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Die Islamophobie und was sie vom Antisemitismus unterscheidet Anmerkungen zu einem Vergleich

Jochen Müller

/ 14 Minuten zu lesen

Kann man "Islamophobie" und Antisemitismus vergleichen? Darum kreiste 2010 eine teilweise hitzig geführte Debatte. Jochen Müller erklärt einführend die Hintergründe und zeigt, wie sich Islamfeindschaft und Antisemitismus unterscheiden.

Demonstration in London gegen die Veröffentlichung der Mohammed-Karikaturen. (© AP)

Kein Zweifel besteht daran, dass es in Deutschland Stereotypen, Vorurteile und Ressentiments bishin zu Feindseligkeit gegenüber dem Islam und gegenüber Muslimen gibt. Das zeigen eine Vielzahl von Untersuchungen und Umfragen. Offen artikulierter Hass auf den Islam und auf Muslime kommt darüber hinaus in einer Vielzahl explizit anti-islamischer Websites und Foren im Internet zum Ausdruck. Hier wird in deutlich rassistischer Manier gegen Muslime gepöbelt und gehetzt.

Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass neue Begrifflichkeiten zur Beschreibung dieses Phänomens Eingang in den Sprachgebrauch finden: War früher noch vom anti-islamischen Rassismus oder vom "Feindbild Islam" die Rede, so ist mittlerweile die Bezeichung "Islamophobie" an ihre Stelle getreten. Insbesondere bei muslimischen Organisationen hat sich dieser Begriff durchgesetzt. Neben der quantitativen Zunahme von Diskriminierungen trägt er auch deren inhaltlicher Verschiebung Rechnung: "Islamophobie" beschreibt weniger die Verletzung individueller Menschenrechte von Muslimen aufgrund typischer rassistischer Zuschreibungen, sondern bezeichnet Angst (Phobie) und daraus resultierende Feindschaft gegenüber dem Islam als Religion und den Muslimen als deren Repräsentanten. Vor diesem Hintergrund kann "Islamophobie" als eine Spielart von insgesamt neuartigen, weil kulturalistisch begründeten Rassismen gelten, die in den 80er und 90er Jahren den biologistischen Rassismus abgelöst haben.

Die Geschichte der "Islamophobie"

Dennoch sind zum Begriff der "Islamophobie" Fragezeichen angebracht. Weniger zu seinem Inhalt – der Begriff beschreibt durchaus treffend neuere Entwicklungen bei der Konstitution eines spezifischen Feindbilds. Problematisch ist jedoch zum einen die Funktion des Begriffs "Islamophobie" in aktuellen politischen Diskursen; und zum anderen – vielfach auch im Zusammenhang dieser politischen Auseinandersetzungen – der Vergleich von Islamophobie und Antisemitismus.

Nicht selten soll die Verwendung des Begriffs "Islamophobie" in politischen Debatten um den Islam dazu dienen, Kritik am Islam oder dem Verhalten von Muslimen abzuwehren. So stand Mitte der 90er Jahre die Absicht britischer muslimischer Verbände am Anfang der Verbreitung des Begriffs, missliebige Positionen als islamfeindlich oder als Verletzung religiöser Gefühle der Muslime abzuwehren. Dies betraf auch kritische muslimische Stimmen wie Salman Rushdie oder die Autorin Irshad Manji, die wegen ihrer Publikationen unter anderem vom britischen IHCR (Islamic Human Rights Commission) verurteilt wurde. In der Folgezeit wurde der Begriff von Sozialwissenschaftlern, anti-rassistischen NGOs und dem Runnymede Trust übernommen, einem renommierten britischen ThinkTank. Dessen Definition des Begriffs "Islamophobie" ging 1997 in den vom damaligen britischen Innenminister Jack Straw vorgestellten Bericht: "Islamophobia: a challenge for us all" ein und wurde vom European Monitoring Centre on Racism and Xenophobia (EUMC) übernommen.

Dabei ermöglicht es die sehr weit gefasste Defintion von "Islamophobie" durch den Runnymede Trust, religionskritische Fragen und Positionen zum Islam zu diskreditieren – gilt es doch per definitionem bereits als "islamophob", wenn "der Islam als monolithisch, statisch und ablehnend gegenüber Veränderung" dargestellt wird. Sicher ist dies eine unzutreffende und voruteilsbehaftete Wahrnehmung "des Islam". Dennoch wären entsprechende Äußerungen für sich genommen nicht als "islamophob" zu werten – nicht zuletzt, weil ein solches Islamverständnis demjenigen vieler islamistischer Organisationen sehr nahe kommt. Diese wären demnach vor allen anderen als "islamophob" einzustufen. Auch die Beschreibung der Islamophobie auf der britischen Website Islamophobia-Watch, die Fälle von Islamfeindschaft und Rassismus in den Medien aufgreift als "rassistisches Instrument des imperialistischen Westens", deutet auf den politischen Gehalt des Begriffs.

Vor diesem Hintergrund kritisieren etwa der britische Forscher Kenan Malik sowie ein Manifest von Autoren, das unter anderem von Taslima Nasreen und Salman Rushdie unterzeichnet wurde, den Begriff: Malik bemängelt, dass nicht zwischen Islam-Kritik und Rassismus unterschieden und damit der Rassismus überbetont werde, der sich spezifisch gegen Muslime richte. Und im "Manifest der 12" gegen den Islamismus heißt es: "We refuse to renounce our critical spirit out of fear of being accused of 'Islamophobia', a wretched concept that confuses criticism of Islam as a religion and stigmatisation of those who believe in it." Grundsätzlich verweisen diese kritischen Stimmen auf die Gefahr, dass im Diskurs über die Islamophobie nicht zwischen legitimer Kritik (auch Religionskritik) und rassistischem Ressentiment unterschieden wird.

Der Vergleich mit dem Antisemitismus

Diese kurz skizzierte Begriffsgeschichte der "Islamophobie" stellt nicht die Verbreitung von Ressentiments gegenüber Muslimen sowie die Existenz von Islamfeindschaft bzw. "Islamophobie" in Abrede. Sie weist aber darauf hin, dass die Verwendung des Begriffs immer auch politische Funktionen erfüllt hat. Dies gilt insbesondere, wenn Islamophobie und Antisemitismus in einem Atemzug genannt werden.

In Deutschland sind es dabei meist islamistische Organisationen und Websites aus dem Spektrum des sehr rigiden und sich eng am Wortlaut der religiösen Quellen orientierenden salafitischen Islam, die den Antisemitismus heranziehen, um auf "Islamophobie" hinzuweisen: Ganz gezielt betreiben diese – etwa im Zusammenhang mit dem islamfeindlich motivierten Mord an Marwa El-Sherbini im Sommer 2009 in Dresden – über den Vergleich mit dem Antisemitismus eine Dramatisierung der Bedrohung von deutschen Muslimen. Auf den Internetseiten im Umfeld des vor allem bei sehr religiösen jungen Muslimen und Konvertiten populären Predigers Pierre Vogel (z.B. muslimegegenrechts.de) wird dazu vor einem "Holocaust gegen Muslime" gewarnt. Schließlich gleiche die heutige Hetze gegen Muslime jenen "Propagandamethoden von Adolf Hitler", die die Menschen bereit für den Massenmord gemacht hätten. Gegen die Islamophobie, so die Propaganda der Salafiten, müssten sich die Muslime um den "wahren Islam" zusammenschließen. Hier dient der Vergleich von "Islamophobie" und Antisemitismus ganz offensichtlich dem Ziel, unter jungen Muslimen Anhänger für den salafitischen Islam zu werben.

Nun verbietet sich wegen dieser instrumentellen Begriffsverwendung nicht gleich jeglicher Vergleich von Antisemitismus und Islamfeindschaft, wie ich die "Islamophobie" im Folgenden bezeichnen möchte. Vielmehr haben nicht nur offizielle muslimische Organisationen wie der ZMD (Zentralrat der Muslime in Deutschland), sondern auch der Zentralrat der Juden in Deutschland einen Vergleich der Ursachen und Erscheinungsformen aktueller Islamfeindschaft in Deutschland mit antisemitischen Vorurteilen nahe gelegt. Wissenschaftlich gestützt wurde dies vom Zentrum für Anitsemitismusforschung (ZfA) der TU-Berlin, in dessen Jahrbuch 2008 erstmals mehrere Autoren auf die Ähnlichkeit der Vorurteilstrukturen von Islamfeindschaft und Antisemitismus verwiesen. So heißt es im Vorwort des Jahrbuchs: "Mit Stereotypen und Konstrukten, die als Instrumentarium des Antisemitismus geläufig sind, wird Stimmung gegen Muslime erzeugt." Aufgabe einer Antisemitismusforschung, "die sich als Vorurteilsforschung begreift" sei es daher, auch den "Hass gegen Muslime" in den Blick zu nehmen, "der sich der gleichen Methoden bedient, die vom christlichen Antijudaismus wie vom rassistischen Antisemitismus entwickelt wurden".

Mehrere Beiträge im Jahrbuch des ZfA beschäftigten sich vor diesem Hintergrund mit Erscheinungsformen aktueller Islamfeindschaft - etwa anhand des Internetportals "Politically Incorrect" - und weisen darauf hin, wie sich einzelne antimuslimische und antisemitische Vorurteile ähneln. So benennt Peter Widmann vier charakteristische Elemente im anti-islamischen Denken des renommierten Autors Hans-Peter Raddatz, die teils deutliche Nähe zum Antisemitismus aufweisen: "Die antimoderne Klage über die verlorene Identität, das Denken in absoluten Feindschaften, der Verschwörungsglaube und eine Neuverteilung historischer Täter- und Opferrollen."

Auch in einem weiteren Band, der die Konferenz des ZfA "Feindbild Jude – Feindbild Muslim" dokumentiert, benennt Wolfgang Benz Parallelen zwischen antisemitischer und islamfeindlicher Stereotypenbildung. Er kommt darin zu dem Schluss: "Die Wut der Muslimfeinde ist dem Zorn der Antisemiten gegen die Juden ähnlich; die Verabredung einer Mehrheit gegen das eine oder andere Kollektiv der Minderheit, das als solches ausgegrenzt wird, ist gefährlich, wie das Paradigma der Judenfeindschaft durch seine Umsetzung im Völkermord lehrt."

Unterschiede zwischen Islamfeindschaft und Antisemitismus

Dies macht deutlich, dass ein wissenschaftlicher Vergleich verschiedener Formen von Vorurteilen, Diskriminierungen und "gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit" (Wihelm Heitmeyer) grundsätzlich sinnvoll ist. Er fördert die Erkenntnis darüber, wie Gruppen von "Anderen" konstruiert werden und wie sich darin eigene kollektive Identität erst konstituiert. Das Wissen um die Prozesse, mit denen Gruppen systematisch diskriminiert, stigmatisiert, ausgegrenzt und ihrer Rechte beraubt werden können, hilft dabei, solche Entwicklungen frühzeitig erkennen und ihnen entgegen zu wirken.

Nun lassen sich solche Parallelen aber zwischen den verschiedensten Formen von Vorurteilstrukturen, pauschalisierenden Diskriminierungsprozessen und Rassismen ziehen. Und die Gefahr ist groß, dass die Besonderheiten der einzelnen historischen wie aktuellen Konstellationen und Ideologien nivelliert werden und zu einer großen Geschichte von Diskriminierung und Verfolgung verschwimmen. Ebenso wichtig wie das Aufzeigen von Parallelen sollte daher die Unterscheidung verschiedener spezifischer Diskriminierungsformen sein. Ich möchte daher im Folgenden auf zumindest vier Besonderheiten hinweisen, die den modernen Antisemitismus von der Islamfeindschaft deutlich unterscheiden.

1. Die Vernichtungsdrohung

Dem modernen Antisemitismus, dessen Anfänge im 19. Jahrhundert liegen, geht es nicht wie zuvor dem traditionellen, meist religiös begründeten Antisemitismus, um die Diskriminierung einer Religion bzw. ihrer Angehörigen. Vielmehr erfindet er in Form biologistischer und/oder nationalistischer Zuschreibung eine Rasse bzw. eine Nation. Diese ist aber keine herkömmliche Kategorie – so wie etwa Islam und Judentum Religionen unter anderen, Deutsche und Franzosen Nationen unter anderen wären. In rassistischen – auch den kulturalistisch begründeten - oder nationalistischen Konzepten können diese sich feindlich gegenüberstehen, bleiben aber dennoch Bestandteile des Ganzen.

Die Juden jedoch sind gegenüber solchen antagonistischen Kräften das "ganz andere", sie stellen als Gruppe die Ordnung der Welt insgesamt in Frage und sind daher umso gefährlicher. Sie sind das "Antivolk", die "Figur des Dritten" (Klaus Holz), die allen anderen Kollektiven feindlich gesonnen sind. Damit werden die Juden mitsamt den ihnen vorgeworfenen Verschwörungen zum teuflischen Feind der Menschheit insgesamt.

Vor diesem Hintergrund wohnt die Idee der Vernichtung, also die Auslöschung der Gruppe der Juden als Feinde der Menschheit, dem modernen Antisemitismus seit seiner Entstehung Ende des 19. Jahrhunderts inne. Eine solche Antifigur stellen die Muslime im Kontext von Islamfeindlichkeit sicher nicht dar. Der moderne Antisemitismus beruht auf Fantasien einer jüdischen Weltverschwörung gegen die Menschheit. Dagegen tauchen in der Islamfeindlichkeit/Islamophobie verschwörungstheoretische Ideologeme nur in Einzelfällen auf. Vielmehr beruht die Islamophobie auf solchen kulturalistischen Zuschreibungen, die für die "neuen" Formen des Rassismus typisch sind: Auf der Grundlage einer christlich-europäisch, sich aufgeklärt wähnenden "Leitkultur" werden Muslime und ihre Religion immer wieder pauschal und in kolonialistischer und rassistischer Manier als zurückgeblieben, unaufgeklärt und mitunter als terroristisch diskriminiert. Hier dominiert ein kulturalistisch-rassistisches Bild der Anderen. Eine auf Verschwörungsfantasien beruhende "eliminatorische Islamophobie" existiert aber nicht.

2. Unbehagen in der Moderne

Der moderne Antisemitismus ist vor allem ein Ausdruck von Krisenerscheinungen im Kontext gesellschaftlicher Modernisierungen. Es handelt sich um einen Ausdruck des Unbehagens und Aufbegehrens von Menschen, die sich im Zuge der Modernisierung diskriminiert oder zukurzgekommen wähnen. Sie suchen in der Folge Verantwortliche und Schuldige für gesellschaftliche Entwicklungen, welche sie persönlich irritieren und verunsichern. Als Phänomene von Modernisierungen zu nennen wären unter anderen eine zunehmende Individualisierung, Materialismus, Liberalismus, Aufhebung der Geschlechtertrennung und freiere Sexualität, neue Ausdrucksformen in Kultur und Medien. Im antisemitischen Weltbild sind es die Juden, die vermeintlich hinter den Kulissen solcher anonymen gesellschaftlichen Entwicklungen agieren und die Fäden ziehen. In personalisierter Form werden sie verantwortlich für Modernisierungsprozesse gemacht, die als krisenhaft und verunsichernd erfahren werden. Ihnen wird vorgeworfen, die gewohnte Ordnung der Gemeinschaft von innen zersetzen und zerstören zu wollen.

Der moderne Antisemitismus ist antimodern. Islamophobie bzw. die Islamfeindlichkeit beruft sich hingegen in der Regel explizit auf die Tradition der Moderne und gibt sich als anti-traditionalistisch: Es ist ja der Islam , dem vorgeworfen wird, eine vormoderne Religion zu sein und der notwendigen Aufklärung und Säkularisierung im Wege zu stehen. Muslime gelten den Islamfeinden meist als rückschrittlich und unzivilisiert. So steht vielfach die kulturalistisch vorgetragene Anklage im Mittelpunkt, dass Muslime Frauen unterdrücken, weil ihre Religion es ihnen vorschreiben würde. Auf diese Weise spielen sich die Akteure als Verteidiger der modernen, westlichen Zivilisation auf, die durch Islam und Muslime "überschwemmt" zu werden drohe. Damit formuliert die Islamfeindlichkeit eine ganz andere Art von Krisenempfinden innerhalb der "Mehrheitsgesellschaft" als der Antisemitismus.

3. Antisemitismus als Fiktion vom "Juden"

Der moderne Antisemitismus ist eine Weltanschauung, die auch ohne Juden "funktioniert": Unabhängig vom realem Verhalten von Juden beruht der Antisemitismus gänzlich auf der Fiktion von den Juden als Verschwörern. Das Menschen der Vorstellung anheim fallen, dass Juden die Welt beherrschen und sich dazu aller nur erdenklichen Methoden bedienen, sagt viel über das Denken dieser Menschen und die Verhältnisse, in denen sie leben; es sagt aber nichts über die Juden und ihr konkretes Verhalten. Das Denken über "den Juden" ist reine Projektion, es ist gewissermaßen schon vorher da – und findet sich im Einzelfall, etwa dem reichen Juden, lediglich bestätigt.

Anders im Fall von Islamfeindlichkeit/Islamophobie: Wie in allen Vorurteilsstrukturen wird zwar auch hier vom Einzelfall – etwa terroristischer Islamisten - pauschal auf die Militanz des Islam und der Gesamtheit der Muslime geschlossen. Und auch hier sagen Ängste, Verdächtigungen und Rassimus nichts über das tatsächliche Verhalten von Muslimen aus. Diese sind also ebenso wenig "schuld" am Rasissmus wie Juden "schuld" am Antisemitismus sind.

Dennoch liegen der Islamfeindlichkeit konkrete gesellschaftliche Probleme der Integration, des Terrorismus und andere Phänomene und Fragen zugrunde, die - anders als im Fall der gesellschaftlichen Ursachen des Antisemitismus - durchaus mit dem Islam und der Existenz von muslimischen Minderheiten zu tun haben.

Die "Islamophobie" ist damit keine bloße Projektion eines allgemeinen Krisenempfindens auf eine beliebige Minderheit. Daher muss über die real existierenden Probleme, welche sie anfeuern und über Optionen zur Begegnung dieser Probleme anders gesprochen werden als über den Antisemitismus.

4. Antisemitismus "von unten"

Der moderne Antisemitismus ist eine Ideologie, die sich – abgesehen von seiner rassistischen Variante, wie sie etwa im nationalsozialistischen Bild der Ostjuden als Untermenschen zum Ausdruck kommt - meist "von unten nach oben" artikuliert. Das heißt, dass sich Vertreter antisemitischer Anschauungen meist als ohnmächtige Opfer von übermächtigen Kräften inszenieren, wobei diese Kräfte in den Juden personifiziert werden. Diese besitzen demnach die Macht über das Kapital, die Medien, über Politik und Kultur. Vor diesem Hintergrund wollen Antisemiten sich und ihr Kollektiv aus den Fesseln der imaginierten jüdischen Vormacht und ihrer Verschwörungen befreien. Antisemitismus schöpft seine Legitimation aus dieser Ideologie der Befreiung und Rettung der eigenen Gemeinschaft und der ganzen Welt.

Rassismus und Islamfeindlichkeit hingegen argumentieren "von oben nach unten". Hier geht es vor allem darum, den eigenen ideellen und materiellen Besitzstand und die eigene Überlegenheit gegen eine vermeintliche Bedrohung von außen zu wahren und zu verteidigen. Dies wird am Beispiel mancher Internetforen deutlich, in denen Muslime von Kommentatoren etwa als arbeitsunwillig und kriminell beschimpft werden und die Fiktion einer "Vertürkung" Deutschlands beschworen wird. Dahinter steht die Vorstellung der Minderwertigkeit von Muslimen.

Während also im modernen Antisemitismus das Bild des reichen, intellektuellen, dekadenten und übermächtigen Juden eine zentrale Rolle spielt, wähnen sich die Vertreter islamfeindlicher Stereotypen den Muslimen in jeder Beziehung weit überlegen.

Unterschiede betonen

Noch einmal zusammengefasst: Die Juden sind – anders als die Muslime - im Antisemitismus die "ganz anderen", das Antivolk, woraus sich auch der Wunsch nach ihrer Vernichtung direkt ableitet. Vergleichbares gibt es gegenüber Muslimen nicht. Als Antwort auf gesellschaftliche Krisen ist der Antisemitismus antimodern, die "Islamophobie" hingegen gibt sich explizit anti-traditionalistisch. Dabei stellt die antisemitische Ideologie eine rein fiktive Übertragung allgemeiner gesellschaftlicher Krisenerscheinungen auf die Gruppe der Juden dar, während die Islamfeindlichkeit Muslime meist im Kontext gesellschaftlicher Probleme diskriminiert, die tatsächlich mit Muslimen zu tun haben. Und: Islamfeindlichkeit und Rassismus richten sich "von oben nach unten" – gehen also von Menschen aus, die sich selbst überlegen fühlen, während der Antisemitismus eine "Opferideologie" darstellt, die von Menschen ausgeht, die sich "befreien" wollen.

Wie schon betont, soll mit diesen kursorischen Anmerkungen nicht die Existenz rassistischer und islamfeindlicher Ressentiments und Diskriminierungen in Abrede gestellt und die Kritik daran diskreditiert werden. Vielmehr möchte ich darauf hinweisen, dass der Begriff "Islamophobie" nicht selten dazu verwendet wird, eine kritische Auseinandersetzung mit der Rolle der Religion und dem Verhalten und den Überzeugungen von Muslimen abzuwehren. Darüber hinaus kann der Vergleich von Antisemitismus und "Islamophobie" dazu dienen, einen Opferstatus von Muslimen in verzerrender Weise zu betonen. Vor diesem Hintergrund sollte zum einen der Begriff "Islamophobie" mit einem Fragezeichen versehen werden. Zum anderen sollten Vergleich und Analyse beider Vorurteilsstrukturen und Diskriminierungsformen stärker als bisher auch die Unterschiede von Islamfeindschaft und modernem Antisemitismus im Blick behalten. Diese Unterschiede sind meines Erachtens nicht nur zum Verständnis beider Phänomene unverzichtbar – sondern auch dann, wenn man ihnen politisch und pädagogisch begegnen möchte.

Fussnoten

Fußnoten

  1. So erklärten in einer Studie des Bielefelder Konfliktforschers Wilhelm Heitmeyer fast 40% der Befragten, sich "durch die vielen Muslime wie Fremde im eigenen Land" zu fühlen. Weit über 60% der Befragten halten die "muslimische Kultur" und deren Werte für unvereinbar mit der eigenen (Heitmeyer, Deutsche Zustände 2007). Weiteren repräsentativen Umfragen der Forschungsgruppe Heitmeyer über "Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit" zufolge vertreten etwa 27% der Befragten "konsistent islamophobe Positionen"(Leibold/Kühnel, Islamophobie. Differenzierung tut Not, in: W. Heitmeyer (Hrsg.): Deutsche Zustände. Folge 4, Frankfurt 2005, S. 135-155. S. u.a. auch: Heiner Bielefeld, Das Islambild in Deutschland – Zum öffentlichen Umgang mit der Angst vor dem Islam, Berlin 2007.

  2. Die bekanntesten dieser Websites dürften "Die Grüne Pest", "Akte Islam" und die Seite "Politically Incorrect" sein, die – nach eigenen Angaben - täglich bis zu 37.000 Besucher verzeichnet.

  3. So gab die EUMC 2002 einen Bericht unter dem Titel "Islamophobie in der EU nach dem 11.9.2001" heraus, dem weitere folgten.

  4. Hier die Definition des Runnymede Trusts auf der britischen Website Islamophobia-Watch: http://www.islamophobia-watch.com/islamophobia-a-definition/

  5. Hier die Kritik von Malik: http://www.prospectmagazine.co.uk/2005/02/islamophobiamyth/; und hier eine deutsche Übersetzung des "Manifest der 12": http://www.welt.de/print-welt/article201259/Manifest_der_12_Gemeinsam_gegen_den_neuen_Totalitarismus.html

  6. Bereits 1998 stellte der französische Soziologe Ètienne Balibar im Kontext der insgesamt zunehmenden Diskriminierung von Gruppen von Menschen aufgrund ihrer religiös- und/oder ethnisch-kulturellen Zugehörigkeit einen Vergleich mit der Judenfeindschaft an und bezeichnete die neuen Formen des Rassismus als "verallgemeinerten Antisemitismus". 2002 erklärte Balibar (22.6. 2002 in der FR), dass "Anti-Judaismus beziehungsweise der Judenhass" nicht mehr die einzige Form des Antisemitismus darstellten. Vielmehr sei der Judenhass "zum einen Teil eines Begriffspaares" geworden, dessen anderen Teil Balibar als den "Araberhass beziehungsweise die Islamfeindlichkeit" benannte (zit. nach Wolter in:iz3w Nr.284). Auch in einem EUMC-Bericht ging es 2003 gleichermaßen um "Fighting Anti-Semitism and Islamophobia" (EUMC 2003).

  7. Zum Salafismus s.u.a. auf bpb.de: http://www1.bpb.de/themen/DY4AIX,20,0,Glossar.html#art20

  8. Weil der Begriff "Islamophobie" mitunter instrumentalisiert wird, ziehe ich den Begriff der Islamfeindschaft vor, wie er auch vom ZfA verwendet wird. Allerdings hat sich der Begriff "Islamophobie" inzwischen auch im deutschen Kontext etabliert. So ist in den von Wilhelm Heitmeyer herausgegebenen Bänden "Deutsche Zustände" (s.o.) von "Islamophobie" die Rede; s.dazu: Leibold/Kühnel, Islamophobie oder Kritik am Islam?, in: W. Heitmeyer (Hrg.): Deutsche Zustände. Folge 6 (2008), S. 95-115

  9. Wolfgang Benz (Hrg.), Jahrbuch für Antisemitismusforschung.17, Berlin 2008, S.9ff. Gestützt wird dieser Ansatz etwa vom Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik (http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/thema/1114583/); vgl. zu Ähnlichkeiten antisemitischer Stereotypenbildung des 19. Jahrhunderts mit aktuellen Erscheinungsformen von Islamfeindschaft auch: Achim Bühl, Islamophobie und Antisemitismus, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, März 2010.

  10. Yasemin Shooman, Islamfeindschaft im World Wide Web, in: Benz, a.a.o., S. 69-96; Peter Widmann, Der Feund kommt aus dem Morgenland. Rechtspopulistische "Islamkritiker" um den Publizisten Hans-Peter Raddatz suchen die Opfergemeinschaft mit den Juden, in: Benz, a.a.O., S. 45-68.

  11. Zu den Parallelen zählt Benz "Verschwörungsfantasien ebenso wie vermeintliche Grundsätze und Gebote der Religion, die ins Treffen geführt werden." So würde "mit Stereotypen argumentiert, die aus der Antisemitismusforschung bekannt sind, etwa der Behauptung, die jüdische bzw. die islamische Religion sei bösartig inhuman und verlange von ihren Anhängern unmoralische oder aggressive Verhaltensweisen gegenüber Andersgläubigen"; Benz, Wolfgang (Hrg.), Islamfeindschaft und ihr Kontext: Dokumentation der Konferenz "Feindbild Muslim-Feindbild Jude", Berlin 2009, S. 9ff.

  12. Sehr klar hat dieses zentrale Momente des modernen Antisemitismus Klaus Holz herausgearbeitet: Holz, Nationaler Antisemitismus. Wissenssoziologie einer Weltanschauung, (2001). Vor allem auf dieses Unterscheidungsmerkmal zwischen Antisemitismus und Islamfeindschaft weist auch Michael Kiefer in seinem Beitrag zur Dokumentation der ZfA-Konferenz "Feindbild Muslim – Feindbild Jude" hin (a.a.O.).

  13. Vgl.dazu Shooman und Widmann (a.a.O.)

  14. ebd.; sowie in Benz (Hrg.) Islamfeindschaft.... (a.a.O.); s. auch: http://www.ufuq.de/newsblog/288-antimuslimischer-rassismus

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Dr. Jochen Müller ist Islamwissenschaftler, arbeitet als freier Publizist und ist Mitarbeiter und Mitbegründer des Berliner Vereins "ufuq.de - Medienforschung & politische Bildung in der Einwanderungsgesellschaft" (www.ufuq.de).