Nachdem die Shoah und die nationalsozialistische Herrschaft in Deutschland 1945 endeten, wurden kurz darauf auch Jüdinnen und Juden wieder politisch aktiv. Sichtbar wurde dies anhand Diskussionen, etwa darüber, wie die Gemeindestruktur aussehen sollte (Geis 1996). Hieran wurde schon gleich nach Kriegsende die innerjüdische Heterogenität greifbar. Sie beruhte auf kulturellen, linguistischen und religiösen Unterschieden, aber auch darauf, dass es verschiedene Verfolgungserfahrungen gab. So gründeten deutsche Jüdinnen und Juden sowie osteuropäische Interner Link: jüdische Displaced Persons (DPs) unterschiedliche Strukturen, die ihre jeweiligen Belange bedienten (Geller 2005). Es sollte bis 1950 dauern, bis die Einheitsgemeinde, über die der Zentralrat der Juden präsidiert, etabliert wurde, da deutsche Stellen einen Ansprechpartner für jüdische Angelegenheiten forderten, um „Probleme“, die durch die Naziverfolgung entstanden waren, mit ‘den’ Juden auszuhandeln (ebd.). Erschwerend für die in Deutschland verbliebenen Jüdinnen und Juden kam hinzu, dass die Jewish Cultural Reconstruction – deren Aufgabe darin bestand, von Nazis geraubtes jüdisches Kulturgut aufzuspüren, aktiv in Deutschland 1948 bis 1952 – versuchte, die verbliebenen materiellen Kulturgüter der vor der Shoah existierenden jüdischen Gemeinden ins Ausland zu verlagern. Unterstützung von jüdischen Institutionen aus dem Ausland erhielten die in Deutschland verbliebenen Juden kaum. In dieser von Außendruck gekennzeichneten Situation wurde der Zentralrat, inklusive seiner nachgelagerten Institutionen, zum Ansprechpartner für jüdische und teilweise auch israelische Angelegenheiten (Kauders 2008). Es verfestigte sich bei der nichtjüdischen Bevölkerung der Trugschluss, dass der Zentralrat per se der Ansprechpartner für alles sei, was Jüdinnen und Juden betreffe – inklusive Israel.
Kampf um Wiedergutmachung
Aushandlungen im Bereich von Reparation und Restitution mit deutschen Behörden, die der Zentralrat führte, erwiesen sich dabei als kleinteilig und zeitintensiv (Bodemann 1996). Dass die Landesbeauftragten für Entschädigungsangelegenheiten, die allesamt deutsch-jüdische Juristen waren, bereits Anfang der 1950er Jahre aus ihren Ämtern entfernt wurden, erschwerte das Durchsetzen der Ansprüche der Antragstellerinnen zusätzlich (Spernol 2009). Die Verurteilung von Philipp Auerbach, dem für Bayern zuständigen Beauftragten, ist ein bekanntes, aber keineswegs seltenes Beispiel für den weiterhin existierenden, strukturellen Antisemitismus (Kraushaar 2001; Ludyga 2006) und auch dafür, dass politisches Engagement, sei es in Behörden selbst, unerwünscht war. Auerbach waren Verfehlungen im Amt vorgeworfen worden, der Prozess gegen ihn war jedoch antisemitisch geprägt. Auerbach beging nach seiner Verurteilung 1952 Selbstmord. Der Fall wurde, für Auerbach offensichtlich zu spät, wieder aufgerollt und er wurde durch einen Untersuchungsausschuss des Bayerischen Landtags 1954 rehabilitiert. Die bekannten Einzelschicksale des Staatsanwalts Interner Link: Fritz Bauer und des Richters Robert Michaelis fügen sich in dieses Bild. Bauer kämpfte die Auschwitz-Prozesse in Frankfurt durch; Michaelis setzte sich permanent, und aus Sicht seiner Kollegen wohl penetrant, für Restitution und Reparation ein: er wurde krankheitsbedingt in den Ruhestand versetzt (Krach 2013).
Die als Wiedergutmachung bezeichneten Zahlungen und Eigentumsrückerstattungen erfolgten letztlich nicht aus intrinsischer Motivation der deutschen, nichtjüdischen Seite. Die Forschungsarbeiten der Sozialpsychologin und Historikerin Kristin Platt (2012) sowie die laufende Forschung der Archäologin Kathrin Kleibl (2022) belegen dies. Kleibl untersucht die Provenienz von Objekten im Deutschen Schifffahrtsmuseum in Bremerhaven. Aus ihren bisherigen Auswertungen ergab sich, dass die neuen Besitzerinnen und Besitzer der Objekte behaupteten, nichts über deren Herkunft gewusst zu haben, wenn überlebende Enteignete diese zurückforderten. Pikant ist, dass die Herkunft aus den Versteigerungsunterlagen ersichtlich ist. In Hamburg allein ersteigerten etwa 100.000 Menschen diese Objekte, die einst enteignet wurden (ARD 2022). Diese Größenordnungen müssen im Verhältnis zur Größe der (organisierten) jüdischen Gemeinde betrachtet werden, um zu verstehen, dass der (Dauer-)Kampf um Reparation und Restitution, oder um Ghettorente und die Wiedereinbürgerung oder auch Einbürgerung als Staatsangehöriger, eine geteilte, intergenerative Erfahrung darstellt – und das stets als absolute Minderheit gegenüber einer Mehrheitsgesellschaft. Die jüdische Definition von Intergenerativität, le’dor va’dor (von Generation zu Generation), beschreibt diesen Prozess der Intergenerativität der jüdischen Erfahrung – ebenso wie die jüdische Erfahrung von zyklischer Gewalt und (Flucht-)Migration, die die jüdische Geschichte und Gegenwart prägt (Kranz 2024a).
Repräsentanz und Wahrnehmung
In den Anfangsjahren war die offizielle organisatorische Struktur an der Spitze und in der Außenrepräsentation deutsch-jüdisch. Diese deutschen Juden – es waren in der Tat alles Männer – fühlten sich sowohl sprachlich als auch kulturell deutsch und verorteten sich weiterhin als deutsch (Geller 2005). Da sie in der Mehrheit mit nichtjüdischen deutschen Frauen verheiratet waren (Kauders 2007; Strnad 2015) und diese bzw. ihre nichtjüdischen Familien sie während der Nazi Herrschaft geschützt hatten, waren sie mit ihrer Entscheidung im Reinen, im postgenozidalen Nachkriegsdeutschland zu leben – und politisch mitzugestalten. Sie kämpften, ebenso wie die Landesbeauftragten für Entschädigungsangelegenheiten, für jüdische Belange und mitunter auch für die Anliegen anderer Verfolgter als Teil der deutschen Nachkriegsgesellschaft. Diese deutsch-jüdischen Funktionäre waren für die Gemeinde eine „nützliche“ Außenrepräsentanz, zumal die DPs wenig Interesse daran hatten, sich in Deutschland einzubringen (Kauders 2010) und dies den deutschsprachigen Juden, seltener Jüdinnen, überließen. Die Mehrheit der DPs lebte, traumabedingt, in (sicherer) Distanz zur deutschen Mehrheitsgesellschaft, hinter physischen wie psychischen Mauern (Bodemann 2008).
Bedingt durch die katastrophalen materiellen wie psychischen Folgen der Shoah war die erste Generation jüdischer Funktionäre vor allem mit dem Thema Reparation und Restitution – im materiellen Sinne – beschäftigt. In dieser Situation ist es wenig verwunderlich, dass Israel zur Ersatzidentität für die Mehrheit der Ersten sowie der Zweiten Generation wurde (Silbermann 1960) und das Land zentral in deren politischem Engagement stand. Wenn man schon nicht Alija machte – damit wird die Einwanderung nach Israel als metaphorischer Aufstieg bezeichnet –, dann sollte man wenigstens für Israel spenden (Kauders 2010) oder sich für israelische Belange einsetzen (Kauders 2008). Dieses Verhalten ist psychologisch nachvollziehbar, führte jedoch zu weiteren Verwirrungen in der Fremdwahrnehmung von Jüdinnen und Juden: Der kategorische Unterschied, dass nicht jede Jüdin oder jeder Jude Israeli oder Israelin ist und nicht jede Israelin oder Israeli Jüdin oder Jude, blieb unklar, da wenig über die Identitätskonfigurationen von lebenden Jüdinnen und Juden in Deutschland bekannt war, ebenso wenig wie über das real existierende Israel. Eine empirische Erhebung zu den Einstellungen der Grundgesamtheit der in Deutschland lebenden Jüdinnen und Juden gegenüber Israel existiert bis heute nicht: Die existierenden Untersuchungen beschränken sich auf Mitglieder der jüdischen Gemeinde.
Ab den 1970er Jahren meldeten sich erste jüdische Stimmen öffentlich, die vom Konsens der jüdischen Gemeinde abwichen. Sie stimmten keiner unkritischen, dogmatischen Unterstützung von Israel zu (Khasani 2005) und sprachen auch Themen wie Interehe/Interbeziehung und Patrilinearität offen an (Kranz 2021a). Sie trafen sich in „Jüdischen Gruppen“, die es dort gab, wo Großgemeinden existierten (Kranz 2022a). Sie äußerten ihren Dissens öffentlich: Sie waren „kritische Juden“ im Gegensatz zu „Gemeindejuden“ (vgl. Grünberg 2000: 49-53). Gerade die Thematik „Israel“ führte dazu, dass die Jüdischen Gruppen sehr bald wieder hinter geschlossenen Türen, jedoch nicht hinter denen der (Einheits-)Gemeinde tagten. Denn sie hatten festgestellt, dass ihre Aussagen bzw. Ansichten, wenn sie sich öffentlich zu Israel äußerten, aus dem Kontext gerissen wurden. Aufgrund ihrer Sprecherposition als Jüdinnen und Juden wurden sie zu Tokens gemacht bzw. auf die Repräsentantenrolle „ihrer“ vermeintlichen Gruppe reduziert (ibid.). Sie erkannten, dass, weil kein Grundverständnis für jüdische Identitäten vorhanden war (Baader 1993), die nichtjüdische deutsche Mehrheit sich jüdischer Stimmen bediente, um sich selbst in ihren Meinungen besonders zu Israel, dem Nahostkonflikt oder auch Wiedergutmachung zu bestätigen. Die Politikwissenschaftlerin Externer Link: Eleonore Sterling hatte dies schon 1965 angemahnt, der Publizist Interner Link: Richard Chaim Schneider (2005) bemängelte es 40 Jahren später wieder und die Kultur- und Literaturwissenschaftlerin Liliane Weissberg (2004), die ebenso wie Schneider zur Zweiten Generation gehört, übte Kritik daran, wie man sich Jüdinnen und Juden ab den 1990er zurecht fantasiere:
Die Jüdinnen und Juden wiederum, die im Land leben und die nicht Jüdinnen und Juden spielen, sondern Jüdinnen und Juden sind, erleben diese Situation bis heute: Sie „ent-täuschen“, wie der Soziologe Y. Michal Bodemann (2002: 127) es nannte. Allerdings leben migrationsbedingt nunmehr nicht nur mehr Jüdinnen und Juden im Land, sondern gerade die dritte Generation ist mit einer kritischen Masse im öffentlichen Raum vertreten: Sie sind nicht mehr überhörbar, aber dennoch immer noch mit Machtungleichheit und Implementierung jüdischer Positionen konfrontiert (Kranz 2023a). Dieses Wissen beeinflusst das politische Engagement von Jüdinnen und Juden sowie in Deutschland lebenden Israelinnen und Israelis bis heute – so ist immer wieder zu beobachten, wie sie eine bestimmte, aufgeladene Sprecherposition haben und sich ihr politisches Engagement aufgrund von Machtverhältnissen und unreflektierten Projektionen der Mehrheitsgesellschaft schnell von agency zu Tokenismus wandelt (Kranz 2020a).
Die unerwartete Migration
Im Juli 1990 verabschiedete die letzte DDR-Volkskammer den Beschluss, dass Jüdinnen und Juden aus der Sowjetunion in der DDR eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung erhalten konnten (Cronin 2019; Körber 2005). Dieser Beschluss beruhte auf die in der zerfallenden Sowjetunion zunehmenden antisemitischen Übergriffe. Diese fügten sich in eine lange Geschichte antisemitischer Gewalt ein, die immer dann verstärkt aufflammte, wenn es zu unerklärlichen Phänomenen oder gesellschaftlichen Umwälzungen kam. Der Zusammenbruch des sowjetischen Systems stellte die Mehrheit der Bevölkerung – und damit natürlich auch die Jüdinnen und Juden – vor unberechenbare Herausforderungen, während einige wenige an Macht und Wohlstand gewannen. In dieser Situation ergriffen viele Jüdinnen und Juden die Chance zur Emigration. Weit mehr Menschen Interner Link: immigrierten als Kontingentflüchtlinge nach Deutschland, als die deutsche Regierung, die Einheitsgemeinde und der Staat Israel erwartet hatten.
Dass Westdeutschland nach der Shoah ein Immigrationsland für Jüdinnen und Juden wurde (Kranz 2024a) und dass sich die jüdische Gemeinschaft – aber nicht nur die Gemeinden – im Grunde nur durch Immigration, nie durch natürliches Wachstum vergrößerten, zeigen Statistiken zur Gemeindemitgliedschaft (ZWST n. d.). Diese Tatsache wurde von Jüdinnen und Juden selbst oft verschwiegen und von der Mehrheitsgesellschaft letztlich übersehen (Kranz 2024b). „Deutschland ist kein Immigrationsland“, so die offizielle Sichtweise der deutschen Politik bis Ende der 1990er Jahre. Das korrespondierte mit dem Zwiespalt jener (Kauders 2010; Rapaport 1997), die sich als Jüdinnen und Juden in Deutschland, aber nicht als deutsche Jüdinnen und Juden verstanden und von Jüdinnen und Juden im Ausland für ihre Entscheidung verurteilt wurden. Das Bündnis des (Ver)Schweigens schloss sich (Kranz 2019), in dessen Folge jüdisches Lebenswelten in ihrer Diversität in Deutschland übersehen werden konnten – und wurden.
Der Beschluss der DDR, sowjetischen Jüdinnen und Juden und ihren Familien die Immigration als Kontingentflüchtlinge zu ermöglichen, stieß in der Bundesrepublik auf ein geteiltes Echo. Es gab politische Stimmen, die ihn befürworteten und solche, die sich dagegen aussprachen; die jüdische Einheitsgemeinde zeigte sich zwiegespalten (Cronin 2019; Körber 2021). Nach dem Ende der Sowjetunion wurde die Möglichkeit der Immigration für sowjetische und ab 1991 auch postsowjetische Jüdinnen und Juden im wiedervereinigten Deutschland aufrechterhalten. Um diese Immigration zu regulieren, wurde das Kontingentflüchtlingsgesetz mit der Spezifik für jüdische Flüchtlinge auf den Weg gebracht, das sich am israelischen Rückkehrgesetz (1950/1970) orientiert: Demnach kann eine Jüdin und ein Jude, dessen Kind und Kindeskinder sowie Ehepartnerinnen und Ehepartner und minderjährige Kinder nach Deutschland immigrieren. Dies bedeutete jedoch auch, dass Menschen einwandern konnten, die im Sinne des jüdischen Gesetzes, der Halacha, keine Jüdinnen und Juden waren und daher nicht berechtigt waren, Mitglied einer jüdischen Gemeinde zu werden. Bis Ende 2004 immigrierten unter dieser Gesetzgebung 219.604 Interner Link: Kontingentflüchtlinge (Haug/Schimany 2005: 6) nach Deutschland, was verschiedene Reaktionen auslöste. Der Staat Israel übte Kritik und forderte, dass Jüdinnen und Juden nach Israel und nicht nach Deutschland immigrieren sollten. Der Zentralrat der Juden in Deutschland äußerte die Präferenz, dass halachische Jüdinnen und Juden immigrieren können sollten, um die jüdischen Gemeinden zu stärken – denn innerjüdisch war klar, dass die Gemeinden überaltern und die Mitgliederzahl trotz kontinuierlicher Immigration schrumpfte. Die Statistiken der Interner Link: Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST) zeigen dies eindeutig: 1990 waren 28.081 Jüdinnen und Juden ohne sowjetischen Hintergrund Mitglieder, 2000 waren es nur noch 17.902. Die Zahl der Mitglieder mit (post)sowjetischem Hintergrund stieg im gleichen Zeitraum von 1.008 auf 69.854 (ZWST n. d.: 4).
Der deutsche Staat und die deutsche Öffentlichkeit reagierten widersprüchlich auf die „russischen Jüdinnen und Juden“. Ein Teil begrüßte die Wiederbelebung jüdischen Lebens, ein anderer misstraute den „Russen“, und ein weiterer Teil projizierte seine mit der (rechtlichen) Wiedervereinigung verbundenen Ängste auf die „Russen/Juden/russischen Juden“ (Körber 2005; Spülbeck 1997). In Reaktion auf die Kritik aus Israel und vom Zentralrat der Juden wurden die Aufnahmebedingungen verschärft (Cronin 2019). Auch wenn der deutsche Staat den Gesetzesrahmen aufrechterhielt, der das israelische Rückkehrgesetz repliziert, wurde der Status „Kontingentflüchtling“ nur noch erteilt, wenn die ZWST, die zur Struktur der Einheitsgemeinde gehört, einen Positivbescheid an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) übermittelt. Für diesen Bescheid ist nunmehr in der Regel eine jüdische Großmutter erforderlich, was bedeutete, dass mindestens ein Elternteil Jüdin oder Jude im Sinne des jüdischen Gesetzes sein musste. Zuvor war das entscheidende Kriterium für die Aufnahme die ethnische Zugehörigkeit, d.h.: wer den Nachweis einer jüdischen Abstammung erbringen konnte, durfte einreisen. Die Praxis der engeren Auslegung wurde auch nach dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine 2022 nicht geändert, wodurch viele für den Status als Kontingentflüchtlinge nicht infrage kamen. Jüdinnen und Juden der dritten Generation kritisierten diese Haltung des Zentralrats öffentlich.
Diese Art öffentlich geäußerter Kritik zeigt, dass sich das politische Engagement von Jüdinnen und Juden – im Sinne der Selbstzuschreibung als solche – nicht nur diversifiziert hat, sondern mittlerweile alle innerjüdischen Gruppen umfasst. Es geht weit über jüdische Themen und Israel hinaus, auch wenn diese weiterhin von zentraler Bedeutung bleiben. Welche Dynamik sich nach dem antisemitischen Dammbruch, der nach dem 7. Oktober 2023 auch in Deutschland erfolgte, entwickeln wird, bleibt abzuwarten. Im Laufe der Zeit und vor dem 7. Oktober 2023 waren innerjüdische Schulterschlüsse entstanden, die über die eigene jüdische Ingroup hinausgingen – wie diese sich in Zukunft sortieren werden, wird sich ebenfalls noch zeigen.
Ein Beispiel für diese Schulterschlüsse zeigt Folgendes: Der selbst als Kontingentflüchtling immigrierte Sergey Lagodinsky (Bündnis 90/Die Grünen) etwa verfolgt das zentrale Anliegen, dass Kontingentflüchtlinge dieselben Rentenansprüche wie Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedler beziehen können sollten. Andere Jüdinnen und Juden, die keine (post)sowjetischen Biographien haben, unterstützen dieses Vorhaben. Im Gegensatz zu Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedlern werden die im Ausland verbrachten Arbeitsjahre von Kontingentflüchtlingen nicht auf die Rente angerechnet. Dies führt zu einer akuten Armutsgefährdung unter ihnen. Die ebenfalls als Kontingentflüchtling immigrierte Literaturwissenschaftlerin Interner Link: Darja Klingenberg (2023) wiederum arbeitete heraus, wie die Mehrheitsgesellschaft oft übersieht, wie schwierig die Integration für die Kontingentflüchtlinge war und welche besonderen Leistungen die „neuen Jüdinnen und Juden“ erbrachten. Die Aufmerksamkeit, die auf die postsowjetischen Kinder gerichtet wird, übersieht häufig die Verluste der Elterngeneration (ebd.). Im besten Sinne erfüllt diese Fremdzuschreibung philosemitische Erwartungen an „schlaue Jüdinnen und Juden“ – allerdings regt sich bei vielen Juden Widerstand, diese Projektionen einfach unkommentiert zu lassen.
Widerspenstige Geschenke: Israelische Migrantinnen und Migranten in Deutschland
Während Jüdinnen und Juden in Deutschland immer wieder von Politikerinnen und Politikern als „Geschenke“ bezeichnet wurden – eine Klassifizierung, die die meisten von ihnen ablehnen –, kamen ins wiedervereinigte Deutschland nicht nur sowjetische und postsowjetische Jüdinnen und Juden, sondern auch israelische Jüdinnen und Juden als „reichhaltige Geschenke“. Ab den 2000er Jahren und bis Mitte der 2010er Jahre stieg das Immigrationsvolumen von Israelinnen und Israelis nach Deutschland. In der Mehrheit nach 1974 geboren und mit hohen Qualifikationen ausgestattet, zogen die Enkelinnen und Enkel der Überlebendengeneration, teilweise als EU-Staatsbürger und -Staatsbürgerinnen, nach Deutschland (Rebhun/Kranz/Sünker 2022). Die größte Anzahl israelischer Staatsbürgerinnen und Staatsbürger lebt in Berlin, was jedoch nicht bedeutet, dass die Mehrheit aller Israelis und Israelinnen dort ansässig ist. Diese leben in Deutschland verteilt, entsprechend ihres Hauptimmigrationsmotivs: berufliche und ökonomische Gründe dominieren, aber auch Faktoren wie ein bevorzugter Lifestyle oder der Wohnort der deutschen Partnerin oder des deutschen Partners (rund 30 Prozent der Israelis und Israelinnen sind „Liebesmigranten“) spielen eine Rolle. Die Zahl israelischer Staatsbürgerinnen und Staatsbürger in Deutschland ist im Vergleich zu anderen Immigrantengruppen aber gering: Es sind lediglich etwa 15.000 Menschen als israelische Staatsbürgerinnen gemeldet, zusätzlich etwa 10.000 Menschen mit einem Migrationsbezug zu Israel (Kranz 2020b), so dass man von etwa 24.000 Israelinnen und Israelis ausgehen kann, die in Israel sozialisiert worden sind (Staetsky 2025).
Nimmt man jedoch die jüdische Gemeinschaft als Bezugsgröße, ist die Größe der israelischen Migrationsbewegung signifikant. Denn während ihr Anteil im Verhältnis zu anderen Bevölkerungsgruppen in Deutschland winzig ist, war das Medienecho, das sie nach 2010 fanden, unverhältnismäßig groß. Und nachdem sie in der breiteren Öffentlichkeit als eigenständige Bezugsgröße wahrgenommen wurden, nahm auch die Forschung zu Israelinnen und Israelis Fahrt auf. Forschung zu Jüdinnen und Juden konzentriert sich allerdings weiterhin überwiegend auf die Vergangenheit, während die Gegenwart deutlich weniger Beachtung findet (Kranz 2022b; Kranz/Ross 2023). So tritt auch hier das „Bündnis des Schweigens“ zutage (Kranz 2019): Sowohl die deutsche Mehrheitsgesellschaft als auch die Funktionäre der jüdischen Minderheit haben die Migration von Jüdinnen und Juden nach Deutschland eher beschwiegen, einerseits weil sich Deutschland bis um die Jahrtausendwende nicht als Einwanderungsland sah, andererseits weil die jüdische Immigration nach Deutschland unter Jüdinnen und Juden im Ausland durchaus umstritten war (Kranz 2024b). Dies ist dahingehend besonders interessant, da die Migration von Israelinnen und Israelis nur für eine Minderheit mit der Suche nach den eigenen Wurzeln verbunden ist – wie es zuweilen von der deutschen, nichtjüdischen Seite überbetont wird –, während das Gros israelischer Immigration auf einer spezifischen, strukturellen Migrationsinfrastruktur basiert. Diese ist durch Begegnungs- und Austauschprogramme entstanden, die gerade für junge Israelinnen und Israelis und junge Deutsche (Heil 2011) immer weiter ausgebaut wurden (Kranz 2020b). Die israelischen Migrantinnen und Migranten sind ein unerwarteter und ungeplanter Kollateralgewinn für die Bundesrepublik, zumal Liebe eine entscheidende Determinante im Migrationsprozess ist (Kranz 2023b): Diese Israelinnen und Israelis untermauern das scheinbare Paradox des „permanent migrants“ (Kranz im Erscheinen).
Israelinnen und Israelis in Deutschland machen sich zunehmend hörbar und sichtbar: Sie sind häufig besser ausgebildet als ihre in Israel lebenden Landsleute, überwiegend gehörten sie bereits in Israel zur sozio-ökonomischen privilegierten Schicht, sie sind überwiegend säkular und definieren sich primär als Israelinnen und Israelis und nicht als Jüdinnen und Juden. Die Mehrheit hat politische moderate bis linke Einstellungen (Rebhun/Kranz/Sünker 2022), mit einer Minderheit, die radikal links eingestellt ist (Amit 2018). Aus einer jüdischen Mehrheitsgesellschaft stammend, haben sie nicht die gleichen Erfahrungen wie die in Deutschland geborenen und aufgewachsenen Jüdinnen und Juden bzw. postsowjetischen Jüdinnen und Juden gemacht, die ihre politischen Äußerungen, besonders zu Themen wie Israel, Antisemitismus und Erinnerungspolitik, oft als aus dem Kontext gerissen erlebten und die mitunter vorsichtig mit öffentlichen Äußerungen sind. Israelinnen und Israelis finden sich in dieser Logik ungewollt als „israelisch-jüdische Tokens“ in einem deutschen Identitätsspiel wieder. Da sie in Teilen politisch engagiert sind, insbesondere in Diskussionen zu Israel, Antisemitismus und Erinnerungskultur, erweist sich ihre Form der agency als ein „widerspenstiges Geschenk“, das jedoch von nichtjüdischer und/oder deutscher Seite als solche übernommen wird. Israelinnen und Israelis sind damit Teil des deutschen Gegenwartstheaters (Kranz 2021b).
Dass sie aus der Position von Israelinnen und Israelis sprechen und ihre spezifische, israelische Erfahrung mitbringen, bleibt oft unbeachtet. Auch wird übersehen, dass jene, die sich öffentlich/medial bemerkbar machen, nicht die Mehrheit aller Israelinnen und Israelis repräsentieren. Mit Blick auf das Binnenverhältnis zu den in Deutschland aufgewachsenen Jüdinnen und Juden wiederum lassen sich ganz unterschiedliche jüdische Identitätspraktiken erkennen, die sich je nach Familienbiographie religiös, sprachlich, kulturell unterscheiden. Zudem sind die Nachfahrinnen und Nachfahren der DPs und der postsowjetischen Jüdinnen und Juden eine permanente Erinnerung daran, was zerstört wurde und dass die Folgen des Naziregimes bis heute wirken – insofern als Jüdinnen und Juden mit deutschen Familienbiographien, die vor das Jahr 1933 reichen, die absolute Minderheit im jüdischen Deutschland bilden. Und schließlich stehen Israelinnen und Israelis nicht unter dem Verdacht, „falschen Jüdinnen oder Juden“ zu sein, was bei (post)sowjetischen Jüdinnen und Juden durchaus vermutet wurde (Cronin 2019). Kurzum: Israelinnen und Israelis sind in der deutschen Gesellschaft anders positioniert.
Die unterschiedlichen israelischen Identitätspraktiken drücken sich auch in den Themen aus, die sie beschäftigen: etwa im institutionellen Aktivismus (z. B. in den NROs New Israel Fund oder Keren HaYessod), Grassroots-Bewegungen wie der inzwischen aufgelösten Initiative Salaam/Shalom oder dem LABA, dass ein Labor für jüdische Kunst in verschiedenen Metropolen, darunter auch Berlin, bietet und dass in großen Teilen dem Engagement von Dekel Peretz zu verdanken ist: Anders als andere, transiente, Israelinnen und Israelis blieb er in Berlin und begann mit Gleichgesinnten nachhaltige Strukturen zu bauen. Dieses Engagement, sei es institutionell oder als Reaktion auf Ereignisse wie die Interner Link: Justizreform in Israel oder den Interner Link: Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober 2023, reflektiert spezifische israelische Perspektiven, zumal die NROs verschiedene Schwerpunkte haben und Grassroot-Initiativen wie Salaam/Shalom mitunter kurzweilig sind: Ob z.B. die Initiative „Israelis für Frieden“, die als Reaktion auf den anhaltenden Krieg in Gaza gegründet wurde, mehr als eine Reaktion auf eine akute Krise ist, ist fraglich. Seit dem 7. Oktober 2023 aber scheint der Aktivismus von Israelinnen und Israelis sich an den anderer Jüdinnen und Juden anzunähern – zumal Israel, unabhängig von politischer Gesinnung, weiterhin ein zentrales Thema ist, das die jüdische Gemeinschaft bewegt. Auch hier wird deutlich, dass Jüdinnen und Juden einen Bezug zu Israel haben, wobei bisher empirisch nicht untersucht wurde, welchen Bezug sie genau haben und welche Meinungen wie weit verbreitet sind. Neben dem spezifisch mit dem 7. Oktober 2023 zusammenhängenden Engagement gibt es einen kontinuierlich biographisch bedingten politischen Aktivismus bzw. politisches Engagement. Dabei fällt auch hier wieder die Relevanz von Stipendienprogrammen ins Auge: Diese Programme richten sich gezielt an Künstlerinnen und Künstler, Akademiker und Akademikerinnen und andere Vertreter und Vertreterinnen der ‚kreativen Klassen‘, die sich dann in Deutschland durchaus auch politisch engagiert zeigen (Kranz 2025a). In diesem Zusammenhang ließe sich im Übrigen auch überlegen, ob diese erwünschten Jüdinnen und Juden eine Art Ersatz für die verlorenen jüdischen Eliten darstellen, die vor 1933 in den deutschen Territorien lebten, während das nun zutage tretende politische Engagement eher ein ungeplanter „Zugewinn” ist.
(Gescheiterte) Allyships, innerjüdische Differenzen und wiederkehrende Themen
Bis zur (post)sojwetischen Immigration gab es in Deutschland nur eine geringe Zahl von Jüdinnen und Juden, sodass neue, innerjüdische Gruppen keine kritische Masse erreichten, um neben der Einheitsgemeinde und ihren Institutionen nachhaltige Strukturen aufzubauen. Die dritte Generation – bestehend aus in Deutschland geborenen und aufgewachsenen Enkelinnen und Enkeln von DPs und deutschen Jüdinnen und Juden, postsowjetischen und israelischen Jüdinnen und Juden sowie Jüdinnen und Juden aus anderen Ländern – ist aber nun die erste nach der Shoah, die ein solches Maß an Selbstermächtigung auch bedingt durch ihre Gruppengröße erreicht hat. Sie ist auch die erste, die von Strukturen profitieren kann, die eine nachhaltige Elitenbildung ermöglichen. Ein Beispiel hierfür ist neben LABA, das durch die Verbindung zur Synagoge am Fraenkelufer eine Konstante hat, das Interner Link: Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerk (ELES), das Begabtenförderwerk der jüdischen Gemeinschaft. ELES basiert auf dem Ethos eines pluralen Judentums und erlaubt die Bewerbung aller Jüdinnen und Juden, die der jüdischen Gemeinschaft angehören sowie von Studierenden, die keine Jüdinnen und Juden sind, sich aber fachlich mit jüdischen Themen beschäftigen. Zwar gab es auch schon vor der Gründung des ELES Ferienlager (Machanot) für Jugendliche, diese beschränkten sich jedoch weitgehend auf die Einheitsgemeinden; so ist etwa auch der 1968 gegründete Bundesverband Jüdischer Studierender in Deutschland, seit 2016 die Jüdische Studierendenunion Deutschland, Teil der Strukturen der Einheitsgemeinde. Mit ELES entstand ein fester Ort der Vernetzung, der Jüdinnen und Juden mit nichtjüdischen Stipendiaten und Stipendiatinnen, die an jüdischen Themen arbeiten, verbindet. Hierdurch entstehen Gruppen wie „Studentim“ und andere Einzelakteurinnen und -akteure der jüdischen Bildungselite, die sich vernetzen können. Diese Art der Vernetzung ist für politisches Engagement von großer Bedeutung.
Allerdings – und das wird nach dem 7. Oktober 2023 besonders deutlich – gibt es unter Jüdinnen und Juden sehr unterschiedliche Meinungen und Positionen zu Israel, israelischer Politik und insbesondere zu Israels Militärstrategie. Israel, ebenso wie die Themen Interehe/Interpartnerschaft und der Umgang mit patrilinearen Jüdinnen und Juden, sind konfliktbeladene Themen – und das waren sie auch schon in früheren Generationen. Aufgrund ihrer spezifischen Positionierung in der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft wird die Sprecherrolle von Jüdinnen und Juden im Hinblick auf alles, was mit Israel zu tun hat, nach dem 7. Oktober 2023 noch stärker hervorgehoben – insbesondere wenn Aussagen von nichtjüdischen Akteurinnen und Akteure genutzt werden, die diese Aussagen aus strategischen Gründen selbst nicht äußern wollen. Dieser Mechanismus ist für Israelinnen und Israelis noch ausgeprägter als für andere jüdische Gruppen.
Politisch engagierte Jüdinnen und Juden sehen sich durch diese Dynamiken mit extremen Herausforderungen konfrontiert. Ihr Engagement wird zusätzlich dadurch erschwert, dass nach dem 7. Oktober 2023 jüdisch/nichtjüdische Allyships zusammengebrochen sind, wobei diese nicht von jüdischer Seite aufgekündigt wurden (Chernivsky/Lorenz-Sinai 2024). Die Tatsache, dass Jüdinnen und Juden eine kleine Minderheit darstellen, führt zu einer verstärkten Erfahrung von Einsamkeit – sowohl im politischen Engagement als auch im persönlichen Umfeld. Diese Erfahrung stellt ein intergeneratives Déjà-vu dar, das bereits frühere Generationen gemacht haben (Kranz 2025b): Der Mechanismus der Ausgrenzung „der anderen jüdischen Perspektive“ greift so gesehen einmal mehr.
Angesichts dieser Situation stellt sich die Frage, was dies für das politische Engagement von Jüdinnen und Juden bedeutet. Werden sie verstärkt nach Innen arbeiten und sich auf innerjüdische Belange konzentrieren? Werden sie Israel in den Mittelpunkt ihres Engagements stellen und nach außen eine starke Fassade projizieren – wie es in der Ersten und Zweiten Generation der Fall war? Oder wird es eine kleine Gruppe oder Einzelakteurinnen und -akteure geben, die laut und öffentlich unterschiedliche, konträre Positionen vertreten? Wird sich dabei ein dauerhafter Riss innerhalb der Gemeinschaft etablieren? Oder aber werden sich Jüdinnen und Juden Themen zuwenden, die nicht spezifisch jüdisch sind und dabei ihr „Jüdischsein“ ausblenden? Und – das ist vielleicht die entscheidende Frage –: Werden Jüdinnen und Juden erneut jüdisch/nichtjüdische Allyships suchen, nachdem ihnen nach dem 7. Oktober 2023 vielfach Empathielosigkeit entgegenschlug und antisemitische Hasskriminalität massiv anstieg (RIAS 2023, 2024)?
All diese Parameter, die die jüdischen Erfahrungen prägen und ihr Erleben als Jüdinnen und Juden strukturieren, werden eine nachhaltige Prägewirkung hinterlassen, die nicht nur Jüdinnen und Juden, sondern auch die Zivilgesellschaft, die Interner Link: Justiz und die Politik noch lange beschäftigen werden und die letztendlich die jüdische Gegenwart und noch mehr die jüdische Zukunft in Deutschland maßgeblich definieren werden.