Der Tunnelblick im Kopf
Psychologische Faktoren in extremistischer und terroristischer Radikalisierung
Was bringt Menschen dazu, wegen ihrer Ideologie andere Menschen abzuwerten, zu entmenschlichen – und schlimmstenfalls zu ermorden? Welche psychologischen Mechanismen führen zu Radikalisierung und Gewalt?
Sobald nach einem Terroranschlag Details zu dem oder den Täter(n) bekannt werden, ist deren Hintergrund und Biografie ein fester Bestandteil vieler Medienbeiträge – und oft wird es für besonders berichtenswert gehalten, wenn es eigentlich nichts Berichtenswertes gibt: "Er war ein ganz normaler Junge"[1] oder "Wir haben übers Leben geredet, darüber wie die Dinge so laufen. Das waren normale Kids"[2]. Diese Sätze sind prototypisch für die Ratlosigkeit, mit der wir der Frage gegenüberstehen, was aus 'normalen' Menschen brutale Gewalttäter werden lässt, die im Namen einer Ideologie morden.
Für diesen Weg von der Unauffälligkeit hin zu politisch motivierter Gewaltbereitschaft hat sich der Ausdruck 'Radikalisierung' etabliert. Als der Begriff Mitte der 2000er Jahre an Popularität gewann, wurden darunter alle Hypothesen zu Grundursachen, Einflussfaktoren und Auslösern von Terrorismus subsumiert – "all das was passiert, bevor die Bombe hochgeht", wie der renommierte Radikalisierungsforscher Peter Neumann bewusst rekursiv formulierte.[3] Die Forschung zur Radikalisierung gestaltet sich schwierig, da man sich nicht mal ganz einig darüber ist, was genau man denn eigentlich erforscht.[4]
Wenn man sich dem Thema dennoch widmet, wird schnell klar, dass bei Radikalisierung verschiedene Ebenen ineinandergreifen:
- die Umstände, wie z.B. globale und regionale Konflikte, Ungleichheit und Streben nach politischer Veränderung – die sogenannte Makro-Ebene;
- das Umfeld, also bestimmte Milieus, soziale Bewegungen oder Gruppen – genannt Meso-Ebene; und
- das Individuum mit seinen Eigenschaften, Motivationen und Veränderungen – die Mikro-Ebene.
Mikro-Ebene
1. PsychopathologieEine veraltete Erklärung, die die Ursache für Radikalisierung alleine beim Individuum verortet, ist der psychopathologische Ansatz – also die Vermutung, Terroristen seien schwer geistes- oder persönlichkeitsgestört. Während dieser Ansatz als alleinige Erklärung gründlich widerlegt ist[5], können psychische Auffälligkeiten (z.B. Alkohol- und Drogensucht, Angststörungen, Depressionen, bipolare Störungen usw.) durchaus eine Rolle spielen. Hier unterscheiden sich Terroristen stark voneinander: Corner, Gill und Mason haben herausgefunden, dass Täter, die in Gruppen oder Zweierteams operieren, psychisch gesünder sind als der Bevölkerungsdurchschnitt, während selbstradikalisierte Einzeltäter überdurchschnittlich oft an psychischen Störungen leiden – womit sie unpolitischen Amokläufern mehr ähneln als ihren gruppenbasierten Gesinnungsgenossen.[6]
2. Nicht-pathologische Persönlichkeitseigenschaften
Auch der Blick auf nicht-pathologische Persönlichkeitseigenschaften offenbart nur mittelbare Zusammenhänge. Bei einer Linguistik-basierten Analyse der 'Big Five'-Persönlichkeitsdimensionen (Offenheit, Gewissenhaftigkeit, Extraversion, Verträglichkeit und Neurotizismus) unterschieden sich Extremisten zwar von einer zufälligen Kontrollgruppe, aber nicht von moderaten Anhängern ihrer jeweiligen Ideologie.[7] Damit scheint dieser Maßstab zur Erklärung von Radikalisierung wenig hilfreich.
Mehr Erklärungspotenzial wird in sozialer Dominanzorientierung (SDO) und Autoritarismus gesehen. Erstere bezeichnet die Einstellung zu der Frage, ob das Verhältnis von Gruppen zueinander egalitär oder hierarchisch sein soll; letzteres bezeichnet die Einstellung zu Autoritäten und die Bereitschaft, gegen sanktionierte Gegner vorzugehen. SDO und Autoritarismus stehen nicht direkt mit Radikalisierung in Verbindung, wohl aber mit Vorurteilsbildung[8] – und Vorurteile können zu Entmenschlichung eskalieren, die ein wesentlicher Bestandteil von Radikalisierung ist.
3. Identität und Identitätsbildung
Ein weiterer wichtiger Faktor sind Identität und Identitätsbildung. Identität kann als die Antwort auf vier Fragen verstanden werden:
- "Wer und wie bin ich?" (Selbsterfahrung);
- "Zu wem gehöre ich?" (Zugehörigkeit);
- "(Wie) kann ich selbst über mein Leben bestimmen?" (Selbstbestimmung); und
- "(Warum) bin ich ein guter Mensch?" (Selbstwert).
Einige Theorien stellen einen Zusammenhang zwischen Radikalisierung und einem bestimmten Aspekt der individuellen Psyche her:
- Arie Kruglanski stellt das Streben nach Bedeutung und Anerkennung ins Zentrum seiner 'Significance Quest'-Theorie – Anerkennung seitens eines charismatischen Anführers, einer radikalen Gruppe oder der Gesamtgesellschaft (auch als negative Anerkennung, z.B. in Form von Angst, wenn man der Gesellschaft feindlich gegenübersteht). Ausgelöst werden kann dieses übersteigerte Bedürfnis nach Selbstwert z.B. durch ein Gefühl der Erniedrigung.[11]
- Auch die 'Humiliation-Revenge'-Theorie sieht (gefühlte) Erniedrigung als Auslöser von Radikalisierung. Die Folge ist ein Rachedurst, der sich in Gewalt niederschlagen kann, besonders wenn das sozio-kulturelle Umfeld diese Reaktion begünstigt.[12]
Meso-Ebene
Spätestens hier verlassen wir aber die Ebene, auf der es nur um das Individuum geht. Stattdessen steht jetzt die Beziehung des Individuums zu seinem Umfeld im Fokus. Tatsächlich lassen sich diese Ebenen kaum trennen – schon grundlegendste Identitätsfaktoren wie Zugehörigkeit (siehe oben) stellen das Individuum in einen sozialen Kontext. Die bestimmende Einheit auf der Meso-Ebene ist die Gruppe; hier schauen wir aber primär darauf, wie Gruppenzugehörigkeit auf ein Individuum wirken kann.Gruppenzugehörigkeit wirkt sich sehr auf das individuelle Selbstwertgefühl aus – je besser die eigene Gruppe, desto selbstwertdienlicher ist sie. Deswegen haben Menschen die Tendenz, andere Gruppen (die 'Out-Group') ab- und die eigene Gruppe (die 'In-Group') aufzuwerten.[13] Dies passiert z.B. über Stereotype, sprich verallgemeinernde Vorstellungen über Andere auf Basis ihrer Gruppenzugehörigkeit. So hat man z.B. die Tendenz, den Mitgliedern der eigenen In-Group mehr 'soziale Emotionen' zuzuschreiben als denen der Out-Group (soziale Emotionen wie Scham, Schuld und Stolz gelten als nur dem Menschen eigen).[14] Außerdem wird die In-Group als divers, die Out-Group aber tendenziell als einförmig und typisch für die entsprechenden Stereotype eingeschätzt ('Outgroup Homogenity Effect').[15] Die eigene Gruppe kommt einem also unwillkürlich 'menschlicher' vor als Außenstehende.
Ins Extrem gesteigert kann dieser Effekt dazu führen, dass Out-Groups ihre Menschlichkeit abgesprochen wird ('Entmenschlichung') – Menschengruppen mit Tierarten zu vergleichen ist ein deutliches rhetorisches Warnzeichen dafür.[16] Entmenschlichung kann Individuen dazu bringen, ihre Tötungshemmung zu überwinden und unterschiedslose Gewalt gegen bestimmte Gruppen zu verüben, oder solche Gewalt zumindest gutzuheißen ('Moral Disengagement'[17]).
Wonach entscheidet sich, ob dieser Effekt zu einer gefährlichen Entmenschlichung führt oder eine Verzerrung bleibt? Weiter oben war bereits von den Vorteilen einer breit aufgestellten Identität die Rede, die mehrere Rollen umfasst. Diese Rollen beinhalten oft auch eine Gruppenzugehörigkeit, z.B. Kollegenkreis, Familie, Ortspartei oder Sportmannschaft. Wenn man es gewohnt ist, erfolgreich zwischen verschiedenen Gruppen mit verschiedenen Normen und Erwartungshaltungen zu manövrieren, ist es weniger wahrscheinlich, dass eine dieser Gruppenzugehörigkeiten ins Extrem übersteigert wird. Die Forschung hat außerdem wieder und wieder gezeigt, dass der tatsächliche Kontakt mit der Out-Group dazu führt, Vorurteile abzubauen.[18] Und schlussendlich neigt man dazu, sich stärker mit der eigenen In-Group zu identifizieren und Andere negativer zu stereotypisieren, wenn das Selbstwertgefühl angegriffen ist[19] – wobei man diese Kränkung nicht einmal persönlich erfahren muss, sondern sie auch aufgrund dessen empfinden kann, was anderen Mitgliedern der In-Group angetan wurde ('Humiliation by Proxy').[20]
Da Gruppenzugehörigkeit derartig wichtig ist, ist man tendenziell sehr geneigt, sich der Gruppe anzupassen, um den eigenen Platz darin zu sichern. Widersprüche zu der vermeintlichen Mehrheitsmeinung werden oft zurückgehalten, sodass sich in isolierten Gruppen mit der Zeit eine Meinung durchsetzt, an der keine Kritik mehr geäußert wird. Extreme Meinungen setzen sich dabei einfacher durch als differenzierte Positionen, da sie vermeintlich klarer und entschlossener vorgetragen werden ('Gruppenpolarisierung').[21]
Es ist nicht selten, dass der Einstieg in solche Gruppen weniger aus politischem Interesse und mehr auf Basis von bereits existierenden Beziehungen erfolgt. Oft stellen z.B. Freunde oder Verwandte den ersten Kontakt zu Szene her.[22]
Makro-Ebene
Wenn nicht schon Freundschafts- oder Verwandtschaftsbeziehungen bestehen, kann Ideologie eine wichtige Rolle bei der Gruppenbildung zufallen, indem sie als verbindendes Element zwischen den Gruppenangehörigen wirkt – "[Ideologie ist] ein soziales Band und kein Stapel Bücher", wie Alessandro Orsini treffend schreibt.[23]Darüber hinaus können Ideologien aber noch andere psychologische Wirkungen entfalten. Weiter oben haben wir Identität als die Antworten auf vier Fragen verstanden. Ideologien bieten aus einer Hand vermeintlich konsistente Antworten auf alle diese Fragen: Sie erklären die Welt und unseren Platz darin, sie definieren, wie eben gesagt, eine In- und Out-Group, sie geben uns Handlungsanweisungen mit auf den Weg und vermitteln ein Wertesystem (in dem die Anhänger in aller Regel gut dastehen). Ideologien sorgen so für ein hohes Maß an Gewissheit, was sich positiv auf das Wohlergehen auswirkt.[24] Problematisch wird es, wenn eine extreme Form einer Ideologie zur bestimmenden Quelle einer Identität wird. Unglücklicherweise sind es aber nun einmal besonders Individuen mit ansonsten instabiler Identität, die für die einfachen Antworten einer absolutistischen Ideologie empfänglich sind.[25]
Schlussendlich kann es eine große Rolle spielen, wie eine Gesellschaft oder ein bestimmtes Milieu politische Gewalt diskutiert und erinnert (für diesen Diskussionsrahmen hat sich in der Sozialwissenschaft das Wort 'Framing' ['einrahmen'] etabliert). Wenn, wie z.B. in Nordirland während der 'Trouble', Terroristen in Liedern, Wandmalereien und Videos als Kämpfer für die gute Sache gefeiert werden, werden sie zu Vorbildern für Andere – der Gewaltkonflikt wird quasi durch die sozialen Umstände erlernt ('Social Learning').[26] In kleinerem Maßstab, z.B. in einzelnen Familien oder bestimmten Szenen, ist dieser Prozess aktuell bei allen Arten von Radikalisierung zu beobachten.