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Analyse: Zwei Jahre nach dem Euromaidan: Politische Turbulenzen und Vertrauenskrise in Kiew | Ukraine-Analysen | bpb.de

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Analyse: Zwei Jahre nach dem Euromaidan: Politische Turbulenzen und Vertrauenskrise in Kiew

Gerhard Simon Köln Von Gerhard Simon

/ 12 Minuten zu lesen

Mitte Februar 2016 brachen seit längerer Zeit schwelende Konflikte innerhalb der Regierung und des Parlaments offen aus. Ein Misstrauensantrag gegen den Ministerpräsidenten scheiterte zwar, aber die Regierungskoalition zerfiel. Hintergrund ist eine tiefgreifende Entfremdung und Vertrauenskrise zwischen der politischen Klasse und der Zivilgesellschaft.

Premierminister Arseni Jazenjuk spricht am 16. Februar vor dem ukrainischen Parlament in Bezug auf das Misstrauensvotum. (© picture-alliance/dpa)

Die "Show" vom 16. Februar 2016

Zum Feiern war kein Anlass und keine Zeit: Fast auf den Tag genau zwei Jahre nach dem blutigen Ende des Euromaidan (18.–20. Februar 2014) und der Machtübernahme durch die Sieger kamen die seit langem schwelenden politischen Konflikte in Kiew offen zum Ausbruch: Präsident Petro Poroschenko forderte "seinen" Ministerpräsidenten Arsenij Jazenjuk und "seinen" Generalstaatsanwalt Schokin zum Rücktritt auf. Das Parlament, die Werchowna Rada, erklärte in einem Beschluss die Arbeit der Regierung für "unbefriedigend". Ein unmittelbar danach gestellter Misstrauensantrag gegen die Regierung fand jedoch im Parlament keine Mehrheit, wodurch alle vorhergehenden Aktionen in ein merkwürdiges Licht rückten (alle Ereignisse 16.2.2016). Die zwei kleineren Koalitionspartner "Vaterland" und "Selbsthilfe" traten aus der Vier-Parteien-Koalition aus, die damit faktisch aufhörte, zu bestehen. Der Parlamentspräsident erklärte jedoch nicht offiziell das Ende der Koalition, sodass die Krise in eine Hängepartie überging. In Kiew gibt es allerdings langjährige Erfahrungen mit Provisorien, Hängepartien und den nötigen Improvisationen.

Dennoch stellen die Vorgänge vom 16. Februar alles bisher Gewohnte in den Schatten: Sie verschärfen die Grabenkämpfe innerhalb der Koalition der Sieger vom Maidan, das Misstrauen der Gesellschaft gegenüber der politischen Klasse wächst, die westlichen Partner sind aufgeschreckt und beunruhigt. Noch am Abend des 16. Februar machten Kommentatoren, darunter Mustafa Najem und Serhij Leschtschenko, beide Parlamentsabgeordnete des "Blockes Petro Poroschenko", öffentlich, dass es sich nach ihrer Einschätzung um eine geschickt eingefädelte Intrige gehandelt hatte, die einen Neustart im Kampf gegen Korruption und Oligarchenherrschaft verhindern sollte, anstatt ihn voranzubringen, wie es auf den ersten Blick scheint.

Denn was war geschehen? In einer rechtlich folgenlosen Abstimmung votierten 247 Abgeordnete (die absolute Mehrheit beträgt 226 Abgeordnete) gegen die Regierung. Nur 15 Minuten später stimmten nur noch 194 Abgeordnete für den Misstrauensantrag gegen die Regierung, der deren Rücktritt zur Folge gehabt hätte, wäre er erfolgreich gewesen. Die namentliche Abstimmung lässt die Gründe erkennen: 22 Abgeordnete des "Blocks Petro Poroschenko" und 18 Abgeordneten des Oppositionsblocks, die zuvor die Arbeit der Regierung als "unbefriedigend" bewertet hatten, verweigerten dem Misstrauensantrag ihre Stimme (Interner Link: Ukraine-Analysen Nr. 164, S. 11f). Wer waren die Seitenwechsler? Nach Einschätzung der genannten Analytiker handelt es sich im Fall der Präsidentenpartei um enge politische Weggefährten und Geschäftsleute aus der unmittelbaren Umgebung Poroschenkos, denen signalisiert worden war, sich nicht dem Misstrauensvotum anzuschließen. Der Oppositionsblock andererseits besteht aus den Resten der "Partei der Regionen", also der Partei der Macht zu Zeiten von Janukowitschs. Nur acht der 43 Abgeordneten des Oppositionsblocks unterstützten das Misstrauensvotum gegen die Regierung Jazenjuk, die doch angeblich ihr schärfster politischer Gegner ist. Dies wird nur erklärbar, wenn man unterstellt, dass es im Oppositionsblock erhebliche, von den Oligarchen gesteuerte Kräfte gibt, die am Fortbestand der Regierung Jazenjuk ein Interesse haben.

Die Bilanz der "Show" vom 16. Februar lautet: Poroschenko und seine politische Umgebung wollten der Gesellschaft Handlungsfähigkeit demonstrieren und Luft aus dem Kessel der immer schärfer werdenden inneren Spannungen ablassen, eine Ablösung der Regierung und einen Kurswechsel im Kampf gegen Oligarchen und Korruption wollten sie nicht. Ob dieses Kalkül aufgeht, bleibt abzuwarten. Zweifel sind angebracht; aber die Autorität des Präsidenten hat gelitten, und ob das Parlament eine neue handlungsfähige Koalition zustande bringt, ist ungewiss.

Wie konnte es zu dieser Krise kommen? Die zweite Regierung Jazenjuk war schließlich nach erfolgreichen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen 2014 mit einer soliden Mehrheit im Parlament – Dreiviertel der Abgeordneten wählten ihn im November 2014 zum Regierungschef (Interner Link: Ukraine-Analysen Nr. 143, S. 7) – und getragen von den Hoffnungen und Erwartungen in großen Teilen der Gesellschaft an den Start gegangen.

Die Leistungen und Errungenschaften der Poroschenko/Jazenjuk-Führung

Präsident und Regierung haben große Verdienste an der Ukraine in den zwei Jahren seit der Revolution der Würde; das Land hat sich innen- und außenpolitisch weit entfernt von den Verhältnissen im Herbst 2013. Die Integration nach Westen ist ein großes Stück vorangekommen. Das betrifft zunächst die EU, mit der das Assoziationsabkommen geschlossen wurde, das am 1. Januar 2016 vorläufig in Kraft getreten ist (Interner Link: Ukraine-Analysen Nr. 162). Aber auch die Zusammenarbeit mit den USA und Kanada erreichte eine zuvor undenkbare Intensität, ebenso die Kooperation mit den internationalen Finanzinstitutionen, auf deren Unterstützung die Ukraine angewiesen ist. Derzeit ist allerdings die Zusammenarbeit mit dem IWF vorübergehend unterbrochen. Die Generaldirektorin des IWF Christine Lagarde macht den schleppenden Fortgang der Reformen und die Korruption dafür verantwortlich (s. Interner Link: Dokumentation auf S. 20).

Praktisch vom ersten Tag an mussten die Sieger vom Maidan auf der Krim und im Donbass Krieg führen gegen die von Russland militärisch, finanziell und politisch geführten Separatisten. Der Aufbau einer ukrainischen Armee, die es faktisch im Frühjahr 2014 nicht gab, verschlang erhebliche Mittel (Interner Link: Ukraine-Analysen Nr. 156), die für Reformen dann nicht zur Verfügung standen. Zehntausende von Freiwilligen und die Freiwilligen-Bataillone verstärkten den militärischen Widerstand (Interner Link: Ukraine-Analysen Nr. 150). Zwar flauten die Kämpfe in jüngster Zeit ab, aber noch immer wird täglich geschossen; es gibt Tote und Verwundete (Interner Link: Ukraine-Analysen Nr. 164). Es gehört auch zu den Verdiensten dieser Regierung, dass es – entgegen vielfacher Befürchtungen im In- und Ausland - gelungen ist, die Freiwilligen-Bataillone in die Nationalgarde einzugliedern. Es gibt keine vagabundierende Soldateska, das Gewaltmonopol des Staates steht nicht in Frage. Ein Teil der Freiwilligen-Bataillone ist politisch dem rechtsextremen nationalistischen Spektrum zuzurechnen. Auch hier ist es der Führung in Kiew gelungen, durch geschicktes Vorgehen die Gefahren zu bannen. Der zeitweise von Feind und Freund geradezu als existentielle Bedrohung für die Ukraine stilisierte "Rechte Sektor" zerfällt; der Gründer Dmytro Jarosch ist ausgetreten. Zwar gibt es extrem nationalistische Gruppierungen, aber sie sind in der Ukraine schwächer als in vielen anderen Ländern Europas und zumal als in Russland. Dazu hat die umsichtige Politik der Führung Poroschenko/Jazenjuk beigetragen.

Der Einstieg in Wirtschaftsreformen ist gelungen, wenn auch die Dynamik zu wünschen übrig lässt. Insbesondere der Gasmarkt wurde marktwirtschaftlich reorganisiert, obwohl das unpopulär war; Zwischenhändler wurden ausgeschaltet. Für alle öffentlichen Beschaffungen wurde ein elektronisches System eingeführt, das der weit verbreiteten Korruption entgegenwirkt (s. Interner Link: Beitrag von Halyna Kokhan auf S. 11). Nach Einschätzung der Regierung sind die Weichen für ein Wirtschaftswachstum von 2016 an gestellt.

Viel Anerkennung hat die Polizeireform gefunden, die seit 2015 nach und nach in allen Landesteilen durchgeführt wird. Alle früheren Milizangehörigen mussten sich einer Überprüfung und Zusatzausbildung unterziehen oder aus dem Dienst ausscheiden. Tausende von neuen Polizeibeamten, ein Viertel von ihnen Frauen, wurden eingestellt. Sie erhalten eine qualifizierte Ausbildung, werden besser bezahlt und gelten als nicht bestechlich.

Vertrauenskrise im Parlament und in der Regierung

Trotz der positiven Errungenschaften überwiegen in der Gesellschaft und im kritischen Teil des Establishments Frustration, Enttäuschung und Empörung über fehlende Reformfortschritte, ausbleibende ökonomische Verbesserungen und vor allem über die allgegenwärtige Korruption. Es ist nicht gelungen, entscheidende Schritte zur Trennung von Wirtschaft und Politik einzuleiten. Die Privatisierung zahlreicher Staatsbetriebe steht erst noch bevor. Die zumeist in der Öffentlichkeit kaum sichtbaren Oligarchen haben nach wie vor im Parlament "ihre" Abgeordneten und zwar in verschiedenen Parteien. Sie besitzen und steuern Fernsehkanäle und damit die öffentliche Meinung (Interner Link: Ukraine-Analysen Nr. 163, S. 10). Intransparenz und Hinterzimmerabsprachen beherrschen die Politik, insbesondere in wirtschaftlich relevanten Fragen. Konkurrenz und Wettbewerb bleiben auf der Strecke.

Das "System" ist also auch nach dem Euromaidan nicht verschwunden. Aber es gibt einen zweifachen Unterschied zu den Jahren vor 2013: Einzelne Radikalreformer haben heute Sitz und Stimme in den Institutionen der Macht und sogar in der Justiz, und sie verlangen Systemänderungen – von ihnen wird gleich die Rede sein. Zum anderen ist in vielen Bereichen eine starke Zivilgesellschaft aktiv, die eben nicht wie nach der Orangen Revolution 2005 wieder nach Hause gegangen ist. Sie artikuliert sich in den Massenmedien, den sozialen Netzwerken und hat zahlreiche Monitoring-Gruppen aufgebaut, die der Politik ständig und penetrant auf die Finger sehen und sich als Lobby für Reformen verstehen. Natürlich bleibt das Dilemma bestehen: Die Zivilgesellschaft kann nicht den demokratischen Staat regieren, auch wenn manche zivilgesellschaftliche Gruppen davon träumen.

Ein führender Radikalreformer in der Regierung, von Poroschenko persönlich empfohlen und bisher unterstützt, war Wirtschaftsminister Aivaras Abromavičius. Die seit Monaten hinter den Kulissen schwelenden Konflikte innerhalb der Regierung und der sie tragenden Koalition im Parlament traten mit der sensationellen Rücktrittserklärung von Abromavičius am 3. Februar 2016 offen zu Tage. Der im In- und Ausland als Garant für Reformen und Unbestechlichkeit hochgeschätzte Minister erklärte, es werde seit Monaten auf ihn und seine Mitarbeiter von Seiten des Ersten Stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden des "Blocks Petro Poroschenko" im Parlament, Ihor Kononenko, Druck ausgeübt, bestimmte Personen auf leitende Posten in lukrativen Staatsbetrieben zu ernennen, die dort Zugriff haben würden auf bedeutende Finanzströme. Der letzte Tropfen, der für Abromavičius das Fass zum Überlaufen gebracht hat, war offenbar der ihm telefonisch aus der Administration des Präsidenten vorgetragenen "Wunsch", einen eigenen Stellvertreter im Wirtschaftsministerium zu haben, der für die Staatsunternehmen zuständig sein sollte. Dieser Kandidat erschien im Wirtschaftsministerium und stellte sich als Stellvertreter des Ministers aus dem "Kommando von Kononenko" vor, wie Abromavičius der Presse berichtete. Kononenko selbst bestreitet jedes Fehlverhalten und wirft dem Minister "Hysterie" vor.

Das Rücktrittsgesuch von Abromavičius löste einen Sturm der Entrüstung aus. In einer gemeinsamen Erklärung drückten 12 Botschafter befreundeter westlicher Länder, darunter der deutsche und der amerikanische Botschafter in Kiew, ihr "tiefes Bedauern" darüber aus, dass ein Mann aus der Regierung ausscheidet, der echte Resultate bei Reformen in der Wirtschaft und der Bekämpfung der chronischen Korruption vorzuweisen habe.

In einer eilig einberufenen Sondersitzung des Kabinetts gelang es dem Ministerpräsidenten, vier weitere Minister, die zuvor ebenfalls ihren Rücktritt eingereicht hatten, zur Rücknahme ihrer Rücktrittsgesuche zu bewegen (Oleksandr Kwitaschwili, Minister für Gesundheitswesen, Andrij Pywowarski für Infrastruktur, Jurij Stets für Information, Oleksij Pawlenko für Landwirtschaft). Aber der Wirtschaftsminister nahm sein Rücktrittsgesuch nicht zurück und ist seither geschäftsführend im Amt. Nach der ukrainischen Verfassung kann nur das Parlament ein Rücktrittsgesuch akzeptieren oder ablehnen.

Abromavičius ist nicht der einzige Radikalreformer in der Exekutive. Auch die Erste Stellvertretende Innenministerin, Kateryna Zguladze, verantwortlich für die Polizeireform, übte scharfe Kritik an der ukrainischen Justiz und sagte, an die Öffentlichkeit gewandt: "Vertrauen Sie uns nicht. Vertrauen Sie insbesondere nicht den Worten. Beurteilen Sie uns nach den Taten und zwar streng". Ohne den fortdauernden Druck der ukrainischen Zivilgesellschaft und der westlichen Partner wird es keine Überwindung des postsowjetischen Systems geben.

Es sei noch einmal betont, dass die dargestellten Konflikte und schwerwiegenden Beschuldigungen nicht zwischen Regierungskoalition und Opposition ausgetragen werden, sondern innerhalb der regierenden Parlamentsmehrheit. Die Folgen bleiben begrenzt. Ihor Kononenko, einer der führenden Politiker der Fraktion des Präsidenten, ist nach wie vor im Amt und bestreitet alles.

Mykola Martynenko allerdings, ein Parlamentarier von Jazenjuks "Volksfront", legte nach massiven Korruptionsvorwürfen der ukrainischen Medien im Dezember 2015 sein Parlamentsmandat nieder. Trotzdem beteuert er natürlich seine Unschuld. Im Fall Martynenko dürfte der Druck auch deshalb zu stark geworden sein, weil gegen ihn in der Schweiz und in Tschechien strafrechtliche Untersuchungen wegen Bestechung laufen. Die Verschleißerscheinungen infolge der Vertrauenskrise zwischen politischer Klasse und Gesellschaft trafen besonders Ministerpräsident Jazenjuk und seine Partei "Volksfront". Sein persönliches Rating und das seiner Partei liegen bei Umfragen weit unter 5  %, das würde im Fall von Neuwahlen also nicht mehr zum Einzug in das Parlament reichen. Demgegenüber hat sich Poroschenko trotz der massiven öffentlichen Vorwürfe gegen ihn und seine Politik des "Sowohl-als-auch", die manche Hinterzimmerabsprachen zur Machterhaltung nennen, relativ gut in den Umfragen behaupten können (s. Interner Link: Tabelle 1 auf S. 6). Er profiliert sich als der "Moderator des defensiven Oligarchats" (Konrad Schuller).

Unreformierbare Justiz? Die Generalstaatsanwaltschaft

Die Reform der Justiz bleibt am weitesten hinter den Erfordernissen beim Aufbau einer modernen europäischen Gesellschaft zurück. Das mag auch mit dem sowjetischen Erbe zusammenhängen; damals war die Justiz lediglich die Magd der kommunistischen Partei. Es scheint, die postkommunistischen Reformer unterschätzen bis heute die Schlüsselrolle einer Justizreform. Dies zeigt ein Blick auf Georgien, wo bei der Reform von Wirtschaft und Politik große Fortschritte erreicht wurden, die aber durch die nicht zureichend reformierte Justiz bedroht bleiben.

Dem Generalstaatsanwalt kommt bei der Korruptions- und Verbrechensbekämpfung eine Schlüsselrolle zu. Manche Vorgänge legen jedoch den Schluss nahe, dass Interessenwahrnehmung vor Verbrechensbekämpfung rangiert. Derzeit steht mit Wiktor Schokin bereits der dritte Generalstaatsanwalt in der Post-Maidan-Zeit vor seiner Ablösung. Jedenfalls hat er nach Aufforderung durch Präsident Poroschenko am 3. Februar ein Rücktrittsgesuch eingereicht, das allerdings bis heute nicht vom Parlament behandelt wurde. Sowohl Vertreter der Zivilgesellschaft als auch westliche Partner fordern seit Monaten auch öffentlich Schokins Entfernung aus dem Amt, weil er ein Hindernis bei der Bekämpfung der Korruption sei.

Dazu ein Beispiel: Im Juli 2015 wurden bei einem Antikorruptionseinsatz zwei hochrangige Staatsanwälte auf frischer Tat ertappt. Man fand bei ihnen Bargeld in Höhe von 500.000 US-Dollar sowie Schmuck und Edelsteine im Wert von 700 US-Dollar. Seither heißt diese Affäre in der Öffentlichkeit der Fall der "diamantenen Staatsanwälte". Die Initiative zu dieser Säuberung im eigenen Haus ging von zwei Stellvertretern des Generalsstaatsanwalts, David Sakwarelidze und Witalij Kasko, aus. Von Schokin wurde dagegen massiver Druck auf seine Stellvertreter ausgeübt, die Untersuchung einzustellen. Die Untersuchungsrichter im Fall der "diamantenen Staatsanwälte" wurden ihrerseits mit Strafverfahren bedroht. Schließlich verbot Schokin seinem Stellvertreter Kasko eine Dienstreise in die USA und entzog ihm alle Funktionen in der Generalstaatsanwaltschaft. Daraufhin trat Kasko am 15. Februar 2016 zurück. Auch in diesem Fall spielte Ihor Kononenko, Stellvertretender Fraktionsvorsitzender des "Blocks Petro Poroschenko" im Parlament, als grauer Kardinal im Hintergrund eine Rolle. Er habe, so Kasko nach seinem Rücktritt, massiv versucht, auf Untersuchungsergebnisse der von ihm geführten Verfahren Einfluss zu nehmen. Schokin sei der Erfüllungsgehilfe von Kononenko gewesen.

Der Versuch einer Reform der Staatsanwaltschaft im Jahr 2015 brachte nur mäßige Erfolge. Durch eine Lustration und Neubesetzung der örtlichen leitenden Staatsanwaltspositionen sollten möglichst viele neue Juristen in Leitungsfunktionen kommen. Nach einem komplizierten Auswahlverfahren stellte sich im Dezember 2015 heraus, dass alle 154 "neuen" leitenden Staatsanwälte auf lokaler Ebene bereits zuvor Staatsanwälte gewesen waren, die meisten auch vorher in leitender Stellung. Eine Kadererneuerung fand also nicht statt. Lediglich die Zahl der Staatsanwälte wurde drastisch reduziert. Eine zivilgesellschaftliche begleitende Monitoring-Gruppe machte allerdings zur Erklärung auch deutlich, dass die angebotene Bezahlung sehr bescheiden war, sodass gute Juristen in der Wirtschaft wesentlich lukrativere Angebote finden.

Die Justiz leistet auch sonst vielfach Widerstand gegen die Erneuerung und gilt in der Öffentlichkeit als Hort des postkommunistischen Systems, wenn nicht sogar der Diktatur von Janukowitsch. Bislang wurde kein einziger führender Mitarbeiter von Präsident Janukowitsch verurteilt. Im Februar 2016 weigerte sich das Petschersk Bezirksgericht in Kiew, eine Strafsache gegen Oleksandr Jefremow zu verhandeln, indem das gesamte Richterkollegium sich für nicht zuständig erklärte. Jefremow war bis Februar 2014 Vorsitzender der Parlamentsfraktion der "Partei der Regionen" und einer der engsten Weggefährten Janukowitschs. In der Strafsache geht es um Amtsmissbrauch und Korruptionsvorwürfe. Das gleiche Gericht hatte es im Januar 2016 abgelehnt, die Strafsache gegen die "diamantenen Staatsanwälte" zur Verhandlung anzunehmen.

Keiner der Todesschützen auf dem Maidan im Februar 2014 oder ihre Hintermänner wurden bisher verurteilt. Zwar gibt es Hunderte von Strafsachen und Tausende von Aktenordnern, aber bislang wurden lediglich in einem Fall die Entführer eines Demonstranten (Mychajl Hawryljuk) verurteilt. Eine mögliche Erklärung besteht wohl darin, dass hier Richter Verbrechen verurteilen sollen, die dem System Janukowitsch zuzurechnen sind, zu dem sie selbst gehört haben.

Die Entlassung einiger Richter, denen nachgewiesen wurde, dass sie während des Maidan Demonstranten unrechtmäßig verurteilten, dürfte kaum ausreichen, um eine gerichtliche Aufarbeitung der Diktatur Janukowitsch und ihres Endes zu gewährleisten. Deshalb fordern Innenminister Arsen Awakow und Ministerpräsident Jazenjuk die Entlassung sämtlicher Richter, ihre Lustration und gegebenenfalls Wiederbestellung – in einem ähnlichn Verfahren wie bei den Polizeibeamten.

Schlussfolgerung

Die Nichtaufarbeitung der Verbrechen vom Maidan wird von der Gesellschaft der Führung Poroschenko/Jazenjuk zugerechnet, zumal die Toten vom Maidan, die Hundertschaft im Himmel (nebesna sotnja), zu nationalen Märtyrern und neuen Identifikationsfiguren der Nation geworden sind. So schwelt die Vertrauenskrise fort, und sie erhält ständig neue Nahrung durch immer neue Korruptionsvorwürfe, die öffentlich gemacht werden. Natürlich können Außenstehende und auch die ukrainische Zivilgesellschaft in der Regel nicht beurteilen, ob die Korruptionsvorwürfe berechtigt sind. Solange es kein Vertrauen zu den Gerichten und keine gerichtlichen Verurteilungen gibt, haben die Beschuldigungen, zumal in der Ära der digitalen Netzwerke, die Tendenz, ins Riesenhafte zu wachsen: ein Teufelskreis.

Dringend geboten sind jetzt Schritte zur Überwindung der politischen Krise, auch so kann ein Beitrag zur Eindämmung der Vertrauenskrise geleistet werden. Das Parlament muss eine neue Mehrheitskoalition zusammenzubringen und neue Minister installieren, die nur vom Parlament eingesetzt werden können. Sollte das nicht gelingen, sind Neuwahlen denkbar, gegen die sich aber bislang Präsident und Ministerpräsident wehren. Die Werchowna Rada wird am 15. März aus dem (wohlverdienten?) Urlaub zurückerwartet.

Fussnoten

Prof. Dr. Gerhard Simon ist Historiker, war Leitender Wissenschaftlicher Direktor im Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien in Köln und lehrte an den Universitäten Köln und Bonn.