Die Ur-Familie
Aufgrund der kulturellen, sprachlichen, religiösen, sozialen, wirtschaftlichen und politischen Vielfalt ist es schwierig, von „der“ afrikanischen Familie im Allgemeinen zu sprechen. Auch durch historische Entwicklungen haben sich familiäre Strukturen im Laufe der Zeit verändert. Trotz dieser Unterschiede lassen sich insbesondere in den Ländern südlich der Sahara bestimmte Gemeinsamkeiten bei Familienstrukturen feststellen. Der Religionsphilosoph John S. Mbiti beschreibt in seinem Werk African Religions and Philosophy die afrikanische Familie als eine Einheit in der Vielfalt, die auf dem Prinzip der „Ubuntu“-Philosophie basiert.
Diese besagt: „Ich bin, weil wir sind, und weil wir sind, bin ich“ oder „Menschlichkeit gegenüber anderen“ (Mbiti, 1969)
Diese Philosophie bildet das Fundament traditioneller afrikanischer Familienkonzepte, wurde jedoch zunehmend durch Prozesse wie Verwestlichung, Urbanisierung, die Ausbreitung des Christentums und die Globalisierung in Frage gestellt. Besonders die Urbanisierung, die traditionelle Strukturen und soziale Netzwerke auflöst, hat zu einem wachsenden Individualismus geführt.
Im Rahmen dieses Beitrags werden afrikanische Familien- und Lebensmodelle in ihrem historischen Kontext analysiert sowie deren Wandel im Laufe der Zeit nachgezeichnet. Darüber hinaus werden sogenannte Initiationsriten als identitätsstiftende Übergangsrituale
Als Beispiel für ein afrikanisches Familienmodell wurde das der Gĩkũyũ gewählt, die auch unter dem Namen Kikuyu bekannt sind. Der Begriff „Gĩkũyũ“ stammt aus ihrer eigenen Sprache. Die Gĩkũyũ sind Bantus (Fußnote: Bantu ist der Sammelbegriff für hunderte Bevölkerungsgruppen in Zentral-, Ost- und dem südlichen Afrika, die Bantusprachen sprechen ) und stellen mit über acht Millionen Menschen (KDHS, 2022) die größte ethnische Gruppe Kenias dar – sie machen etwa 17,13 Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Sie sind bekannt für ihren politischen Einfluss und ihre wirtschaftliche Stärke.
Traditionell waren und sind die Lebensweisen der Gĩkũyũ landwirtschaftlich geprägt. Sie betreiben sowohl Ackerbau als auch Viehzucht. Heute ist die Landwirtschaft in vielen Regionen mechanisiert. Es werden unter anderem Mais, Bohnen, verschiedene Gemüsesorten, Blumen, Kaffee und Tee im großen Stil angebaut. Die vorkoloniale Gĩkũyũ-Familie – also vor dem Jahr 1890 – war eine Großfamilie über mehrere Generationen hinweg. Diese Familien lebten in verstreuten Gehöften, die sich über verschiedene Dörfer erstreckten. Die Leitung lag bei einem männlichen Familienoberhaupt (Patriarch), das seine Rolle an einen Sohn weitergab (Wamue-Ngare, 2020; Cagnolo, 1933).
Ein zentrales Element dieser Struktur war der Haushalt, genannt nyũmba
Nach den traditionellen Vorstellungen der Gĩkũyũ-Gemeinschaft wurden die mythischen Frauen, die als Nachfahren von Gĩkũyũ, dem legendären Stammvater, gelten, als Matriarchinnen der Gehöfte angesehen. Besonders die erste Ehefrau hatte eine führende Rolle und hatte oft Einfluss auf die anderen Frauen im Haushalt. Ab etwa 60 Jahren nahm sie an wichtigen Versammlungen teil, bei denen Entscheidungen in der Gemeinschaft gemeinsam mit den Männern getroffen wurden. Sie wurde auch in fast allen familiären Angelegenheiten konsultiert (Wamue, G.N, 1999).
Die Fähigkeit der Frauen, Kinder zu gebären, verlieh ihnen einen wichtigen sozialen Status. Bei der Namensgebung von Kindern wurden traditionell sowohl männliche als auch weibliche Vorfahren berücksichtigt. Das erste männliche Kind wurde nach dem Großvater väterlicherseits benannt, das zweite männliche Kind, falls vorhanden, nach dem Großvater mütterlicherseits. Mädchen wurden entsprechend nach den Großmüttern benannt.
Trotz der starken männlichen Dominanz in den Gĩkũyũ-Familien und -Gemeinschaften haben Frauen dort erheblichen Einfluss, insbesondere bei der Kontrolle über bestimmte Vermögenswerte, dem Sorgerecht für Kinder und anderen wichtigen Angelegenheiten. Viele wirtschaftliche und soziale Entscheidungen konnten nur mit ihrer Zustimmung getroffen werden (Wamue, G.N, 1999). Bevor ein Mann eine zweite oder weitere Frau heiraten durfte, musste die erste Frau zustimmen.
Gĩkũyũ-Initiations- und Pubertätsriten
Die Initiation von Mädchen und Jungen begann mit der Pubertät, im Alter von etwa 11 bis 15 Jahren (Herzog, 1973). Während die Beschneidung von Jungen weiterhin praktiziert wird, nahm die Praxis der weiblichen Genitalverstümmelung (FGM) ab den frühen 1970er Jahren ab. Heute wird FGM weltweit als schwerwiegende Verletzung der Rechte von Frauen und Mädchen angesehen, die keine Vorteile bietet und stattdessen ernsthafte gesundheitliche, soziale und psychologische Schäden verursachen kann. Laut dem UNICEF-Bericht von 2024 werden jährlich mindestens 4 Millionen Mädchen weltweit beschnitten, und in Kenia liegt die Prävalenzrate bei 15 Prozent der Frauen im Alter von 15 bis 49 Jahren (KDHS, 2022). Der Ritus gilt in Kenia als überholt und ist auch gesetzlich verboten, wie im „Protection of Female Genital Mutilation Act“ von 2011 festgeschrieben. Obwohl die Praxis in vielen Regionen rückläufig ist, gibt es jedoch immer noch einige Familien, die sie heimlich ausüben.
Verlobungs- und Heiratsriten
In vielen afrikanischen Gemeinschaften vor der Kolonialisierung war die Heirat sowohl als eine kulturelle als auch eine spirituelle Verbindung zwischen zwei Familien angesehen (Ingoldsby & Smith, 2006). Ein wichtiges Ritual in diesem Zusammenhang war die Zahlung der Mitgift. Der Austausch von Geschenken wie Kühen, Ziegen, Lebensmitteln, Bier und Schmuck symbolisierte die lebenslange Bindung zwischen den Familien. Mit der Einführung der Geldwirtschaft im kolonialen Kenia, besonders nach der Unabhängigkeit in den 1970er Jahren, wurde die Mitgift jedoch zunehmend kommerzialisiert (Wamue, 2019; Komingoi, 2018).
Die Familie in der Kolonialzeit
Fast 70 Jahre lang dauerte die britische Kolonialherrschaft in Kenia dauerte, von 1895 bis 1963. Die britische Kolonialpolitik zerstörte traditionelle Familienstrukturen beeinflusste die Familien- und Lebensmodelle tiefgreifend, wie in vielen afrikanischen Gemeinschaften. Männer wurden zur Arbeit auf europäische Farmen oder in die Städte gedrängt, während Frauen auf dem Land zunehmend auch traditionelle Männeraufgaben übernahmen (Clark, 1984; Wamue, 1999). Diese Veränderungen tragen zur heutigen Benachteiligung von Mädchen und Frauen bei, insbesondere beim Zugang zu Bildung, Landbesitz und wirtschaftlicher Teilhabe. Auf dem Land sind nach wie vor 75 Prozent der landwirtschaftlichen Arbeitskräfte Frauen (NGEC, 2021).
Die Briten führten eine formale Bildung, das Christentum und ein steuerbasiertes Produktionssystem ein, die jedoch diskriminierend waren. So wurden Männer in Berufen wie Maurer, Büroangestellte und Geistliche ausgebildet, während Mädchen hauptsächlich Hauswirtschaft, Krankenpflege und Kinderbetreuung lernten (Karani, 1987). Diese ungleiche Ausbildung trug dazu bei, dass Männer die Möglichkeit hatten, bezahlte Arbeit zu finden, während Frauen hauptsächlich unbezahlte Hausarbeit und Pflege übernahmen. Die Arbeit der Männer wurde nicht nur besser bezahlt, sondern auch mehr anerkannt, was den Jungen und Mädchen der Gĩkũyũ den Weg in die Moderne ebnete (Strayer, 1973).
Obwohl die Missionare behaupteten, sie wollten wirtschaftlich unabhängige christliche Gemeinschaften aufbauen, strebten sie vor allem an, die Afrikaner zu bekehren und ihre traditionellen Bräuche zu bekämpfen (Shiraz, 2018). Die Einführung von kostenpflichtiger Schulbildung und Zwangsabgaben zwang viele Gĩkũyũ-Männer und -Frauen, trotz niedriger Löhne auf europäischen Farmen zu arbeiten. Daher schickten viele Familien nur ihre schwächsten Kinder zur Schule.
Die koloniale Gewalt in Kenia beinhaltete auch Strafgesetze, die viele traditionelle Praktiken wie das Brauen von Schnaps kriminalisierten (Willis, 2017). Körperstrafen durch Polizei oder lokale Anführer waren weit verbreitet. Auch heute noch wird körperliche Gewalt von Lehrern und Eltern, insbesondere Vätern, als Disziplinarmaßnahme eingesetzt, was zu Missbrauchsmustern innerhalb von Familien beiträgt (Ndungu & Gichobi, 2021).
Ab 1920, unter dem Druck der Missionare, kritisierten die Gĩkũyũ offen das koloniale Bildungssystem und gründeten eigene Schulen und Kirchen. Diese waren eng mit der Mau-Mau-Bewegung verbunden. Sie verurteilten traditionelle Bräuche wie Polygamie und Mitgift nicht, sondern hielten an ihnen fest. Daraus entstand die heutige Gĩkũyũ-Familie, eine Mischung aus traditionellen Glaubensvorstellungen, Modernität und Christentum. Obwohl viele Aspekte der indigenen Kultur verloren gingen, ist ihre Sprache (Gĩkũyũ) nach wie vor weit verbreitet und wird auch von Nicht-Mitgliedern gesprochen. Sie ist die dritthäufigste Sprache in Kenia, nach Kiswahili und Englisch.
Als die Briten begannen, das Land der Gĩkũyũ zu konfiszieren und Zwangsarbeit einzuführen, formte sich der Widerstand in der Mau-Mau-Bewegung
Die moderne Familie
Die heutige Familienstruktur in Kenia ist vielfältig und spiegelt sowohl Veränderungen als auch traditionelle Elemente wider. Durch die Urbanisierung lassen sich Unterschiede zwischen städtischen und ländlichen Familien erkennen. Besonders in den Städten haben sich die Familienformen stark gewandelt. Wohnhäuser bestehen nun häufig aus Holz und Wellblech statt aus Stein, Wasser wird meist über Leitungen bezogen und statt mit Feuerholz wird meist mit Gas gekocht. Zudem sind heute Ehen zwischen Angehörigen verschiedener ethnischer Gruppen weit verbreitet. Dies zeigt, dass sich soziale Normen verändert haben und vielfältige Familienformen zunehmend gesellschaftlich anerkannt sind.
Vielfältige Familienstrukturen
Die heutige Gĩkũyũ-Familie, wie auch andere Familienformen in Kenia, hat sich im Laufe der Zeit verändert und zeigt eine größere Vielfalt an Strukturen und Lebensweisen (Rossier et al., 2023). Bevölkerungs- und Gesundheitsstudien belegen, dass Familien insgesamt kleiner werden und dass familiäre Bindungen in städtischen Gebieten weniger stark ausgeprägt sind als auf dem Land.
So verfügen in Städten 61 Prozent der Haushalte über ein separates Schlafzimmer, auf dem Land nur 32 Prozent (KDHS, 2022). Laut Volkszählung leben 34 Prozent der Menschen in der Zentralprovinz in urbanen Gebieten, was 12,5 Prozent der gesamten Stadtbevölkerung Kenias ausmacht (Republik Kenia, 2012). Inzwischen existieren sowohl in Städten als auch auf dem Land unterschiedliche Familienformen, darunter Alleinerziehendenhaushalte, interethnische Ehen, Patchworkfamilien und auch gleichgeschlechtliche Partnerschaften. Letztere sind in Kenia jedoch nicht rechtlich anerkannt: Die Verfassung von 2010 verbietet gleichgeschlechtliche Ehen, betrachtet sie als Straftat und untersagt gleichgeschlechtlichen Paaren die Adoption von Kindern (Republik Kenia, 2006; 2010; Ikiba, 2024).
Gleichzeitig hat die Kleinfamilie innerhalb der traditionellen Großfamilienstruktur an Bedeutung gewonnen. Wachege und Rugendo (2018) weisen darauf hin, dass klassische Institutionen wie Mbari (Abstammungslinie), Nyumba (Haushalt) und Mũhiriga (Clan) zunehmend an Relevanz verlieren, was den Zusammenhalt innerhalb einer Gemeinschaft schwächt. Ursachen dafür sind insbesondere die Migration in städtische Räume sowie die geografische Zerstreuung von Familienmitgliedern, wodurch sich ihre Lebensweisen, Ziele und Interessen stärker unterscheiden (Nyagah, 1982; Orwa et al., 2023).
Die durchschnittliche Kinderzahl in modernen, meist monogamen Familien sank von 6,7 Kindern im Jahr 1989 auf 3,4 Kinder im Jahr 2022 (KDHS, 2022). Auch die Haushalte haben sich verkleinert: In der Zentralprovinz leben im Durchschnitt drei Personen pro Haushalt, in Nairobi sogar nur 2,9 (KDHS, 2022). Diese Entwicklung ist auf Faktoren wie Urbanisierung, bessere Bildung, Migration, feministische Bewegungen, Globalisierung, den Zugang zu modernen Verhütungsmitteln sowie an Beruf und Ausbildung statt früher Heirat zurückzuführen (Ikamari & Agwanda, 2020; Orwa et al., 2023).
Monogamie vs. Polygamie
Bei den Gĩkũyũ hat sich die Monogamie zunehmend durchgesetzt und die Polygamie verdrängt. Dies ist vor allem auf den Einfluss des Christentums, die stärkere wirtschaftliche Unabhängigkeit von Frauen sowie auf finanzielle Herausforderungen zurückzuführen, die polygame Ehen erschweren. Dieser Wandel zeigt sich auch in anderen Teilen Ostafrikas, wo monogame Beziehungen immer häufiger werden (Dodoo et al., 2007). Obwohl Polygamie in Kenia rechtlich erlaubt ist, nehmen in städtischen Gebieten informelle Partnerschaften und verdeckte Beziehungen zu. Diese Entwicklungen werfen neue Fragen zur rechtlichen Stellung von Kindern, zum Sorgerecht und zur Verantwortung der Eltern auf (Suda, 1993).
Solche Beziehungskonstellationen werden teilweise mit einem Anstieg von HIV-Erkrankungen, Armut und dem Verlust von Elternteilen in Verbindung gebracht.
Während das Christentum monogame Lebensformen gestärkt hat, bestehen traditionelle Praktiken weiter. Manche Männer führen etwa heimlich Zweitfamilien, die erst nach ihrem Tod bekannt werden.
Patchworkfamilien
Patchworkfamilien, also Familien, in denen ein Paar gemeinsam mit eigenen Kindern und Kindern aus früheren Partnerschaften lebt, stellen in Kenia eine zunehmend verbreitete Familienform dar. In sozialen Medien wie Facebook gibt es mittlerweile Gruppen wie das Blended Families Network, die diesen Familien Unterstützung und Beratung anbieten – etwa bei der gemeinsamen Kindererziehung mit Ex-Partnern oder beim fairen Umgang mit allen Kindern im Haushalt. Diese Familienstruktur eröffnet insbesondere Frauen neue Perspektiven, etwa nach einer frühen Schwangerschaft oder einer Scheidung, wenn sie weiterhin Familie leben und gleichzeitig das Wohl ihrer Kinder sichern möchten.
Gleichgeschlechtliche oder queere Familienformen (LGBTQ) werden hingegen gesellschaftlich kaum anerkannt und finden bislang wenig Eingang in traditionelle Familien- und Verwandtschaftsstrukturen. In Kenia – wie in anderen Teilen Ostafrikas – sind LGBTQ-Personen rechtlich und gesellschaftlich stark benachteiligt.
Haushaltsführung und Alleinerziehende
In Kenia steigt die Zahl alleinerziehender Eltern stetig an. Diese Entwicklung wird vor allem durch die Arbeitsmigration von Männern sowie die zunehmende wirtschaftliche Unabhängigkeit und Erwerbstätigkeit von Frauen begünstigt. In traditionellen Großfamilien waren alleinstehende Mütter selten.
Kinder, die bei alleinerziehenden Müttern aufwachsen, haben oft wenig oder keinen Kontakt zur väterlichen Familie. Es kommt zunehmend vor, dass Väter nach einer Trennung den Kontakt zu ihren Kindern abbrechen. Trotz der patrilinearen Abstammung in der Gĩkũyũ-Gemeinschaft verlieren diese Kinder dadurch häufig das Recht auf das väterliche Erbe, was bei einigen zu einer Identitätskrise führt.
Die wachsende Zahl alleinerziehender Mütter hat auch das traditionelle Namenssystem verändert. Immer häufiger tragen Kinder den Nachnamen der Mutter, wie Diskussionen in sozialen Medien zeigen. Dies kann einerseits zur Identitätsbildung beitragen, andererseits aber das Selbstwertgefühl – insbesondere von Jungen in der Pubertät – beeinträchtigen, da sie deshalb gelegentlich von Gleichaltrigen verspottet werden. Außerdem führt der schwache Kontakt zur väterlichen Familie oft dazu, dass Väter ihre Verantwortung gegenüber den Kindern nicht wahrnehmen.
Kultureller Wandel
Die Mitgift spielt weiterhin eine bedeutende Rolle im Leben der Gĩkũyũ. Allerdings haben sich die Einstellungen junger Menschen – vor allem durch Bildung und berufliche Integration – verändert, was auch die Sicht auf die Mitgift beeinflusst. Die Praxis hat sich zunehmend kommerzialisiert: Frauen werden teilweise wie Güter behandelt, und in manchen Fällen steht die Mitgift mit Gewalt gegen Frauen in Zusammenhang (Komingoi, 2018).
Hohe Mitgiftforderungen führen dazu, dass viele Paare ohne formelle Eheschließung zusammenleben („Komm-wir-bleiben“-Ehen
Bei Ehen zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen werden häufiger individuelle Absprachen getroffen. Während die Mitgift früher als Garantie für eine stabile Ehe galt, stehen in modernen Beziehungen heute vor allem gegenseitige Liebe und Respekt im Vordergrund. Daher wird eine Modernisierung der Mitgiftpraxis gefordert, um den gesellschaftlichen Veränderungen gerecht zu werden (Ng’ang’a, 2010).
In manchen Fällen zahlen wohlhabende, oft alleinstehende Mütter ihre Mitgift selbst. Die Bewegung Kamweretho entstand, um diese Frauen zu unterstützen – damit sie sich von der Familie symbolisch „freikaufen“ können, um selbst Mitgift für ihre Kinder zu zahlen oder zu empfangen. Auch verheiratete Frauen, deren Mitgift nicht oder nur teilweise bezahlt wurde, schlossen sich der Bewegung an.
Kamweretho umfasste aber auch gesellige Aktivitäten wie Tanz und Alkoholkonsum, was auf gesellschaftliche und kirchliche Kritik stieß. Diese sahen darin eine Bedrohung patriarchaler Strukturen und einen moralischen Verfall. In der Folge verlor Kamweretho an Bedeutung (Wamue & Njoroge, 2011; Mugo & Wandere, 2016). Initiativen, die männliche Machtverhältnisse infrage stellen – insbesondere wenn sie von Frauen ausgehen – werden in Kenia oft negativ bewertet und stereotypisiert.
Sprache
In kenianischen Familien sorgt die wachsende Nutzung von Sheng – einem städtischen Jugend-Slang, der Englisch mit lokalen Sprachen vermischt – zunehmend für Verständigungsprobleme zwischen den Generationen. Sie ist auch in der Musik stark vertreten. Ältere Menschen können Sheng oft nicht verstehen, was die Kommunikation innerhalb der Familie erschwert und die Beziehung zwischen Eltern und Kindern belasten kann (Muaka, 2011). Diese Barriere wurde auch während der Proteste gegen Präsident Rutos Wirtschaftspolitik im Jahr 2024 deutlich, die von den jungen Leuten ausgingen.
Übergangsriten
Die traditionelle Beschneidung war lange Zeit ein wichtiger Übergangsritus, der für Jungen und Mädchen den Eintritt ins Erwachsenenleben markierte und ihnen Anerkennung in der Familie und Gemeinschaft verschaffte. Durch Urbanisierung und Modernisierung hat sich jedoch ihre Bedeutung verändert. In manchen Fällen wurde der Ritus für politische Zwecke instrumentalisiert – insbesondere zur Abwertung von Gruppen, die ihn nicht praktizieren. So werden z. B. unbeschnittene Politiker von traditionell orientierten Gemeinschaften häufig nicht ernst genommen.
Da es immer mehr alleinerziehende Mütter gibt, übernehmen sie heute oft Aufgaben im Beschneidungsritual, die früher den Vätern vorbehalten waren. Gleichzeitig ermöglicht sozialer und wirtschaftlicher Aufstieg jungen Männern heute Anerkennung auch ohne diese traditionellen Rituale. Die Urbanisierung hat außerdem traditionelle Kleidung bei der Beschneidung durch moderne ersetzt, und das Schulsystem hat viele langwierige Zeremonien gekürzt oder abgeschafft (Kimani, 2015). Vorstellungen von Männlichkeit sind dadurch heute vielfältiger und weniger strikt an traditionelle Normen gebunden.
Wirtschaftliche Einflüsse auf Familien
Heutzutage ist der Ehemann nicht mehr allein für das Einkommen der Familie verantwortlich. In vielen Familien tragen sowohl Männer als auch Frauen zum Einkommen bei. Das hat die traditionellen Rollenverteilungen verändert: Frauen haben mehr Mitspracherecht bei Entscheidungen und mehr Kontrolle über Ausgaben (Bigombe & Khadiagala, 1990). Diese Veränderungen führen jedoch auch zu Spannungen. Viele Männer fühlen sich durch den Machtverlust verunsichert – ein Zustand, der manchmal mit Alkoholmissbrauch in Verbindung gebracht wird (Obiagu, 2023; Wamue-Ngare & Njoroge, 2011). Trotz ihrer Erwerbstätigkeit wird von Frauen weiterhin erwartet, dass sie sich hauptsächlich um den Haushalt und die Landwirtschaft kümmern – eine Folge traditioneller Geschlechternormen.
Geschlechtergerechtigkeit im Wandel
Laut Ng'endo (2002) hat die wirtschaftliche Unabhängigkeit vielen Gĩkũyũ-Frauen mehr Selbstbestimmung ermöglicht. Immer mehr Frauen übernehmen die Rolle der Haupternährerin. Dieser Wandel wird vor allem durch kleine Unternehmen, Kooperationen mit anderen sowie durch Spargruppen und Kredite unterstützt. Die neuen Rollenverteilungen verändern auch das Selbstbild von Männern: Besonders junge Männer übernehmen zunehmend Aufgaben in der Kinderbetreuung und Erziehung (Ashiono & Mwoma, 2015).
Elternschaft und Kindererziehung
In traditionellen ländlichen Gĩkũyũ-Gemeinschaften waren Großmütter oft die wichtigsten Bezugspersonen für Kinder. Heute tragen in Stadt und Land vor allem die Mütter die Hauptverantwortung für die Kinderbetreuung. In städtischen Haushalten mit höherem Einkommen oder Bildung greifen viele Frauen auf zusätzliche Unterstützung zurück – etwa durch Hausangestellte, Kindertagesstätten oder Krippen. Auf dem Land übernehmen eher Verwandte, ältere Geschwister oder gelegentlich Nachbarn diese Aufgaben, wobei gemeinschaftliche Betreuung heute seltener geworden ist.
Die Rolle der erweiterten Familie hat deutlich abgenommen – viele konzentrieren sich auf ihre Kernfamilie. Angst vor rechtlichen oder sozialen Konsequenzen sowie zunehmender Individualismus führen dazu, dass Nachbarn und Verwandte kaum noch in die Erziehung eingreifen.
Kulturelle und rechtliche Faktoren
Früher wurden Themen wie Erbfolge oder Besitzübergabe bei den Gĩkũyũ durch Gewohnheitsrecht geregelt, das meist den ältesten Sohn bevorzugte. Er erhielt einen größeren Anteil, da er als Treuhänder der Familie galt. Heute wird dieses traditionelle System zunehmend kritisiert, da es Frauen und Mädchen benachteiligt. Zwar hat Kenia rechtliche Fortschritte gemacht – etwa mit der Verfassung von 2010 und der Ratifizierung internationaler Gleichstellungsabkommen –, in der Praxis werden Männer jedoch häufig noch als Haupt-Erben betrachtet. Neue Entwicklungen zeigen aber, dass auch Frauen, insbesondere unverheiratete Mütter, zunehmend berücksichtigt werden (Kodiyo, 2023).
Ein weiterer Wandel ist, dass sich Witwen heute oft selbst um ihre Familien kümmern müssen, weil die Unterstützung durch Verwandte nach dem Tod des Ehemannes abnimmt. Erbstreitigkeiten in interethnischen Ehen führen zudem häufiger zu gerichtlichen Auseinandersetzungen.
Früher war eine Scheidung in der traditionellen Gesellschaft nur in Ausnahmefällen erlaubt, etwa bei Gewalt oder Verdacht auf Hexerei. Heute steigt die Zahl der Scheidungen, vor allem aufgrund familiärer Konflikte. Laut dem kenianischen Ehegüterrecht gelten unter anderem Ehebruch, Gewalt, langfristige Trennung oder psychische Erkrankungen als Scheidungsgründe (Njenga, 2016).
Auswirkungen von Technologie auf das Familienleben
Die Einführung neuer Technologien hat das Familienleben und die sozialen Beziehungen stark verändert. Medien wie Fernsehen, Radio und Smartphones haben die Interaktionen innerhalb der Familie verringert. Heute ist es häufig der Fall, dass Familienmitglieder zwar im selben Raum sind, aber wenig miteinander sprechen, da jeder mit seinem Handy beschäftigt ist. Technologien wie Mobiltelefone und das Internet haben das traditionelle Geschichtenerzählen und den persönlichen Austausch ersetzt, wodurch die familiären Bindungen schwächer werden. Diese Veränderungen fördern zwar den Zugang zu Wissen, verdeutlichen jedoch auch, wie schwierig es geworden ist, enge familiäre Beziehungen im digitalen Zeitalter aufrechtzuerhalten.
Aktuelle Herausforderungen für Gĩkũyũ-Familien
Auch die Gĩkũyũ Familie ist mit zahlreichen Herausforderungen konfrontiert. Familien müssen sich an die Anforderungen des modernen Lebens anpassen und ein Gleichgewicht zwischen Arbeit und familiären Pflichten finden. Normen und Lebensstile verändern sich. Dieser Wandel wird durch veränderte gesellschaftliche Erwartungen, wirtschaftliche Notwendigkeiten und den Wunsch nach persönlicher Entfaltung beeinflusst. Inmitten all dieser Entwicklungen ist die Gĩkũyũ-Familie auch wirtschaftlichem Druck durch Inflation und eingeschränktem Zugang zu Ressourcen wie Land, Vieh und Geld ausgesetzt.
Verstädterung und Migration können zum Zusammenbruch von Großfamilienstrukturen führen und schwächen traditionelle Unterstützungssysteme, ganz zu schweigen vom technologischen Fortschritt und seinen Auswirkungen. Während die jüngere Generation zwischen schwindenden traditionellen Werten und sich immer schneller verändernden Lebensstilen navigiert, entstehen neue Herausforderungen, allen voran Arbeitslosigkeit. Hinzu kommt, dass Frauen in Berufe und Rollen vordringen, die früher den Männern vorbehalten waren (Wamue-Ngare & Njoroge 2011). Viele Gĩkũyũ-Frauen setzen heute auf Bildung und beruflichen Erfolg. Trotzdem halten manche Männer weiterhin an überholten Vorstellungen fest, nach denen sie überlegen sein sollten (ebd.). Sie tun sich schwer damit, anzuerkennen, dass ihre frühere Vormachtstellung gegenüber Frauen in vielen Familien nicht mehr existiert oder von Frauen übernommen wird (Wamue-Ngare & Njoroge 2011).
Zudem ist HIV/AIDS in Kenia immer noch ein großes Problem. Die Krankheit verändert das Leben in den Familien, weil viele Familienmitglieder plötzlich neue Aufgaben übernehmen müssen, zum Beispiel kranke Angehörige pflegen. Neue Zahlen zeigen, dass vor allem Mädchen von HIV/AIDS betroffen sind, 78 Prozent der Neuinfektionen im Jahr 2023 betrafen junge Frauen (KDHS, 2022, UNFPA, 2023). Besonders auf dem Land und in armen Familien wird zudem von vielen Mädchen erwartet, dass sie die Schule abbrechen, um sich um kranke Verwandte zu kümmern. Dadurch gibt es immer mehr Waisen und Kinder, die nicht mehr zur Schule gehen (Njue et al., 2007).
Geschlechtsspezifische Gewalt
Viele Männer in Kenia – nicht nur die Gĩkũyũ – sind durch den Wandel der Geschlechterrollen verunsichert. Der Wunsch, die frühere Vormachtstellung über Frauen zurückzugewinnen, kann zu geschlechtsspezifischer Gewalt führen. Über 40 Prozent der Frauen in Kenia haben körperliche oder sexuelle Gewalt durch ihren Partner erlebt (KDHS, 2022). Dank Sensibilisierungs- und Aufklärungskampagnen wissen heute viele Frauen besser über verschiedene Arten von geschlechtsspezifischer Gewalt Bescheid (Kamore, 2021). Inzwischen gibt es auch neue Formen der Gewalt, zum Beispiel im Internet oder über soziale Medien (Adams & Trost, 2005). Durch die Urbanisierung und den zunehmenden Individualismus sind viele Frauen von traditionellen familiären oder gemeinschaftlichen Unterstützungssystemen abgeschnitten und dadurch verletzlicher geworden.
In letzter Zeit bringt die Migration viele Herausforderungen für afrikanische Familien mit sich (NCPD, 2019; IOM, 2020). In Kenia ziehen viele Männer vom Land in die Städte, um bessere Jobs und Lebensbedingungen zu finden. Sie schicken dann Geld an ihre Frauen, die zu Hause bleiben und sich um die Familie kümmern. Das kann der Familie finanziell helfen, bedeutet aber oft mehr Belastung für die Frauen und schwächt die Beziehungen in der Familie. Außerdem kommt es vor, dass Männer in der Stadt neue Partnerinnen oder sogar Ehefrauen finden. Das führt zu Problemen in der Ehe und begünstigt Scheidungen. Ähnliches passiert auch, wenn Männer in andere, wohlhabendere Länder auswandern (Bigombe & Khadiagala, 1990).
Es ist wichtig zu wissen, dass dieser Text vor allem die Sichtweise der Gĩkũyũ beschreibt. Auch wenn sie hier im Mittelpunkt stehen, können andere Familien in Kenia oder Afrika ähnliche oder ganz andere Erfahrungen gemacht haben.