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Antisemitismus in Frankreich | Antisemitismus | bpb.de

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Antisemitismus in Frankreich

Nonna Mayer

/ 13 Minuten zu lesen

In Frankreich lebt mit rund einer halben Million die größte jüdische Gemeinschaft Europas. Seit einigen Jahren sind französische Juden mit einer wachsenden Zahl antisemitischer Attacken konfrontiert, Tausende sind mittlerweile nach Israel emigriert. Wie hat sich der Antisemitismus dort in den vergangenen Jahren entwickelt? Welche Formen sind besonders weit verbreitet?

Schändungen jüdischer Friedhöfe im Elsass: darunter, wie hier zu sehen, 37 Gräber, die im Dezember 2018 in Herrlisheim beschmiert wurden, ebenso wie 92 Gräber in Quatzenheim (Februar 2019) und 107 Gräber in Westhoffen (Dezember 2019). (© picture-alliance/AP, Jean-Francois Badias)

Mit knapp einer halben Million Menschen lebt in Frankreich die größte jüdische Bevölkerung Europas (Della Pergola 2016, 7). Gleichzeitig fühlen sich Jüdinnen und Juden im europäischen Vergleich nirgends so unsicher wie dort. Laut einer Umfrage unter europäischen Jüdinnen und Juden, die von der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA) in Auftrag gegeben wurde (2018), sind 77 Prozent der französischen Jüdinnen und Juden der Ansicht, der Antisemitismus habe in den vergangenen fünf Jahren "stark zugenommen" (zum Vergleich: der Durchschnitt lag bei der in zwölf Ländern durchgeführten Erhebung bei 63 Prozent). Und 60 Prozent der Befragten (im Vergleich zu 47 Prozent im Gesamtdurchschnitt) fürchten, im kommenden Jahr angegriffen oder beleidigt zu werden, weil sie jüdisch sind.

Im Zuge der Debatten um das Aufkommen eines "neuen " Antisemitismus oder einer Judeophobie, die sich hinter der Interner Link: Kritik an Israel und dem Zionismus verstecke (Taguieff, 2000), sieht darüber hinaus eine Mehrheit der Befragten im radikalen Islam die größte Bedrohung. Französische Juden, die in den vergangenen fünf Jahren Zielscheibe antisemitischer Angriffe geworden waren, beschrieben die Täter zu am häufigsten als "Muslim mit extremistischen Ansichten" (33 Prozent im Vergleich zu europaweit 30 Prozent).

Der Antisemitismus erreichte im Jahr 2018 einen neuen Höhepunkt, als die Zahl der von der französischen Polizei registrierten antisemitischen Vorfälle im Vergleich zum Vorjahr um 74 Prozent gestiegen war (2018: 541, 2017: 311). Dazu zählte auch der schockierende Mord an Mireille Knoll, einer 85-jährigen Jüdin und Holocaust-Überlebenden. Beim jährlich stattfindenden "Dîner du CRIF" (Conseil représentatif des institutions juives de France, deutsch: Repräsentativer Rat der Jüdischen Institutionen Frankreichs) im Februar 2019 sprach der französische Präsident Emmanuel Macron von einem "Wiedererstarken des Antisemitismus, wie es ihn vermutlich seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gegeben hat". Er fügte hinzu, dass Antizionismus "eine der modernen Formen des Antisemitismus" sei, zudem erstarke neben dem Interner Link: traditionellen Antisemitismus ein "Antisemitismus auf Grundlage des Interner Link: radikalen Islamismus".

Noch weiter ging ein "Manifest gegen den 'neuen Antisemitismus'" (Le nouvel antisémitisme en France, 2018), das von Philippe Val, dem ehemaligen Chefredakteur von Charlie Hebdo , initiiert worden war und von bekannten Persönlichkeiten unterzeichnet wurde, wie dem ehemaligen Präsidenten Nicolas Sarkozy, drei ehemaligen französischen Ministerpräsidenten, dem früheren Bürgermeister von Paris Bertrand Delanoë, Künstlern und Intellektuellen. Darin war von einer schleichenden "islamischen Radikalisierung" die Rede, die zu einer "stillschweigenden ethnischen Säuberung" in bestimmten Banlieue-Vierteln führe. Ermöglicht werde diese Entwicklung nicht nur durch den alten Antisemitismus der extremen Rechten, sondern auch durch die Komplizenschaft eines Teils der radikalen Linken, die im Antizionismus einen Vorwand gefunden habe und – indem sie diesen neuen Antisemitismus lediglich als Ausdruck einer sozialen Revolte betrachte – aus den Tätern Opfer der Gesellschaft mache. Schließlich herrsche auf politischer Ebene mit Blick auf etwaige Wahlen eine kalkulierte Nachlässigkeit, , da "die Wählerschaft der Muslime zehnmal so groß ist wie die der Juden". Allerdings ergibt ein genauerer Blick auf polizeilich erfasste Straftaten und Meinungsumfragen aus den vergangenen dreißig Jahren ein deutlich komplexeres Bild des Antisemitismus in Frankreich und seiner Wandlungen.

Der Anstieg antisemitischer Übergriffe

Trotz des Traumas durch den Holocaust ist antisemitische Gewalt nie vollständig verschwunden, trat aber fortan in Zyklen auf (Epstein, 1984). So erschütterten etwa in den 1980er-Jahren drei Terroranschläge die französische Hauptstadt: ein Bombenanschlag auf die Synagoge der Rue Copernic im Oktober 1980 (4 Tote, 46 Verletzte), die Ermordung des israelischen Diplomaten Yacov Barsimentov im April 1982 und der Anschlag auf das Restaurant "Goldenberg" in der Rue des Rosiers im August 1982 (6 Tote, 22 Verletzte). In den 1990er-Jahren lag die antijüdische Gewalt auf einem relativ niedrigen Niveau, es gab zwei kleinere Anstiege nach der Schändung des jüdischen Teils eines Friedhofs im südfranzösischen Carpentras (1990) und dem Interner Link: Zweiten Golfkrieg (1990-1991) und nur jeweils einen gemeldeten Vorfall in den Jahren 1996 und 1998.

Der Wendepunkt war die Interner Link: Zweite Intifada im Herbst 2000 (Abbildung 1). Die Zahl der antisemitischen Übergriffe stieg rasant an und lag bei 723 im selben Jahr. Seitdem sind immer wieder nach Vorfällen im israelisch-palästinensischen Konflikt deutliche Ausschläge antisemitischer Gewalt zu beobachten: Genannt seien hier die militärische Operation Schutzschild 2002 der israelischen Armee im Westjordanland; die Operation Regenbogen 2004 im Gazastreifen; die gezielte Tötung von Hamas-Gründer Scheich Ahmad Yasin im selben Jahr; die Operation Gegossenes Blei im Gazastreifen Ende 2008 bis Anfang 2009 im Zuge der Bekämpfung der Interner Link: islamistischen Hamas; die Operation Protective Edge 2014, als Reaktion auf Raketenangriffe durch die Hamas und andere militante palästinensische Gruppen aus dem Gazastreifen; der sogenannte Marsch der Rückkehr 2018, einem Protest tausender Palästinenser in Gaza an der Grenze zu Israel; oder die "Drachen-Intifada", benannt nach mit Brand- oder Sprengsätzen versehenen Drachen und gasgefüllten Ballons, die militante Palästinenser über die Grenze fliegen ließen. Solche Vorfälle mit vielen zivilen Opfern erzeugen eine breite Berichterstattung. Damit fungieren sie als emotionaler Trigger bei jenen, die sich mit den Palästinensern identifizieren und ihre Wut gegen "die" Juden richten, von denen sie automatisch annehmen, sie würden Israel und den Zionismus unterstützen.

Entwicklung rassistischer und antisemitischer Angriffe in Frankreich 1992 – 2019 (Interner Link: Grafik zum Download) (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/

Doch neben dem "neuen" Antisemitismus im Zusammenhang mit dem Nahostkonflikt besteht der alte Antisemitismus weiter, der nationalsozialistische Propaganda und Symbole wiederaufbereitet. Im Februar 2019 wurden in Paris Dutzende antisemitische Schmierereien entdeckt, darunter "Die jüdische Verkommenheit breitet sich aus". Auf mehrere Schaufenster der Restaurantkette Bagelstein wurde das deutsche Wort "Juden" geschmiert, auf andere Hakenkreuze auf Bilder der wenige Jahre zuvor verstorbenen Politikerin und Holocaust-Überlebenden Simone Veil gesprüht. Zudem sind rechte Neonazigruppen die Hauptverdächtigen im Fall der Schändungen jüdischer Friedhöfe im Elsass: 37 Gräber, die im Dezember 2018 in Herrlisheim beschmiert wurden, 92 Gräber in Quatzenheim (Februar 2019) und 107 Gräber in Westhoffen (Dezember 2019).

Die Kombination dieser beiden Formen des Antisemitismus erklärt die massive Zunahme antisemitischer Vorfälle seit dem Jahr 2000. Obwohl sie ideologisch gegensätzliche Positionen vertreten, machten die Vertreter beider Ausprägungen in mehreren Fällen gemeinsame Sache. So kam es etwa im Januar 2014 zu antisemitischen Vorfällen, nachdem die Auftritte des umstrittenen Komikers Dieudonné M'bala M'bala aufgrund der antisemitischen Inhalte seines Programms abgesagt worden waren. Bei einem Protest gegen die Regierung in Paris unter den Namen "Jour de colère" ("Tag des Zorns"), versammelte sich eine eklektische Mischung aus der bretonischen Bewegung "Bonnets Rouges", die gegen eine Ökosteuer für den Schwerlastverkehr protestierten, Gegnern der gleichgeschlechtlichen Ehe, Anhängern Dieudonnés und Aktivisten der extremen Rechten. Antisemitische und den Holocaust verleugnende Parolen wurden gebrüllt, dazu wurden der Hitlergruß und der "Quenelle" gezeigt, ein von Dieudonné erfundener Gruß mit starken antisemitischen Anklängen.

Zu ähnlichen Zusammenschlüssen kam es bei den Interner Link: Gelbwestenprotesten. Die Bewegung ist sehr heterogen und nicht antisemitisch an sich. Sie lässt sie sich aber leicht von Extremisten infiltrieren und manipulieren, da es ihr an klaren Strukturen bzw. Führungsstrukturen fehlt, aber auch aufgrund ihrer Durchlässigkeit gegenüber den sozialen Medien. Ihre populistische, gegen Eliten gerichtete Rhetorik erleichtert die Wiederaufbereitung alter Stereotype, die Juden mit Geld und Macht assoziieren, in dieser Weltsicht bestätigt durch die Tatsache, dass Emmanuel Macron früher für die Rothschild-Bank arbeitete. Macron ist regelmäßig Zielscheibe von Karikaturen und Plakaten, die an antisemitische Propaganda aus den 1930er-Jahren erinnern und ihn mit Hakennase, Hut und Zigarre zeigen und seine Frau als "Judenhure" verunglimpfen. Doch bei den Gelbwestendemonstrationen ertönen auch viele Parolen des "neuen" Antisemitismus. So wurde etwa der Philosoph Alain Finkielkraut bei einer Kundgebung als "beschissener Zionist" beschimpft und mit Zwischenrufen unterbrochen – darunter "Frankreich gehört uns" oder "Geh doch zurück nach Tel Aviv" (16. Februar 2019). Bereits nach der ersten großen Demonstration der Gelbwesten am 17. November 2018 wurde ein leichter Anstieg antisemitischer Vorfälle verzeichnet.

Man sollte jedoch nicht vergessen, dass antisemitische Vorfälle ganz unterschiedlicher Natur polizeilich dokumentiert wurden. Zu den tödlichsten zählen Terroranschläge, die im Namen Allahs und des Dschihad verübt werden und ideologisch motiviert sind. Bei einem Anschlag auf die Ozar-Hatorah-Schule in Toulouse tötete Mohamed Mérah im Jahr 2012 drei jüdische Kinder und ihren Lehrer; Amedy Coulibaly nahm 2015 im koscheren Supermarkt Hyper Cacher an der Porte de Vincennes in Paris mehrere Kunden als Geiseln und tötete vier Personen. Diese Gewalt richtet sich dabei nicht nur gegen Juden, sondern gegen die gesamte westliche Welt und ihren Lebensstil. In den Jahren 2012 bis 2019 wurden bei 18 islamistischen Terrorattacken in Frankreich 263 Personen getötet. Neben diesen Anschlägen wurden auch "gewöhnliche" Straftaten (Diebstahl, Raub, Tötungsdelikte) als antisemitisch motiviert eingeordnet. 2006 wurde ein junger Jude namens Ilan Halimi von einer Bande, die sich "die Barbaren" nannte, entführt und zu Tode gequält, weil "Juden Geld haben". Dieses Stereotyp war auch das Motiv bei mehreren Raubüberfällen in jüngerer Zeit, bei denen es die Täter auf jüdische Familien in Pariser Vororten (Créteil, Livry-Gargan) abgesehen hatten. Ebenfalls zu den antisemitischen Zwischenfällen zählen die von der Polizei als "Drohungen" bezeichneten Delikte (wörtliche oder schriftliche Beleidigungen, Graffiti, Drohgesten) im Gegensatz zu "Handlungen" (Sachbeschädigung und Körperverletzung). In jedem Jahr stellen die Drohungen den Großteil der verzeichneten Delikte, zwei Drittel bei den 541 Vorfällen im Jahr 2018 und 78 Prozent bei den 687 Vorfällen im Jahr 2019. Anders ausgedrückt: Beim Großteil der antisemitischen Taten in der Statistik handelt es sich nicht um Hassverbrechen, sondern um tagtägliche Anfeindungen, die zwar weniger gravierend sind, aber dennoch das Leben der Betroffenen belasten und ihr Gefühl der Unsicherheit verstärken.

Der Rückgang der antisemitischen Vorurteile

Die polizeiliche Statistik bildet jedoch nur einen Teil der Situation ab. Die Frage, wie die Öffentlichkeit auf diese Aggressionen reagiert und – allgemeiner gesprochen – wie groß Vorurteile gegenüber Jüdinnen und Juden in Frankreich sind, ist von grundlegender Bedeutung. Es gibt Auskunft über die gesellschaftlichen Normen und darüber, was als erlaubt und verboten gilt.

Dank einer jährlichen Umfrage über Rassismus, die im Auftrag der CNCDH ("Commission nationale consultative des droits de l'homme", deutsch: Beratende Kommission für Menschenrechte) durchgeführt wird, lässt sich die Entwicklung der Vorurteile gegenüber Jüdinnen und Juden in Frankreich im Verlauf der vergangenen dreißig Jahre verfolgen (CNCDH, 2019) und mit anderen diskriminierten Gruppen vergleichen. Paradoxerweise geht daraus hervor, dass antisemitische Haltungen im Gegensatz zu den dokumentierten Handlungen rückläufig sind. Das Bild der französischen Jüdinnen und Juden hat sich seit dem Zweiten Weltkrieg positiv entwickelt, die eklatantesten Vorurteile haben sich abgeschwächt. 1946 sahen 54 Prozent der vom Meinungsforschungsinstitut IFOP befragten Franzosen in Juden immer noch "in erster Linie eine Rasse". Zum Vergleich: 2019 glaubten nur 6 Prozent, dass einige Rassen anderen überlegen seien. 1946 betrachtete weniger als ein Drittel der Befragten französische Juden "als so französisch wie alle anderen Franzosen", heute sind es 90 Prozent. 1966, ein Jahr nach dem Ende des Zweiten Vatikanischen Konzils, bei dem der Vorwurf des Gottesmordes zurückgenommen wurde – Juden also nicht mehr für den Tod Jesu als Gottessohn verantwortlich gemacht wurden –, waren 27 Prozent der Franzosen noch nicht der Ansicht, dass "Juden nicht schuld sind am Tod Christi" (Bensimon, Verdès-Leroux, 1970, 82), ihr Anteil an der Bevölkerung ist heute statistisch kaum noch relevant. Im Jahr 2000 gaben bei der CNCDH-Erhebung 52 Prozent der Befragten an, eine Person öffentlich "dreckiger Jude" zu nennen, solle strafrechtlich geahndet werden; heute sind es 86 Prozent. Auch die Leugnung des Holocaust geht kontinuierlich zurück. In den vergangenen zehn Jahren stabilisierte sich der durchschnittliche Anteil derjenigen, die der Meinung sind, man rede zu viel über die Vernichtung der Juden im Zweiten Weltkrieg, bei etwa 17 Prozent. Ein wachsender Anteil vertritt die Ansicht, es werde nicht genug darüber gesprochen (25 Prozent, 2019).

Toleranzindex nach Minderheit (Interner Link: Grafik zuum Download) (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/

Verglichen mit anderen Minderheiten ist das Image der Juden bei weitem das positivste. 2019 lag der Anteil derjenigen, die Juden als "so französisch wie alle anderen Franzosen" einstufen, um 10 Prozentpunkte höher als die Einschätzung für Muslime und fast 27 Prozent höher als die Einordnung der Roma. Die jüdische Religion hatte bei 23 Prozent der Befragten ein negatives Image, beim muslimischen Glauben sind es 36 Prozent. Juden wurden von 23,5 Prozent der Befragten als "separierte Gruppe" eingestuft, Muslime von 34,5 Prozent und Roma von 68 Prozent. Der sogenannte Toleranzindex (Longitudinal Tolerance Index, LTI) gibt diese Einschätzungen wieder. Dafür wurden 69 Fragen zu Minderheiten zusammengeführt, die bei der CNCDH-Umfrage seit 1990 mindestens dreimal gestellt wurden (Stimson, Tiberi und Thiébaut, 2010). Die Werte liegen zwischen null, wenn bei sämtlichen Fragerunden keine tolerante Antwort gegeben wurde, und 100, wenn alle Antworten tolerant ausfielen. Toleranz hat Höhen und Tiefen, doch der globale Index ist stetig gestiegen, von 43 im Jahr 1991 auf 66 im Jahr 2019, was mit dem Generationswechsel und dem wachsenden Grad an Bildung und Informationen zusammenhängt. Dieser Trend ist auch bei den fünf betrachteten Minderheiten der Juden, Muslime, Nordafrikanern, Schwarzen Menschen und Roma zu beobachten (Abbildung 2).

Die Entwicklung des jüdischen Toleranzindex‘ ist jedoch bemerkenswert. Zu Beginn der Erhebungen, im Jahr 1990, wurden Schwarze Menschen weit mehr akzeptiert, ihr Toleranzwert lag 20 Punkte über dem der Juden. Zwischen 1997 und 2005 ging ihr Wert nach unten, während die Werte für die jüdische Minderheit ab dem Jahr 2000 deutlich stiegen. Gegen Ende des Zeitraums waren Juden zusammen mit Schwarzen Menschen die Minderheit mit der höchsten Akzeptanz mit einem Wert von 79 Punkten im Vergleich zu 72 für Araber/Nordafrikaner, 60 für Muslime und 35 für Roma – einem Wert, der so niedrig ist, dass er in der Darstellung nicht verzeichnet ist. Die wichtigste Schlussfolgerung daraus lautet, dass der massive Anstieg antisemitischer Handlungen im Gefolge der Zweiten Intifada (Abbildung 1) in der öffentlichen Meinung einen gegenteiligen Effekt hatte: Man empfand Mitgefühl mit den Opfern, zudem wuchs die Bereitschaft, den Antisemitismus "energisch zu bekämpfen" (72 Prozent 2019).

Nichtsdestotrotz halten sich zwei uralte Stereotype. Beim ersten werden Juden mit Geld in Verbindung gebracht ("Juden haben ein besonderes Verhältnis zu Geld“), ein Ruf, der bis ins Mittelalter zurückreicht, als Christen der Verleih von Geld verboten war. Das andere, noch immer verbreitete Stereotyp ist die Vorstellung, Juden würden über außerordentliche Macht und großen Einfluss verfügen ("Juden haben heute in Frankreich zu viel Macht"); dies erinnert an die Interner Link: Protokolle der Weisen von Zion, ein Anfang des 20. Jahrhunderts gefälschtes Dokument, mithilfe dessen bis heute der Mythos einer jüdischen Verschwörung verbreitet wird (Cohn, 1966). Die Zustimmung zu diesen Stereotypen steigt jedes Mal, wenn angenommen wird, Juden würden privilegiert und man würde zu ihren Gunsten mit zweierlei Maß messen; danach sinkt sie wieder. Während des Erhebungszeitraums lag der durchschnittliche Anteil der Befragten, die glauben, dass Juden übermäßige Macht hätten, bei etwa 20 Prozent. In den Jahren 1999 und 2000, als jüdische Opfer des Zweiten Weltkriegs finanzielle Entschädigungen erhielten, war dieser Anteil fast doppelt so hoch. Der Wert stieg erneut im Januar 2014, als die antisemitischen Auftritte des Komikers Dieudonné verboten wurden, und noch einmal im Juli desselben Jahres, als die propalästinensischen Demonstrationen gegen die militärische Intervention Israels im Gazastreifen (Operation Protective Edge) nicht stattfinden durften. Im selben Jahr erreichte die Unterstützung für das Geld-Stereotyp einen Rekordwert von 62,5 Prozent; 2018 sank sie wieder auf 38 Prozent und 2019 auf 34 Prozent. Der "alte" Antisemitismus ist also bei weitem nicht verschwunden.

Alter und "neuer" Antisemitismus

Zwei Fragen der Erhebung untersuchen den Anstieg eines "neuen" Antisemitismus, der von der Kritik an Israel und am Zionismus sowie der Verteidigung der palästinensischen Rechte geprägt ist. Die Befragten sollen angeben, ob sie mit Israel etwas Positives oder etwas Negatives in Verbindung bringen oder weder Positives noch Negatives. Bei einer weiteren Frage sollen die Teilnehmer sagen, wer ihrer Meinung nach für die Fortführung des israelisch-palästinensischen Konflikts verantwortlich sei: die Israelis, die Palästinenser oder beide gleichermaßen. Seit dem Interner Link: Sechstagekrieg 1967 hat sich das Bild Israels in der französischen Öffentlichkeit erheblich verschlechtert (IFOP Collectors, 2014), systematisch werden mehr negative als positive Gefühle mit dem Staat Israel verbunden (2019 waren es 34 Prozent im Verhältnis zu 24 Prozent). Darüber hinaus macht ein deutlich höherer Anteil der Befragten Israel für den Konflikt verantwortlich (19 Prozent im Vergleich zu 3 Prozent, die den Palästinensern die Schuld geben). Bemerkenswert ist hier jedoch vor allem die Weigerung der Befragten, Stellung zu beziehen. 42 Prozent beantworteten die Frage nach dem Ansehen Israels nicht oder wählten die Angabe "weder positiv noch negativ". Weiterhin wollten 78 Prozent die Frage nach der Fortsetzung des Konflikts nicht beantworten oder machten beide Seiten für den nicht endenden Konflikt verantwortlich.

Die Nahostpolitik mag emotional aufgeladen sein und regelmäßig antisemitische Handlungen auslösen, doch in der breiten Öffentlichkeit ist der "neue Antisemitismus" nur eine Randerscheinung. Eine statistische Methode, die nach Mustern und Korrelationen zwischen den Antworten sucht – die Hauptkomponentenanalyse –, bestätigt diese Erkenntnis. Dabei werden drei verschiedene Faktoren oder Dimensionen antisemitischer Vorurteile identifiziert. Der erste Faktor ist der "alte Antisemitismus", geprägt von den üblichen Stereotypen, vor allem der angeblichen Macht der Juden, ihrem Verhältnis zu Geld, ihrem "Interner Link: Kommunitarismus", ihrer "doppelten Loyalität" gegenüber Frankreich und Israel und dem Gefühl, dass sie keine "richtigen" Franzosen seien. Der zweite Faktor ist der "Antijudaismus", der auf einer negativen Vorstellung von der jüdischen Religion und dem jüdischen Staat basiert. Der dritte Faktor ist der "Antiisraelismus", geprägt von einer kritischen Haltung gegenüber Israel, in diesem Sinne also ähnlich wie der "neue" Antisemitismus, aber mit zwei wesentlichen Unterschieden: Zum einen korreliert der dritte Faktor negativ mit den Stereotypen des alten Antisemitismus (erster Faktor) – denn man kann durchaus kritisch gegenüber Israel und seiner Politik sein, ohne gleichzeitig Vorurteile gegenüber Juden zu haben; zum anderen bildet der alte Antisemitismus das Rückgrat gegenwärtiger antijüdischer Vorurteile, der Anitisraelismus und der Antijudaismus sind hierbei eher sekundäre Faktoren (Mayer, Michelat, Tiberi und Vitale 2020, 82). Und zu guter Letzt ist dieser "alte" Antisemitismus häufiger bei rechts- und sehr weit rechtsgerichteten Befragten zu finden, die nicht nur gegenüber Juden, sondern auch anderen Minderheiten gegenüber intolerant sind. Umgekehrt tritt der "Antiisraelismus" häufiger bei jüngeren Befragten auf, die über einen höheren Bildungsgrad verfügen, der Linken und radikalen Linken näher stehen und bei allen Messungen zu Vorurteilen niedrige Werte aufweisen, Antisemitismus eingeschlossen.

Was den spezifisch "muslimischen" Antisemitismus betrifft, lässt sich dieser nur schwer in einer Standarderhebung ermitteln, insofern als Muslime nur etwa 6 Prozent der Befragten ausmachen. Eine der wenigen Studien, die auf einer großen repräsentativen Auswahl französischer Bürger nordafrikanischer, schwarzafrikanischer und türkischer Herkunft basiert, von denen 62 Prozent Muslime waren (Brouard und Tiberi, 2015), zeigt eine kritischere Haltung gegenüber Israel und eine stärkere Neigung, antisemitischen Stereotypen beizupflichten. So glaubten beispielsweise 39 Prozent (im Vergleich zu 19 Prozent bei einer Umfrage, die die französische Bevölkerung im Ganzen repräsentiert), dass Juden zu viel Macht in Frankreich hätten, vor allem die Befragten, die besonders religiös waren und eine konservative Haltung zum Islam hatten. Allerdings lehnte die Mehrheit der muslimischen Befragten dieses Stereotyp ab. Und auch wenn in den Erhebungen der CNCDH (unter Berücksichtigung soziodemographischer und politischer Variablen) die Zugehörigkeit zum Islam die Wahrscheinlichkeit erhöht, antisemitische Meinungen zu vertreten, so bleibt der Einfluss des Islam weit hinter einer rechtsgerichteten politischen Orientierung und einem niedrigen Bildungsstand als Faktoren zurück. Die breite Masse der Antisemiten im heutigen Frankreich besteht nicht aus Muslimen. Der "neue" Antisemitismus, der Israel und den Zionismus dämonisiert, ist gegenwärtig zwar der Hauptbeweggrund für antijüdische Ausschreitungen, doch die breite Öffentlichkeit verhält sich gleichgültig gegenüber dem Nahostkonflikt. Hier dominiert der "alte" Antisemitismus, der den angeblichen Einfluss und Reichtum der Juden wiederaufbereitet.

Quellen / Literatur

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Bensimon, Doris/Jeanine Verdès-Leroux 1970 : Les Français et le problème juif. Analyse secondaire d'un sondage de l'I.F.O.P, in : Archives de Sciences Sociales des religions, 29, 53-91.

Brouard, Sylvain/ Vincent Tiberj 2011: As French As Everyone Else?: A Survey of French Citizens of Maghrebin, African, and Turkish Origin, Philadelphia, Temple University Press.

CNCDH 2019: Report on the fight against racism, anti-Semitism and xenophobia. Les Essentiels, Paris, La documentation Française (Externer Link: https://www.cncdh.fr/sites/default/files/essentiels_rapport_racisme_2019_format_a4_anglais.pdf).

CNCDH 2019 : Rapport sur la lutte contre le racisme, l’antisémitisme et la xénophobie. Année 2019, Paris, La documentation Française (Externer Link: https://www.cncdh.fr/fr/publications/rapport-2019-sur-la-lutte-contre-le-racisme-lantisemitisme-et-la-xenophobie).

Cohn, Norman 1967: Warrant for Genocide: The Myth of the Jewish World Conspiracy And the Protocols of the Elders Of Zion, London, Eyre & Spottiswoode, 1967.

Della Pergola, Sergio 2016 : World Jewish Population 2016 in: Arnold Dashefsky and Ira M.

Sheskin. (Editors) The American Jewish Year Book, 2016, 116 (Dordrecht: Springer), 253-332.

Epstein, Simon 1984: L'Antisémitisme français aujourd'hui et demain, Paris, Belfond.

FRA (EU Fundamental Rights Agency) 2018: Experiences and perceptions of antisemitism - Second survey on discrimination and hate crime against Jews in the EU (Externer Link: https://fra.europa.eu/en/publication/2018/experiences-and-perceptions-antisemitism-second-survey-discrimination-and-hate).

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Mayer, Nonna/ Elodie Druez 2018: Antisemitism and Immigration in Western Europe today. Is there a connection? The case of France", Report for EVZ Stiftung (Externer Link: https://www.pearsinstitute.bbk.ac.uk/wp-content/uploads/2020/09/BBKJ5998-FRENCH-COUNTRY-REPORT-180420.pdf).

Mayer, Nonna/Guy Michelat/Vincent Tiberj/Tommaso Vitale 2020: Le regard des chercheurs, in: CNCDH, Rapport sur la lutte contre le racisme, l’antisémitisme et la xénophobie. Année 2019, Paris, La documentation Française, 33-121.

Mayer, Nonna/Vincent Tiberj 2020 (forthcoming): Racial prejudice in multicultural France, Developments in French Politics 6, in: Helen Drake/Alistair Cole/Sophie Meunier/Vincent Tiberj (Hg), London, Red Globe Press.

Stimson, James /Vincent Tiberj/Cyrille Thiébaut 2010 : Au service de l'analyse dynamique des opinions: Application aux évolutions de la xénophobie en France (1990-2009) in : Revue française de science politique, 60(5), 901-926.

Taguieff, Pierre-André 2004: Rising from the Muck: The New Anti-Semitism in Europe, Chicago, Ivan R.Dee.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Anfang 2015 stürmten in Paris zwei bewaffnete Angreifer die Räume der Satirezeitschrift Charlie Hebdo. Unter dem Vorwurf der Veröffentlichung islamfeindlicher Karikaturen erschossen sie elf Personen und auf der Flucht einen Polizisten.

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Nonna Mayer, emeritierte Forschungsleiterin des "Centre national de la recherche scientifique", arbeitet derzeit am "Centre d'etudes europeennes et de politique comparee de Sciences Po". Sie ist Mitherausgeberin des jährlich erscheinenden Reports der "Commission nationale consultative des droits de I'homme" (CNCDH) zum Thema Rassismus und Antisemitismus.