Rockmusik in der Sowjetunion
Während sich der Rockuntergrund in Leningrad rasant entwickelte, mussten die Musiker in Moskau bis zum Jahr 1985 warten, als endlich das "Rock-Laboratorium" - die Moskauer Antwort auf den berühmten Leningrader Rockklub - seine Tore und damit eine Plattform für die Szene öffnete. Wie eine Bombe schlug die Band "Bravo" ein, die cool und dandyhaft gekleidet, wie die "Stiljagi" in den 1950er-Jahren, Ska und Twist miteinander mixte. Ihre Sängerin Shanna Agusarowa war eine der wenigen Frauen im sowjetischen Rock und begeisterte durch ihre Frische und Unbekümmertheit.Eine weitere Rock-Sensation aus Moskau war "Swuki Mu", die minimalistischen Avantgarde-Rock spielten. Ihr Sänger Pjotr Mamonow war bereits als Poet bekannt geworden und erwies sich als charismatischer Frontmann, der die Konzerte zu wahren Performances stilisierte.
Nicht nur Leningrad und Moskau hatten in den 1980er-Jahren ihre Rockstars, auch in der Provinz tat sich einiges. In der Stadt Ufa entstand die Band "DDT", deren Sänger Juri Schewschuk emotionalen und kraftvollen Rock und Blues sang und damit die Herzen der Fans fand. Eine besonders rege Szene gab es in Swerdlowsk, dem späteren Jekaterinenburg. Die ersten Stars von dort, "Nautilus Pompilus", machten poppigen New Wave, der aus dem Underground kam, aber für die Massen taugte. Aus der tiefsten Provinz, nämlich aus Wologda, kam der Liedermacher Alexander Baschlatschow - ein sanftes Naturtalent - der für viele die beste russische Rockpoesie aller Zeiten geschrieben hat.
Neben der klassischen Rockmusik entwickelte sich auch eine Punk- und Heavy-Metal-Szene. Die einflussreichste und gefährlichste Punkband der Sowjetunion war "Graschdanskaja Oborona". Die Texte von Frontmann Jegor Letow waren eine provokative Mischung aus Schimpfwörtern, Philosophie und Poesie und führten dazu, dass "Graschdanskaja Oborona" verboten und Letow kurzzeitig in eine Nervenklinik zwangseingewiesen wurde. Heute gibt es sogar Doktorarbeiten über Letows Texte.
Größer noch als Punk wurde der Heavy Metal in der Sowjetunion. Da die Texte von Bands wie "Korrosia Metala" oder "Tschorny Obelisk" selten politisch waren, gab es mit den Behörden kaum Probleme. Einige der Bands schafften es sogar ins DDR-Fernsehen. Auch kommerziell betrachtet, war Heavy Metal sehr erfolgreich. So kamen beispielsweise zum Festival "Heavy Leto" bei Tallinn im Jahr 1987 knapp 100.000 Besucher.
Rockmusik als Phantom - Schwarzhandel, Rockmusicals und staatliche Strategien
Der Schwarzhandel mit Tonbändern hatte bereits in den 1950er-Jahren angefangen, als die ersten Underground-Musiklabels entstanden. Analog zum Samizdat, dem Selbstverlag von Literatur im Untergrund, entwickelte sich mit dem Magnitizdat eine regelrechte Musikindustrie im Untergrund. Mit der Einführung und Produktion von Kassettenalben fand der Magnitizdat in den 1980er-Jahren seinen Höhepunkt. Es handelte sich hierbei um semi- professionelle Alben, die zumeist bei Andrej Tropillo in Leningrad aufgenommen wurden, der alle wichtigen Leningrader Bands produzierte. Zuvor hatte es nur Konzertmitschnitte in schlechter Qualität gegeben. Nun konnte man in Ruhe im Studio herumbasteln, das Produkt vervielfältigen und sogar in der Lieblingsdiskothek spielen lassen. Das war ein Quantensprung für die Entwicklung der Rockszene. Die Kassetten wurden von den Musikern in liebevoller Handarbeit in einer Auflage von 20-30 Stück gestaltet und an Freunde gegeben. Diese kopierten sie dann wieder für Freunde, und so verbreitete sich die Musik im ganzen Land, auch wenn die Qualität der Kopien litt.Eine weitere, raffinierte Möglichkeit, die Zensur zu umgehen und trotzdem seine Lieder publik zu machen, waren Rock- Musicals. Die Theateraufführungen waren in der Bevölkerung sehr populär und für die Rockmusiker ein möglicher Weg mit größerer künstlerischer Freiheit ihre Lieder unters Volk zu bringen.
Dem Staat blieb die aufkommende Begeisterung für Rockmusik nicht verborgen. Während die Rockbands zuvor weitestgehend ignoriert und durch fehlenden Zutritt zum staatlichen Kulturbetrieb bestraft wurden, erhielten sie in den 1980er-Jahren schlichtweg keine Spielerlaubnis. Es gab in der Sowjetunion, ähnlich zur DDR, eine Aufnahmekommission, die über die Zulassung einer Band entschied. Auch in der Presse wurden Artikel über Rockmusik zensiert. Das Wort "Rock" durfte zeitweise nicht verwendet werden, was die Redakteure zu Umschreibungen wie "moderne Jugendmusik" zwang. In den Diskotheken hingen schwarze Listen, auf denen alle wichtigen russischen Rockbands standen, die nun nicht mehr gespielt werden durften. Ein Kulturbeamter fasste es zu der Zeit folgendermaßen zusammen: "Mit Rockmusik ist bei uns alles in Ordnung, es gibt sie nämlich nicht!" Noch im Jahr 1987 auf dem Plenum des sowjetischen Schriftstellerverbandes verglichen einige parteitreue Redner Rockmusik mit Aids - einer demoralisierenden und zerstörerischen Kraft für die Jugend.