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Kommentar: 30 Jahre ukrainische Unabhängigkeit | Ukraine-Analysen | bpb.de

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Kommentar: 30 Jahre ukrainische Unabhängigkeit

David R. Marples Von David R. Marples (University of Alberta)

/ 7 Minuten zu lesen

Während einer Demonstration machen die Demonstrierenden eine Pause vor dem ukrainischen Parlament. (© picture-alliance/dpa, TASS | Irina Yakovleva)

Politikmüde

Als die Ukraine vor 30 Jahren ein Referendum über ihre Unabhängigkeit abhielt, stimmten 90 % dafür. Selbst auf der Krim, und separat in der Stadt Sewastopol, stimmten 54 % bzw. 57 % mit ja. Heute, wo die Krim von Russland besetzt ist und der östliche Teil des Donbas unter der Kontrolle durch Russland unterstützter Kämpfer steht, findet sich die Ukraine in einer schwierigen Lage. Der Präsident, Wolodymyr Selenskyj, ist deutlich weniger beliebt als zum Zeitpunkt seiner Wahl 2019 und keine der Parteien im Parlament ist beliebt. Es gibt auch eine gewisse Apathie. Wie ein Ukrainer aus Cherson in sozialen Medien prägnant kommentierte: "Die Intensität des politischen Konfliktes ist stark zurückgegangen – alle sind einfach nur müde."

Sie sind der politischen Umwälzungen müde, von denen sie seit der Unabhängigkeit zwei durchlebt haben: die Orange Revolution nach den umstrittenen Wahlergebnissen 2004, die Moskaus Favorit, Viktor Janukowitsch, vor seinem national-demokratischen Gegner Viktor Juschtschenko sahen, und den Maidan bzw. die Revolution der Würde, die mit Protesten gegen denselben Janukowitsch begann, als er sich Ende 2013 weigerte ein Assoziierungsabkommen mit der EU zu unterschreiben und die im Februar 2014 mit dem Tod von etwa 100 Protestierenden durch Scharfschützen eskalierte, gefolgt vom frühzeitigen Abgang Janukowitschs – er floh aus Kiew und tauchte letztendlich in Russland wieder auf, dem Verlust der Krim und dem Krieg in der Ostukraine, der immer noch weitergeht.

Sie sind auch der reichen Oligarchen müde, die die Ukraine unter sich aufteilen und sie zu ihrem persönlichen Vorteil ausbeuten, während der Lebensstandard für die Mehrheit der Bevölkerung sinkt. Jeder Präsident hat sich mit ihrem wachsenden Einfluss beschäftigt und mit der überwältigenden Korruption, die Fortschritte verhindert. Bisher konnte kein Präsident auf eine stabile Mehrheit im Parlament zählen.

Die Ukraine sieht sich so mit Fragen konfrontiert, die 1991 nicht gelöst wurden. Kurz gesagt: Die Ukraine erhielt die Unabhängigkeit ohne große Vorbereitung und als Folge des Auseinanderbrechens der Sowjetunion im Zuge des gescheiterten Putsches in Moskau im August 1991 und der gezielten Kampagne des russischen Präsidenten Boris Jelzin zur Entmachtung seines sowjetischen Gegenparts Michael Gorbatschow.

Die Lage im Jahr 1991

1991 dominierten die Kommunisten noch das Parlament, aber sie waren zerstritten. Die Spaltungen waren schon zwei Jahre vorher nach dem Rücktritt und vermutlichen Selbstmord des langjährigen Parteichefs Wolodymyr Schtscherbytskyj offensichtlich geworden. Sein Vertreter Wolodymyr Iwaschko entschied sich für Gorbatschow in Moskau zu arbeiten und trat schon nach einigen Monaten zurück. Sein Nachfolger, Stanislaw Hurenko, ein Hardliner wie Schtscherbytskyj, erhielt wenig Unterstützung und die Reformer im Parlament, angeführt vom früheren Parteisekretär für Ideologie, Leonid Krawtschuk, begannen eine Neuorientierung.

Alle großen Probleme, mit denen sich die Ukraine 2021 konfrontiert sieht, waren schon 30 Jahre früher sichtbar: Die Krim fiel unter den Einfluss separatistischer und pro-russischer Politiker; die Bergleute im Donbas waren frustriert nachdem ihre Streiks 1989 und 1990 erfolglos geblieben waren und einige Politiker verlangten mehr Autonomie für die Region; Russland erwies sich als schwierig. Jelzin war bereit mit der ukrainischen Führung zu kooperieren, um Gorbatschow und die Kommunistische Partei zu entmachten, aber die Frage einer unabhängigen Ukraine wurde vertagt. Zumindest erwartete Jelzin, dass die Ukraine ein vollwertiges Mitglied der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten werden würde.

In der Ukraine gab es keinen wirklichen Wandel in der politischen Führung. Nach der Erklärung der Unabhängigkeit am 24. August 1991 wurde die Ukraine immer noch von Kommunisten oder früheren Kommunisten regiert. Aufgrund der langen Tradition der Opposition, insbesondere in der Westukraine, hätte man erwarten können, dass die politische Elite jetzt aus denen bestehen würde, die unter dem sowjetischen Regime gelitten hatten: ehemalige politische Gefangene, Dissidenten, Deportierte. Aber am 01. Dezember 1991 wurde Krawtschuk in der ersten Runde mit 62 % der Stimmen zum Präsidenten gewählt, während der ehemalige Dissident Wjatscheslaw Tschornowil, der für die Ruch (Volksbewegung der Ukraine) kandidierte, mit 23 % deutlich abgeschlagen war. Ein weiterer Dissident, Lewko Lukjanenko, Vorsitzender der Ukrainischen Republikanischen Partei, erhielt als Drittplatzierter gerade einmal 5 %. Spätere Wahlen wurden von Vertretern der alten Eliten aus Politik, Verwaltung und Management bestritten. 1999 kam der Vorsitzende der Kommunistischen Partei, Petro Symonenko, in die zweite Runde der Präsidentenwahl, wo er gegen Leonid Kutschma verlor, der in der Sowjetunion als Manager bis ins Zentralkomitee der Kommunistischen Partei der Ukraine aufgestiegen war.

Wirtschaftlich war die Ukraine 1991 eng mit den sowjetischen Partnern verbunden und sie war stark abhängig von russischen Energielieferungen. Im gesamten Jahr 1991 gab es in Kiew Sorgen vor einer russischen Intervention. Es gab aber auch Optimismus, insbesondere außerhalb der Ukraine. Die Deutsche Bank zum Beispiel sah die Ukraine unter allen Staaten auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion als denjenigen mit dem größten wirtschaftlichen Wachstumspotential. Die zentrale Sorge der USA bezog sich auf die Atomwaffen auf ukrainischem Territorium. Die große ukrainische Diaspora in Kanada und den USA bot auf viele Weise Hilfe an: Forschungsprojekte, Rechtsreformen, Finanzberatung und vor allem kompetente Fachkräfte. Viele zogen damals in die Ukraine. Im Rückblick waren die Erwartungen und der Optimismus nicht nur naiv, sie zeigten ein fundamentales Missverständnis bezüglich des Charakters des Staates von 1991.

Kommunistisches Erbe

Die Ukraine wurde unabhängig, weil das Zentrum in Moskau kollabierte. Aber in den späten 1980er Jahren was es Moskau, in der Person des umtriebigen und regen Gorbatschow, das für die Ukrainische Sowjetrepublik, die im Würgegriff kommunistischer Hardliner steckte, die beste Chance auf Wandel bot. In der sowjetischen Führung hatten Männer, die in den Industrieregionen der Ukraine aufgewachsen waren und loyal zur Sowjetunion standen, für viele Jahre eine dominante Rolle gespielt – von Nikita Chruschtschow, der seine frühe Karriere weitestgehend in der Ukraine verbrachte, bis zu Leonid Breschnew, der bis 1982 die Geschicke der Sowjetunion bestimmte. In weiten Teilen der Ukraine blieb diese kommunistische Mentalität erhalten. 1991 war sie weiterhin dominant, was auch immer die Rhetorik von Politikern in Kiew oder Lwiw suggerierte. Sie konnte nicht über Nacht geändert werden.

Bei einer Tour auf dem Dnepr im Jahre 1991 – und sogar noch 2011 – würde das Boot irgendwann in einer Schleuse landen, die mit dem steigenden Wasser den Blick auf die größte Lenin-Statue der Welt in all ihrer Majestät freigeben würde. Selbst für den Nationaldichter Taras Schewtschenko gab es nichts in ähnlicher Größe. Die großen Industriestädte im Osten waren nach Kommunisten benannt worden: Woroschilowhrad (seit 1992 Luhansk), Dniprodserschynsk (seit 2016 Kamjanske), Dnipropetrowsk (seit 2016 Dnipro) und früher Stalino, welches bereits Chruschtschow 1961 in Donezk umbenannte. Es ist deshalb wenig überraschend, dass die Kommunisten nach der Unabhängigkeit an der Macht blieben. Die informellen Clans von Donezk und Dnipropetrowsk kämpften in den 1990er Jahren um die politische Vorherrschaft: Pawel Lazarenko, Julia Timoschenko und Viktor Janukowitsch waren die bekanntesten Namen – sie übernahmen die Leitung der Regierung und das Präsidentenamt. Alle stiegen mit Hilfe ihrer Geschäftsverbindungen und Seilschaften auf.

Obwohl die Ukraine gut mit Bodenschätzen ausgestattet war und berühmt war für ihre Landwirtschaft, waren die wirtschaftlichen Defizite unübersehbar. 1991 war der Anteil der Ukraine an der landwirtschaftlichen Produktion der Sowjetunion kleiner als ihr Anteil an der sowjetischen Bevölkerung. Die Kohleproduktion sank drastisch, da die leicht zugänglichen Vorkommen zunehmend erschöpft waren. Die Stahlwerke hatten dringenden Modernisierungsbedarf. Die Arbeiter waren protestfreudig. Es gab regelmäßige Streiks und die Umweltbewegung hatte nach der Tschernobyl-Katastrophe den Ausbau der Atomenergie verhindert. Ein Jahr vor der Unabhängigkeit verhängte die Regierung ein Moratorium für den Bau neuer Atomreaktoren. Das Erbe von Tschernobyl gewann mit der Dezentralisierung und der schwindenden Aufmerksamkeit Moskaus in der Ukraine an Bedeutung.

Selbstfindung

Letztendlich war es 1991 nie ganz klar, ob die ukrainische Bevölkerung genau wusste, wer sie war und wie sie eine neue Identität entwickeln würde. Die Hungersnot von 1933 war für Intellektuelle ein Thema, nach dem es Jahrzehnte zensiert worden war, aber die Erinnerungen wurden in den meisten Regionen nicht formuliert. Die großen Säuberungen unter Stalin wurden in den Medien diskutiert, aber wieder einmal war die Initiative von der Führung aus Moskau gekommen. Die Ukraine hatte eine ältere Geschichte: die Zeit der Kosaken, der große Hetman Bohdan Chmelnyzkyj, und Iwan Mazepa, aber es gab große Meinungsunterschiede und Narben bezüglich des Zweiten Weltkriegs, insbesondere in der Westukraine, wo es bittere Partisanenkämpfe gegen die sowjetische Herrschaft gegeben hatte. Das heroische sowjetische Narrativ der Roten Armee und der sowjetischen Partisanen war hingegen in den meisten anderen Regionen der Ukraine vorherrschend.

Die letzten 30 Jahre sind für die Ukraine nicht erinnerungswürdig gewesen. Sie haben Elend, Konflikte und Desillusion gebracht – in einer Umfrage erwog jeder Dritte die Emigration. Andererseits haben sie eine gewisse Einheit, mehr Klarheit über die nationale Identität und einen Wandel der Haltung gegenüber Russland (negativer) und dem Westen (positiver) gebracht. Anders als ihre direkten Nachbarn im Norden und Nordosten hält die Ukraine demokratische Wahlen ab, hat eine freiere Presse, und trotz einiger Ausrutscher hat sie ihren Platz auf der Weltbühne eingenommen. 30 Jahre sind die längste Zeit der Unabhängigkeit in der ukrainischen Geschichte. Das ist für sich genommen schon ein nicht zu vernachlässigendes Ergebnis, wie schon die Nationalhymne zeigt: "Noch ist die Ukraine nicht gestorben".

Übersetzung aus dem Englischen: Heiko Pleines

Fussnoten

Weitere Inhalte

David R. Marples ist Professor an der Fakultät für Geschichte der Universität von Alberta in Kanada. Sein Forschungsschwerpunkt ist die osteuropäische Geschichte im 20. Jahrhundert.