Der EU-China-Gipfel im Juli 2025 stand unter besonderen Vorzeichen. Das von den 27 Mitgliedstaaten kurz zuvor beschlossene 18. Sanktionspaket der EU gegen Russland hatte auch mehrere chinesische Unternehmen getroffen, da diese angeblich Interner Link: Russlands Angriff auf die Ukraine direkt oder indirekt unterstützt hatten. Die Sanktionen erzürnten Peking, das seinerseits mit Gegenmaßnahmen drohte. Nur wenige Tage vor dem Treffen ließ der chinesische Außenminister den Europäern mitteilen, sein Land habe kein Interesse daran, dass Russland den Krieg in der Ukraine verliert. Wie erwartet erzielte der Gipfel, auf dem Fragen der Handels- und Klimapolitik diskutiert wurden, kaum Ergebnisse.
Die Beziehung zwischen der EU und China ist so angespannt wie nie zuvor in den nunmehr 50 Jahren seit Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Brüssel und dem kommunistischen Land. Beide Seiten sind zwar voneinander abhängig, spielen aber mit ungleichen Karten. Man kann inzwischen von einer „systemischen Rivalität“ sprechen, wie die EU-Kommission Externer Link: erstmals 2019 analysierte. Diese Rivalität ist inzwischen auch in den Kandidatenländern zur EU-Erweiterung zu beobachten.
Die russische Aggression gegen die Ukraine war eine Zäsur mit gravierenden Folgen und Nachwirkungen für die EU und ihre globale Positionierung. Für die EU-Erweiterung, einen in der Geschichte der Union zentralen Integrationsmotor mit großer Strahlkraft, läutete der Krieg eine Phase der Selbstvergewisserung über Gegenwart und Zukunft der EU ein. Die Erweiterungspläne für den Westbalkan hatten lange Zeit vor sich hingedümpelt. Nun wurde die Gruppe der Beitrittskandidaten um die Ukraine, die Republik Moldau und Georgien vergrößert, die Beitrittsverhandlungen mit Kiew und Chisinau wurden 2024 aufgenommen.
Der Krieg in der Ukraine war zugleich auch eine Zäsur in der Beziehung der EU zu China. Denn obwohl die Volksrepublik den Angriffskrieg nie gebilligt hat oder Russland etwa durch Waffenlieferungen nicht direkt unterstützt, haben sich die chinesischen Exporte nach Russland (darunter Maschinen, Chips, Dual-Use-Güter und Rohstoffe) Externer Link: seit 2022 gut verdoppelt. Diese indirekte Unterstützung ist der EU ein Dorn im Auge.
Die Position Brüssels dazu drückt sich in den Worten der EU-Kommissionspräsidentin im Europaparlament im Sommer 2025 aus. Ursula von der Leyen (CDU/EVP) Externer Link: betonte, dass "China de facto Russlands Kriegswirtschaft ermöglicht". Die "beharrliche" Unterstützung Pekings für Moskau führe "zu mehr Instabilität und Unsicherheit hier in Europa". Damit meinte sie auch die Lage in so gut wie allen Erweiterungskandidaten im Westbalkan.
EU verkörperte lange Zeit das Ziel aller Wünsche
Konkret geht es um Serbien, Bosnien und Herzegowina, Nordmazedonien, Montenegro, Albanien und das Kosovo, die vor nunmehr einem Vierteljahrhundert den Status eines „potenziellen EU-Beitrittskandidaten“ verliehen bekamen. Der Westbalkan wartet damit deutlich länger als jene Staaten Osteuropas, die sich zu Beginn der 1990er Jahre aus dem sowjetisch dominierten Ostblock herausgelöst hatten und im Jahr 2004 der EU beigetreten sind.
Am Westbalkan verkörperten der Westen und vor allem die EU lange Zeit für viele Menschen das, was man sich nach den von Staatszerfall, Krieg und wirtschaftlicher Not geprägten 1990er Jahren sehnlich wünschte: Frieden und Stabilität, Wohlstand und Prosperität, Freiheit und Demokratie. Ab 1999/2000 wurde die EU – neben den USA – zum einflussreichsten Akteur in der Region.
Der Aussicht auf einen EU-Beitritt wurde zum zentralen Reformmotor und zur normativen Orientierung vieler nationaler Regierungen. Sie strebten eine funktionierende liberal-demokratische Staatlichkeit, einen Rechtsstaat und europäische Werte an, um ihre Länder nachhaltig zu transformieren. Spätestens nach der globalen Wirtschaftskrise 2007/08 geriet der Westbalkan jedoch zunehmend ins Sichtfeld von China und Russland.
Im vergangenen Jahrzehnt ist China neben Russland zum bedeutendsten Drittstaat am Westbalkan aufgestiegen. Die Region sollte Teil der 2013 von Staatschef Xi Jinping ausgerufenen „Neuen Seidenstraße“ (Belt and Road Initiative) werden, bei der es um die stärkere wirtschaftliche Integration verschiedener Weltregionen mit China, aber durchaus auch um politischen Einfluss der Volksrepublik geht.
China für Serbien zentraler Handelspartner
Für Peking ist am Westbalkan vor allem Serbien ein Anker der neuen China-geführten Weltordnung in Europa. Das Land ist für China zu einem zentralen Handelspartner geworden. 2024 betrug das bilaterale Handelsvolumen 5,73 Milliarden Euro. Seit Mitte Juli 2024 ist ein Freihandelsabkommen zwischen den beiden Staaten in Kraft.
Auch von den Auslandsdirektinvestitionen chinesischer Unternehmen sowie chinesischen Krediten in der Region floss der Großteil bisher nach Serbien, Tendenz zunehmend. Bei den Auslandsdirektinvestitionen (Foreign Direct Investments, FDI) zwischen 2010 und 2023 liegt China in Serbien mit etwas mehr als 30 Prozent noch deutlich hinter der EU, die mehr als 60 Prozent der Investitionen stellt. Zwischen 2020 bis 2022 war China allerdings bereits der wichtigste Einzelinvestor in Serbien, 2023 lag es gar vor den EU-27 insgesamt, 2024 setzte sich der Investmentreigen fort. Im Vergleich mit der EU und ihren Mitgliedsstaaten ist China für Serbien nicht der wichtigste Handelspartner, holt aber schnell auf, da die chinesischen Investoren ihre Position rasch ausbauen. In anderen Westbalkanstaaten bleibt China hinter der EU und den EU-Mitgliedsstaaten noch deutlicher zurück.
Chinesisches autoritäres Modell strahlt immer stärker
Neben Serbien ist Ungarn ein zentraler Pfeiler der chinesischen Strategie in Europa. Außer diesen zwei Staaten besuchte der chinesische Präsident Xi Jinping 2024 bei seinem letzten großen Besuch in Europa bloß Frankreich. Dass nur diese drei Länder als Ziel der Reise ausgewählt wurden, war eine klare Botschaft, mit der China der EU deutlich ausrichten ließ, dass die autoritär regierten Ungarn und Serbien zentrale Partner in Europa sind. In Budapest und Belgrad wurde Xi Jinping feierlich empfangen und von den lokalen Machthabern Orban und Vučić als „großer Bruder“ gefeiert.
Hinter den zumindest in Serbien massiven Investitionen und der gestiegenen Bedeutung Chinas in der Region steht viel mehr als nur der Ausbau der wirtschaftlichen Beziehungen. Bereits im Zuge der Corona-Pandemie vollzog Serbien außenpolitisch einen deutlichen Schwenk von der EU Richtung China. Der serbische Präsident Aleksandar Vučić kritisierte zu Beginn der Pandemie mit starken Worten die „fehlende Solidarität“ der EU. Die EU hatte Serbien bei der Lieferung von medizinischen Schutzgütern, die zu Beginn der Pandemie in Serbien dringend benötigt wurden, außen vorgelassen. Daraufhin Externer Link: bat Vučić Peking um die Lieferung von Masken und Beatmungsgeräten: „Alle meine persönlichen Hoffnungen richten sich auf China und seinen Präsidenten.“ Dies zeigte, dass die Zeit der Dominanz des Westens in diesem Teil Europas zu Ende ging.
Staaten wie Serbien oder auch Ungarn, die längst innenpolitisch auf einen autoritären Kurs umgeschwenkt sind, üben sich im geopolitischen Pragmatismus und Opportunismus und kooperieren zudem viel lieber mit Autokraten wie Xi Jinping oder Wladimir Putin als mit demokratisch legitimierten Vertretern der EU, die möglicherweise mehr Rechtsstaatlichkeit und demokratische Normen einfordern.
Auf einer strukturellen Ebene fordert die Volksrepublik rechtsstaatliche Normen und marktwirtschaftliche Ordnungen durch intransparente Kreditvergaben, unfaire Vergabeprozesse und undurchsichtige Deals mit lokalen korrupten Strukturen („corrosive capital“) heraus. Chinas Wirtschaftsangebote und -praktiken schwächen damit den Einfluss der EU, untergraben die Rechtsstaatlichkeit und erschweren damit die Beitrittsprozesse. Darüber hinaus ist eine zunehmende Strahlkraft des chinesischen staatsgelenkten und autoritären Modells zu erkennen. Aleksandar Vučić beispielsweise preist immer wieder den chinesischen Staat und das Wirtschaftsmodell der Volksrepublik an. Auch die Bevölkerung in Serbien oder in Ungarn hat mittlerweile große Sympathien für das chinesische System.
China fordert das liberal-demokratische Modell der EU heraus
Die Unterstützung Chinas für Vučić inmitten der großen Studentenproteste seit Herbst 2024 ist das beste Beispiel dafür, wie sich die Volksrepublik in Europa offen auf die Seite autoritärer Regierungen stellt. Das Regime begrüßt dabei sehr, dass das vom ihm propagierte Narrativ einer „Farbrevolution“, die angeblich von einem liberal-demokratischen „Deep State“ im Westen und der EU gegen Serbien geführt werde, von China – und auch von Russland – mitgetragen wird.
Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass Serbiens Präsident mehrmals offen über einen Beitritt Serbiens zur Gruppe der BRICS-Staaten gesprochen hat, in der China und Russland Führungspositionen einnehmen. Die Volksrepublik gewinnt durch ihre Investitionen und Politik in den Kandidatenländern an Strahlkraft als autoritäres Vorbild und tritt damit immer klarer in Systemkonkurrenz zur bislang dominanten liberal-demokratischen Ordnung nach dem Vorbild der EU.
Ein ähnliches Muster wie in Serbien zeigt sich auch in Georgien. Auch hier nimmt die Konkurrenz zwischen den liberal-demokratischen und den autoritären Staaten nach dem Modell von Russland und China immer deutlicher zu. Seitdem Ende 2023 Georgien zum offiziellen EU-Kandidatenland erklärt wurde, hat sich dort der Wind deutlich von West auf Ost gedreht. Das neue pro-russische Regime in Tiflis, repräsentiert durch die Regierungspartei „Georgischer Traum“, setzt seit einiger Zeit auf offene Repression gegen die pro-westlichen und Pro-EU-Proteste und wendet sich Russland und auch immer deutlicher China zu.
Der geplante große strategische Tiefseehafen in Anaklia am Schwarzen Meer wird nicht wie ursprünglich anvisiert von den USA, sondern von chinesischen Firmen gebaut. 2023 wurde zudem ein strategisches Abkommen zwischen beiden Staaten unterzeichnet. Auch die 2024 eingeführte Visafreiheit zwischen Georgien und China trägt zur Vertiefung des Austausches und der Beziehungen bei. Ähnlich wie in Serbien sind die georgischen Sicherheitsinstitutionen mit chinesischer Überwachungstechnologie ausgestattet, aus der Sicht des Regimes ein Glücksfall im repressiven Kampf gegen die Opposition und die Protestierenden.
Die „autoritären Brüder“ im Osten Europas
Das aus Ungarn oder Serbien bekannte Muster, wo sich Chinas wirtschaftliche und strategische Interessen mit politischer Ideologie paaren, ist auch in Georgien deutlich zu sehen. Vereinfacht könnte man sagen, dass sich Autokraten mit gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen zusammentun.
Doch der zentrale Brückenknopf für China und chinesische Interessen und Investitionen in Europa bleibt ein EU-Mitglied, nämlich Ungarn. Im Sommer 2025 erinnerte der ungarische Außenminister Péter Szijjártó daran, dass Ungarn das bevorzugte europäische Ziel für chinesische Investitionen bleibt, die – so Szijjártó weiter – entscheidend für die ungarische Wirtschaftsleistung und den „Dimensionswandel“ des Landes seien. Dass mit dem „Dimensionswandel“ auch die politische und ideologische Angleichung zwischen China und Ungarn und Staaten wie Serbien gemeint ist, liegt auf der Hand.
Die Rivalität zwischen der EU und China wird damit fortgeschrieben, auch im Bereich der Erweiterungspolitik. Es ist ausgerechnet der ungarische Premierminister Viktor Orban, der als ein lautstarker Unterstützer der EU-Erweiterung auftritt. Ja zum Beitritt der Staaten aus dem Westbalkan, lautet Orbans Devise, Nein zur Ukraine. Die Gründe sind schnell ausgemacht: Orban kann sich den Beitritt Serbiens, das von seinem engen Freund Vučić geführt wird, gut vorstellen. Denn: Mit Vučić im EU-Rat hätte er einen weiteren gleichgesinnten autoritären „Bruder“ an seiner Seite. China als „großer Bruder“ stünde dann ohne jeglichen Zweifel an der Seite seiner „autoritären Brüder“ im Osten Europas.