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Analyse: Die Umsetzung der Minsker Vereinbarungen: Was ist möglich? | Ukraine-Analysen | bpb.de

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Analyse: Die Umsetzung der Minsker Vereinbarungen: Was ist möglich? Ukraine-Analysen Nr. 261

Heiko Pleines Von Heiko Pleines (Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen)

/ 12 Minuten zu lesen

v. l. n. r.: Der russische Präsident Wladimir Putin, die ehemalige deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel, der ehemalige französische Präsident François Hollande und der ukrainische Präsident Petro Poroschenko während der Ukraine-Krisengespräche im Normandie-Format 2015 in Minsk (© picture-alliance/dpa, Tatyana Zenkovich / Pool)

Zusammenfassung

Im Kontext der aktuellen internationalen Krise um den russischen Truppenaufmarsch an der Grenze zur Ukraine wird regelmäßig auf die Minsker Vereinbarungen von 2014/15 Bezug genommen, die den gewaltsamen Konflikt in der Ostukraine beilegen sollten. Fortschritte werden aber seit langem dadurch verhindert, dass Russland und die Ukraine sich gegenseitig vorwerfen, ihre Verpflichtungen aus den Minsker Vereinbarungen nicht zu erfüllen und so die Umsetzung zu blockieren. Hier wird deshalb eine kurze Bestandsaufnahme der vorgesehenen Maßnahmen und ihrer Umsetzung vorgenommen, um die Chance auf Fortschritte realistisch einschätzen zu können.

Entstehungsgeschichte

Nachdem der bewaffnete Konflikt in der Ostukraine im Sommer 2014 eskaliert war, wurden von den Staatschefs der Ukraine, Russlands, Deutschlands und Frankreichs im Juni 2014 in der Normandie Verhandlungen zur Beilegung des Konfliktes aufgenommen. Vertreter der pro-russischen Separatisten sind hier offiziell nicht eingebunden.

Die Minsker Abkommen wiederum wurden von der trilateralen Kontaktgruppe bestehend aus der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit (OSZE), der Ukraine und Russland unter Anwesenheit von Vertretern der pro-russischen Separatisten (also der selbsterklärten Donezker und Luhansker Volksrepubliken – "DNR" und "LNR") vereinbart. Die erste Vereinbarung wurde im September 2014 in Minsk unterzeichnet ("Minsker Protokoll", Externer Link: https://peacemaker.un.org/sites/peacemaker.un.org/files/UA_140905_MinskCeasfire_en.pdf). Nach dem erneuten Ausbrechen massiver Kampfhandlungen im Januar 2015 wurde im Februar 2015 ein ergänzendes Maßnahmenpaket zur Umsetzung der Minsker Vereinbarungen beschlossen ("Minsk 2", Externer Link: https://peacemaker.un.org/sites/peacemaker.un.org/files/UA_150212_MinskAgreement_en.pdf), das im Normandie-Format vorbereitet worden war.

Im Kontext der aktuellen internationalen Krise um den russischen Truppenaufmarsch an der Grenze zur Ukraine wird regelmäßig auf die Minsker Vereinbarungen Bezug genommen. Der französische Präsident Emmanuel Macron erklärte nach separaten Treffen mit dem russischen Präsidenten in Moskau und dem ukrainischen Präsidenten in Kiew am 8. Februar 2022, dass die Minsker Vereinbarung der einzige Weg sei, Frieden sowie eine politisch dauerhafte Lösung zu erreichen. Die Vereinbarung sei der beste Schutz für die territoriale Integrität der Ukraine. Bereits am 27. Januar 2022 hatte das erste Treffen im "Normandie-Format" zur Diskussion des Konfliktes seit 2019 stattgefunden. Ein Arbeitsgespräch folgte am 10. Februar.

Hier wird deshalb eine kurze Bestandsaufnahme der vorgesehenen Maßnahmen und ihrer Umsetzung vorgenommen, um die Chance auf Fortschritte realistisch einschätzen zu können. Für eine bessere Übersichtlichkeit wurden alle Bestimmungen der beiden Minsker Vereinbarungen nach inhaltlichen Kriterien zusammengefasst.

Waffenstillstand

Die Minsker Vereinbarungen sehen einen Waffenstillstand vor, wobei die Regelungen in Minsk 2 präziser sind und zeitliche Vorgaben enthalten. Der Waffenstillstand soll durch die OSZE überwacht werden. Schwere Waffen sollten zurückgezogen werden. Ausländische Militärkräfte sollten das Land verlassen. Es ist ein Flugverbot für Kampfflugzeuge und Drohnen vorgesehen, mit Ausnahme von Beobachtungsdrohnen der OSZE. An der ukrainisch-russischen Grenze sollte eine durch die OSZE-überwachte Sicherheitszone geschaffen werden (Minsk 1), und nach Umsetzung der politischen Lösung sollte die Ukraine die volle Kontrolle über die Grenze erhalten (Minsk 2). Alle Gefangenen sollten freigelassen werden, und alle am Konflikt Beteiligten sollten unter eine Amnestieregelung fallen.

Das in Minsk 1 vorgesehene Amnestiegesetz wurde bereits im September 2014 vom ukrainischen Parlament verabschiedet. Ein Austausch von Gefangenen hat wiederholt stattgefunden, wurde aber bisher nicht vollständig durchgeführt.

Der Waffenstillstand wurde nicht eingehalten. In den folgenden Jahren gab es mehrfach erneute Vereinbarungen, den Waffenstillstand umzusetzen. Die OSZE-Beobachtermission registriert jedoch von beiden Seiten fortwährend Verletzungen des Waffenstillstands. Dabei wird insbesondere durch die Separatisten die Arbeit der Beobachtermission häufig behindert. Noch im Februar 2022 identifizierte die Beobachtermission schwere Waffen auf der Seite der Separatisten, die gegen die Rückzugslinien verstießen. (Die täglichen Berichte der Mission finden sich hier: Externer Link: https://www.osce.org/ukraine-smm/reports)

Die Sicherheitszone an der Grenze zu Russland wurde nicht eingerichtet. Stattdessen ließ Russland nur die Überwachung von zwei Grenzübergängen durch die OSZE zu. Auch diese Überwachung musste Ende September 2021 auf Russlands Wunsch beendet werden.

Es gibt regelmäßig gut dokumentierte Hinweise auf reguläre russische Soldaten in der Ostukraine. So wurden in der Anfangsphase russische Soldaten in der Ukraine gefangen genommen und in der Ukraine gefallene russische Soldaten anonym in Russland beerdigt. Russische Soldaten veröffentlichten in sozialen Medien Fotos von ihren "Übungen", bei denen die automatisch ergänzten GPS-Daten die Ostukraine als Standort anzeigten. Zuletzt verhängte ein Gericht in der russischen Stadt Rostow im November 2021 ein Urteil wegen Bestechung im Zusammenhang mit der Lebensmittelversorgung der "militärischen Einheiten der russischen Armee, die auf dem Gebiet der selbst-erklärten DNR und LNR stationiert sind". Russland hat dies offiziell als Missverständnis bezeichnet, ohne zu erklären wie so ein Missverständnis möglich sein konnte. Es kann also davon ausgegangen werden, dass entgegen der Vorgaben der Minsker Vereinbarungen die russische Armee in den "Volksrepubliken" präsent ist.

Politische Lösung

Die Minsker Abkommen sehen zwei zentrale Elemente einer politischen Lösung vor: vorgezogene Lokalwahlen in den Separatistengebieten entsprechend der ukrainischen gesetzlichen Regelungen und Dezentralisierung des ukrainischen Staatsaufbaus. Die Lokalwahlen sollen OSZE-Standards entsprechen und von der OSZE beobachtet werden. Wahlen und Dezentralisierung sollten mit Vertretern der Separatisten vereinbart werden. Dabei wird die konkrete Ausarbeitung der politischen Lösung auf weitere Verhandlungen in der trilateralen Kontaktgruppe verschoben.

Nach Minsk 1 verabschiedete die Ukraine umgehend ein Gesetz zum Sonderstatus der Gebiete in der Ostukraine, die sich nicht unter Regierungskontrolle befinden. Das Gesetz schuf die Grundlage für vorgezogene Lokalwahlen im Separatistengebiet, die im Dezember 2014 stattfinden sollten. Bereits im November führten die Separatisten dann im von ihnen kontrollierten Gebiet Wahlen (Externer Link: https://www.laender-analysen.de/ukraine-analysen/140/wahlen-in-den-separatistengebieten/) durch, die der Minsker Vereinbarung in zentralen Punkten nicht entsprachen, da sie weder ukrainischem Recht noch demokratischen Standards gerecht wurden und nicht als Lokalwahlen sondern als Präsidenten- und Parlamentswahlen eines unabhängigen Staates deklariert wurden.

In Reaktion auf Minsk 2 wurde das Gesetz über den Sonderstatus dann von der Ukraine im März 2015 erweitert. Gleichzeitig wurde festgelegt, dass die Gebiete ihren Sonderstatus mit weitgehenden Autonomierechten erst nach der Durchführung ordentlicher Lokalwahlen entsprechend der Vorgaben der Minsker Vereinbarungen erhalten. Bis zur Durchführung solcher Lokalwahlen gilt für das Separatistengebiet gemäß eines zusätzlichen Beschlusses des Parlaments der Status eines vorübergehend besetzten Territoriums. Die Ukraine hat sich damit der in Minsk 2 vorgesehenen Absprache der Lokalwahlen mit den Separatisten verweigert, nachdem diese sich nicht an die Vorgaben der Minsker Abkommen bezüglich der Lokalwahlen gehalten hatten. Der autoritäre Charakter der aktuellen politischen Machtstrukturen in "DNR" und "LNR" lässt die Durchführung demokratischer Wahlen unter OSZE-Beobachtung weiterhin als unrealistisch erscheinen.

Für die in den Minsker Vereinbarungen vorgesehene Dezentralisierung der Ukraine ist eine Verfassungsreform erforderlich, da die zentralstaatliche Organisation in der Verfassung festgelegt ist. Anfang März 2015 setzte der damalige ukrainische Präsident Petro Poroschenko für diese Aufgabe eine Verfassungskommission ein, zu der auch Vertreter aus der Ostukraine – aber keine von den Separatisten akzeptierten Teilnehmer – eingeladen wurden. Als das Parlament den resultierenden Entwurf Ende August 2015 diskutierte, kam es vor dem Parlamentsgebäude zu gewalttätigen Ausschreitungen, in deren Folge vier Polizisten starben. Nationalistische Mitglieder der Regierungskoalition traten aus Protest gegen das Gesetz zurück.

Im Juni 2016 erklärte Poroschenko dann, dass die entsprechende Verfassungsänderung nur beschlossen werden könne, wenn zuvor ein beständiger Waffenstillstand erreicht und russische Kräfte aus der Region abgezogen worden seien. Im Januar 2018 verabschiedete das ukrainische Parlament ein Gesetz zur Reintegration der von Separatisten kontrollierten Gebiete, in dem Russland als "Aggressor und Besatzer" und damit als direkter Akteur der militärischen Handlungen in den besetzten Gebieten definiert wurde.

Die Versuche von Poroschenkos Nachfolger Wolodymyr Selenskyj, nach seinem Amtsantritt im Mai 2019 eine Entspannung des Konfliktes zu erreichen, wurden von Russland und den Separatisten nicht ernsthaft angenommen. Es gab zeitweise Erfolge bei der Durchsetzung des Waffenstillstands. Inhaltlich wurde für die Durchführung der Lokalwahlen die sogenannte Steinmeier-Formel aufgegriffen, die auf einen Vorschlag zurückgeht, den Frank-Walter Steinmeier während seiner Zeit als Außenminister gemacht hatte. Dieser Vorschlag sieht vor, dass die Ukraine nur für den Moment der Wahl den Separatistengebieten einen Sonderstatus gewährt und dieser Sonderstatus nur dann dauerhaft in Kraft tritt, wenn die Wahlbeobachtung durch die OSZE ein demokratisches Wahlergebnis bestätigt. Im Oktober 2019 bestätigten die Ukraine und die Separatisten gegenüber der OSZE im Rahmen der trilateralen Kontaktgruppe ihre Unterstützung für die Steinmeier-Formel. Seitdem hat es aber keine Fortschritte gegeben.

Wiederaufbau des Donbas

Minsk 1 behandelte den Wiederaufbau des Donbas nur in sehr allgemeiner Form. Minsk 2 machte dann ausschließlich konkretere Vorgaben für die sozio-ökonomischen Verbindungen zwischen dem Separatistengebiet und der restlichen Ukraine. Dabei geht es vor allem um die Wiederherstellung eines gemeinsamen Zahlungssystems und der Wiederaufnahme von Sozialleistungen, Zahlungen für die kommunale Versorgung und Steuerzahlungen.

Spätestens mit der Einstellung des Güterverkehrs durch die Ukraine und der Enteignung ukrainischer Unternehmen in der "DNR" und "LNR" im Jahre 2017 sind die direkten Wirtschaftsbeziehungen weitgehend zusammengebrochen. Bewohner der Separatistengebiete müssen in das von der Ukraine kontrollierte Gebiet einreisen, um Sozialleistungen wie etwa Renten zu beziehen. Es ist offensichtlich, dass der Wiederaufbau erst nach der Umsetzung des Waffenstillstands und zumindest dem Beginn einer politischen Lösung erfolgen kann.

Ambivalenzen

Die Minsker Vereinbarungen sind in zwei Aspekten so unpräzise, dass die Interpretation ihrer Vorgaben umstritten ist. Erstens benennen die Vereinbarungen für viele vorgesehene Maßnahmen keinen verantwortlichen Akteur. Die Formulierungen sind im Passiv. Minsk 1 nennt nur die OSZE als Verantwortlichen für die Kontrolle einiger Maßnahmen. Minsk 2 benennt für den Waffenstillstand klar die ukrainischen Truppen und die "bewaffneten Formationen aus bestimmten Teilen der Regionen Donezk und Luhansk der Ukraine", also die Separatisten. Bei den Vorgaben für die Verabschiedung ukrainischer Gesetze ist klar, dass Regierung und Parlament der Ukraine zuständig sind, auch wenn diese nicht namentlich genannt werden.

Der Verzicht auf die Benennung verantwortlicher Akteure für konkrete Maßnahmen ist eine Folge der angespannten Verhandlungssituation. Russland vertritt offiziell die Position, dass es keine am Konflikt beteiligte Partei ist, sondern als Vermittler an den Verhandlungen teilnimmt. Konfliktparteien sind aus russischer Sicht allein die Ukraine und die Separatisten. Dementsprechend enthalten die Vereinbarungen keine direkte Handlungsanweisung an Russland.

Es ist aber klar, dass die in den Vereinbarungen vorgesehene Kontrolle der russisch-ukrainischen Grenze nicht ohne die Beteiligung Russlands funktionieren kann. Wenn die Vereinbarungen den "Abzug aller ausländischen bewaffneten Verbände, militärischen Ausrüstung" (Minsk 2, Punkt 10) fordern, dann bedeutet die russische Position de facto, dass die Separatisten den Abzug der russischen Armee aus dem von ihnen besetzten Gebiet zu organisieren haben, ohne dass Russland damit etwas zu tun hätte

Die Ukraine wiederum ist nicht bereit, die Vertreter der international nicht anerkannten "Volksrepubliken", die sie als Terroristen bezeichnet, durch direkte Verhandlungen zu legitimieren. Die Verhandlungen finden dementsprechend im Rahmen der "trilateralen" Kontaktgruppe statt, die sich auf OSZE, Ukraine und Russland als die drei beteiligten Akteure bezieht. Vor allem will die Ukraine vermeiden, dass die von Russland abhängigen Separatisten ein Mitspracherecht bei Lokalwahlen und Verfassungsreform bekommen. Gleichzeitig sehen die Minsker Vereinbarungen aber eindeutig die Abstimmung mit den Separatisten zu diesen Themen vor.

Zweitens wird in den Minsker Vereinbarungen kein eindeutiger Zeitplan für die Umsetzung festgelegt. Es wäre logisch erst mit dem Waffenstillstand zu beginnen und dann mit der politischen Lösung und dem Wiederaufbau fortzufahren. Die Minsker Vereinbarungen geben aber hier keine vollständige Reihenfolge vor. Minsk 1 verzichtet komplett auf einen Zeitplan. Die einzige Zeitangabe bezieht sich auf den Waffenstillstand und die Freilassung von Geiseln, die "umgehend" erfolgen sollen.

Minsk 2 macht konkrete Zeitangaben für den Waffenstillstand, einschließlich des Abzugs schwerer Waffen und des Gefangenenaustausches, sowie für die rechtliche Festlegung des Gebietes für das die Sonderregeln gelten, also des Separatistengebietes, durch das ukrainische Parlament. Alle diese Maßnahmen sollen bereits nach 30 Tagen, also Mitte März 2015, umgesetzt sein. Die ukrainische Verfassungsreform soll bis Ende 2015 in Kraft treten. Eine zeitliche Abfolge gibt es nur in zwei Fällen: Am ersten Tag nach dem Abzug der schweren Waffen soll der Dialog über die Lokalwahlen beginnen. Nach der Durchführung der Lokalwahlen und der Verfassungsreform soll die Ukraine die volle Kontrolle über die Grenze übernehmen. Für die Lokalwahlen selber gibt es keine Zeitangabe.

Nach der Unterzeichnung von Minsk 2 war schnell klar, dass mit Ausnahme der ukrainischen Gesetze zur Amnestie und zur Definition der Separatistengebiete keine einzige der für die ersten 30 Tage vorgesehenen Maßnahmen vollständig umgesetzt wurde. Im Ergebnis hat jede Seite nach eigenem Belieben bestimmte Maßnahmen priorisiert, ohne dass die Minsker Vereinbarungen dafür eine belastbare Grundlage bieten. Festgehalten werden kann aber, dass Minsk 2 eigentlich Verhandlungen über Lokalwahlen erst nach dem Abzug schwerer Waffen vorsieht, der immer noch nicht vollständig umgesetzt wurde, und dass die Ukraine die vollständige Kontrolle über die Grenze zu Russland erst nach Lokalwahlen und Verfassungsreform erhalten soll.

Ein drittes Problem ergibt sich daraus, dass die Minsker Vereinbarungen viele Fragen offen lassen und de facto auf spätere Verhandlungen verschieben. So sollen z. B. die Lokalwahlen nach ukrainischem Recht und demokratischen Standards durchgeführt werden. Hier ergeben sich sofort vier problematische Fragen:

  • Wer darf wählen? Das ukrainische Wählerverzeichnis für die betroffenen Gebiete ist noch auf dem Stand von 2014. Ein großer Teil der Bevölkerung ist aus den Separatistengebieten geflohen und es ist unklar, ob dies einen Verlust des Wahlrechts bedeutet, auch wenn der Wohnsitz nicht abgemeldet wurde. Gleichzeitig bietet Russland den in den Separatistengebieten verbliebenen Bewohnern die russische Staatsbürgerschaft an, die aber nach ukrainischem Recht den Verlust der ukrainischen Staatsbürgerschaft und damit auch des Wahlrechts bedeuten würde.

  • Wer darf kandidieren? In den Separatistengebieten sind ukrainische Parteien verboten worden. Versammlungs-, Presse- und Meinungsfreiheit sind nicht gewährleistet. Es kommt zu willkürlichen Verhaftungen und Folter in Reaktion auf kritische politische Aussagen. Es ist unklar, wie unter diesen Bedingungen ein Wahlkampf erfolgen und Wahlen demokratischen Standards gerecht werden können.

  • Wer organisiert die Wahl? Die OSZE ist nur als Beobachter vorgesehen. Organisiert werden müsste die Wahl also durch die zuständigen ukrainischen Behörden. Diese müssten dazu in den Separatistengebieten eingerichtet werden und alle für die Wahl erforderlichen Kompetenzen und Informationen bekommen.

  • Was machen die Wahlgewinner? Die "Volksrepubliken" haben derzeit einerseits die Institutionen von Staaten, wie etwa Ministerien, einschließlich des Eigentums an vielen enteigneten Wirtschaftsbetrieben und andererseits eine Verwaltung, die mit Loyalisten besetzt wurde. Gewählte Bürgermeister und Stadträte können hier nicht einfach nahtlos ihre Ämter antreten.

Die Minsker Vereinbarungen machen auch keine Vorgaben, wer die "Vertreter bestimmter Gebiete der Regionen Donezk und Luhansk" sein sollen, mit denen die die Verfassungsreform zur Sonderrolle ihrer Gebiete abgestimmt werden soll. Von demokratischen Standards her gedacht sollten diese Vertreter demokratisch legitimiert sein, also erst nach den Lokalwahlen von den dann gewählten Repräsentanten dieser Gebiete bestimmt werden.

Resümee

Viele der in den Minsker Vereinbarungen vorgesehenen Maßnahmen sind unter den gegebenen Bedingungen völlig unrealistisch. Die Vorgabe, dass Lokalwahlen in den "Volksrepubliken" nach demokratischen Standards erfolgen sollen, macht ihre Durchführung de facto unmöglich, da die aktuellen Machthaber keine Wahlniederlage riskieren werden. Gleichzeitig ist zunehmend deutlich geworden, dass "DNR" und "LNR" sowohl militärisch als auch wirtschaftlich von Russland abhängig sind. Es stellt sich damit auch die Frage, inwieweit die Ukraine verpflichtet sein sollte, die Verfassungsreform zur Dezentralisierung mit demokratisch nicht legitimierten Vertretern der Separatisten abzustimmen. Ebenso hat sich gezeigt, dass die entsprechende Verfassungsreform unter diesen Umständen in der Ukraine politisch nicht durchsetzbar ist.

Offensichtlich ist auch, dass Russland für die "Volksrepubliken" weder freien Wahlen, die seinen Einfluss gefährden könnten, noch einem Ende seiner – offiziell nicht existierenden – militärischen Unterstützung zustimmen wird. Ohne eine grundlegende Änderung der politischen Konstellation sind damit im Rahmen der Minsker Abkommen nur Waffenstillstand und Gefangenenaustausch möglich. Auch diese wären für die Bewohner der Region ein wichtiger Fortschritt. Die Beziehungen Russlands zur NATO oder EU lassen sich dadurch aber wohl nicht verändern.

Wenn also trotz fehlender Erfolgsaussichten jetzt wieder im Normandie-Format über die Minsker Vereinbarungen gesprochen wird, dann gibt es dafür zwei Gründe. Vertreter Frankeichs, das derzeit die EU-Ratspräsidentschaft innehat, und Deutschlands hoffen offensichtlich, auf diese Weise längerfristig Gespräche mit Russland führen zu können. Dies bedeutet zum einen, dass die Initiative nicht allein bei USA und NATO liegt. Zum anderen wird immer wieder die Hoffnung geäußert, dass es nicht zu einer Eskalation kommt, solange noch Verhandlungen laufen. Unter Umständen gibt es auch Überlegungen, Russland durch Zugeständnisse bei den Minsker Vereinbarungen eine "gesichtswahrende" Deeskalation der aktuellen Krise zu ermöglichen.

Aus russischer Sicht dürfte es darum gehen, die Ukraine zu zwingen, die Separatisten als legitime Verhandlungspartner anzuerkennen. Nach den Gesprächen im Normandie-Format am 10.2.2022 verlangte der Vertreter Russlands so, dass Deutschland und Frankreich mehr Druck auf die Ukraine ausüben. Für Russland hätte ein solches Ergebnis eine Reihe von Vorteilen. Erstens würde zumindest indirekt die Position bestätigt, dass Russland keine Konfliktpartei ist. Damit könnten auch die entsprechenden Sanktionen gegen Russland neu in Frage gestellt werden. Zweitens würde die ukrainische Regierung innenpolitisch massiv unter Druck geraten, wenn sie tatsächlich die Separatisten als legitime Verhandlungspartner anerkennen würde. Eine innenpolitische Krise in der Ukraine würde Russlands Position stärken. Drittens würde Russland auch zeigen können, dass der Westen kein verlässlicher Partner ist, sondern seine "Freunde" schnell hängen lässt, ganz im Gegenteil zu Russland, das zuletzt in Belarus und Kasachstan gezeigt hat, dass es loyale Verbündete unterstützt. Gleichzeitig kann Russland durch seinen Einfluss auf die Separatisten sicherstellen, dass eine Einigung gegen russische Interessen unmöglich ist.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Prof. Dr. Heiko Pleines leitet die Abteilung Politik und Wirtschaft der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen.