelspolitik konsequent auf die Brüsseler Ebene verlagert hat, agiert die Europäische Union mit erheblicher Machtfülle. Es ist nur so: Die makroökonomischen Bedingungen sind schwierig. Wie keine andere große Volkswirtschaft sind wir vom Güterexport abhängig. Das betrifft insbesondere Deutschland, aber auch die Eurozone und die Europäische Union insgesamt.
Hohe Abhängigkeit von Export und Handel macht verletzlich
Wenn die USA die Schlagbäume herunterlassen und die Zölle erhöhen, hat das unmittelbare Auswirkungen auf Europa. Bereits die Unsicherheit, die aus dem handelspolitischen Zickzackkurs von US-Präsident Donald Trump resultiert, behindert den Export massiv. Die ausfuhrorientierte Industrie steckt ohnehin seit Jahren in einem schmerzhaften Schrumpfungsprozess. Nun erschwert das ständige Hin und Her den Unternehmen das Wirtschaften zusätzlich, weil sie nicht wissen, ob sich ihre Investitionen in Zukunft noch lohnen. Arbeitsplätze stehen auf dem Spiel. Widerstand formiert sich seitens der Gewerkschaften und der betroffenen Regionen. Auf all das muss die EU-Kommission Rücksicht nehmen in ihren Reaktionen auf Trump und andere Herausforderungen. Das schwächt die Verhandlungsposition Europas, wie der einseitige Handelsdeal zeigt, den Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen Ende Juli mit der US-Regierung schließen musste. Die handelspolitische Verletzlichkeit der EU ist das Resultat einer pathologischen Exportfixierung, vorangetrieben insbesondere von Deutschland. Seit Anfang der 2000er Jahren fährt die Bundesrepublik hohe außenwirtschaftliche Überschüsse ein. In einer Welt, in der sich die Blöcke gegeneinander abriegeln, besteht die Gefahr, dass einige ihrer aufgelaufenen Auslandsvermögen zumindest teilweise verloren sind. Es geht um gigantische Beträge. Über die Jahre hat sich ein deutsches Nettoauslandsvermögen von 3,5 Billionen Euro angesammelt, deutsche Unternehmen, Haushalte und der Staat besitzen insgesamt deutlich mehr Vermögenswerte im Ausland als umgekehrt Ausländer in Deutschland halten. Brutto verfügen heimische Firmen und andere Investoren über Guthaben und Forderungen in Höhe von 14 Billionen Euro, wie aus Externer Link: Bundesbank-Zahlen hervorgeht. Seit der Eurokrise der 2010er Jahre steuern andere Länder einen ähnlichen Kurs, sodass seither auch die EU insgesamt immer mehr zur Überschussregion geworden ist.
Industriefixierung statt Zukunftstechnologien
In diesem Jahr wird die EU einen Leistungsbilanzüberschuss von mehr als einer halben Billion US-Dollar gegenüber dem Rest der Welt erwirtschaften, Externer Link: prognostiziert der Internationale Währungsfonds (IWF).
Die Hälfte dieser Summe geht auf Deutschlands Konto. Zum Vergleich: Chinas Überschuss ist in den vergangenen Jahren ebenfalls wieder gestiegen und liegt aktuell bei 360 Milliarden Dollar. Die USA hingegen fahren ein Defizit von 1,1 Billionen Dollar. Das Problem besteht nicht darin, dass viel ex- oder importiert wird, sondern in den großen außenwirtschaftlichen Ungleichgewichten. Für Europa heißt das: Wir investieren viel zu wenig bei uns. Stattdessen fließen jährlich hunderte Milliarden Euro an überschüssigen Ersparnissen ins Ausland, nicht zuletzt auch weiter in die USA. Statt in Europa die produktiven Potenziale auszubauen und in Bildung, Wissenschaft, Forschung oder Infrastruktur zu investieren, haben wir uns allzu lange auf unsere angestammten industriellen Stärken und unsere Exportpower verlassen. Genau diese überkommene Industriefixierung macht uns jetzt verletzlich. Bei vielen Zukunftstechnologien spielen europäische Akteure keine Rolle. Von der Batterietechnik über Künstliche Intelligenz bis zu ultraleistungsfähigen Prozessoren – wir sind von Importen abhängig. Das wiederum schwächt auch die Möglichkeiten der EU-Kommission, handelspolitische Vergeltungsmaßnahmen glaubwürdig anzudrohen. Die EU ist nicht fit für die Zumutungen der Post-Globalisierung. Was tun? Um Europa stärker und resilienter zu machen, braucht es eine große Investitionsinitiative. Der Rückstand gegenüber unseren größten geoökonomischen Wettbewerbern USA und China ist enorm, wie Mario Draghi, der frühere Chef der Europäischen Zentralbank, in seinem im vorigen Jahr erschienen Report detailliert dargelegt hat.
Investitionen anregen, Binnenmarkt schaffen
Es geht insbesondere darum, Europa für privates Kapital attraktiver zu machen – und damit produktive Investitionen bei uns zu finanzieren. Dazu bedarf es eines gemeinsamen Kapitalmarkts sowie eines wirklichen einheitlichen Binnenmarkts für Dienstleistungen und Güter, damit europäische Firmen Größenvorteile nutzen können, die mit denen ihrer amerikanischen oder chinesischen Wettbewerber vergleichbar sind. Beides bedingt sich gegenseitig: Ohne gemeinsamen Finanzmarkt fehlt es Unternehmen an Wachstumskapital. Ohne vollendeten Binnenmarkt fehlt es an Unternehmen, in die sich erfolgversprechend investieren lässt. Auch wegen dieser Defizite gibt es in Europa keinen innovativen, hochproduktiven Technologiesektor, der mit den USA und China konkurrieren könnte. Die EU braucht jetzt eine ganze Reihe großer, schneller Schritte nach vorn. Der Staat – in Gestalt der Union und der Mitgliedstaaten – ist gefordert, die Bedingungen zu schaffen, unter denen die Privatwirtschaft gedeihen kann. Ohne eine teilweise vergemeinschaftete Finanzpolitik (inklusive gemeinsamer Steuern und Schulden) wird es keinen wirklich integrierten Finanzmarkt geben. Solange das so ist, wird Europa sein ökonomisches Gewicht nicht auf die Waage bringen können – und muss stets befürchten, zwischen den beiden strategischen Wettbewerbern China und USA zerrieben zu werden.