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Kommentar: Frieden und Sicherheit für die Ukraine und Europa entstehen nicht am Reißbrett des Westens | Ukraine-Analysen | bpb.de

Ukraine Wirtschaft / Rohstoffe / Kriegsschäden und Wiederaufbau Analyse: Wirtschaftliche Widerstandsfähigkeit in einer schwierigen Gesamtlage Analyse: Die Rohstoffe der Ukraine und ihre strategische Bedeutung Analyse: Schäden und Wiederaufbau der ukrainischen Infrastruktur Chronik: 11. Januar bis 21. Februar 2024 Zwei Jahre Angriffskrieg: Rückblick, aktuelle Lage und Ausblick (23.02.2024) Analyse: Zwei Jahre russischer Angriffskrieg. Welche politischen, militärischen und strategischen Erkenntnisse lassen sich ziehen? Kommentar: Die aktuelle Lage an der Front Kommentar: Wie sich der russisch-ukrainische Krieg 2024 entwickeln könnte Kommentar: Die Ukraine wird sich nicht durchsetzen, wenn der Westen seine eigene Handlungsfähigkeit verleugnet Kommentar: Wie funktioniert das ukrainische Parlament in Kriegszeiten? Kommentar: Wie die Wahrnehmung des Staates sich durch den Krieg gewandelt hat Umfragen: Stimmung in der Bevölkerung Statistik: Verluste an Militärmaterial der russischen und ukrainischen Armee Statistik: Russische Raketen- und Drohnenangriffe, Verbrauch von Artilleriegranaten, Materialverluste im Kampf um Awdijiwka Folgen des russischen Angriffskriegs für die ukrainische Landwirtschaft (09.02.2024) Analyse: Zwischenbilanz zum Krieg: Schäden und Verluste der ukrainischen Landwirtschaft Analyse: Satellitendaten zeigen hohen Verlust an ukrainischen Anbauflächen als Folge der russischen Invasion Statistik: Getreideexporte Chronik: 17. Dezember 2023 bis 10. Januar 2024 Kunst, Musik und Krieg (18.01.2024) Analyse: Ukrainische Künstler:innen im Widerstand gegen die großangelegte Invasion: Dekolonialisierung in der Kunst nach dem 24. Februar 2022 Analyse: Musik und Krieg Dokumentation: Ukrainische Musiker:innen, die durch die russische Invasion umgekommen sind Statistik: "De-Russifizierung" der ukrainischen Youtube-Musik-Charts Umfragen: Änderung des Hörverhaltens seit der großangelegten Invasion Chronik: 21. November bis 16. Dezember 2023 Eintritt in eine neue Kriegsphase? / Selenskyjs Appelle an Russland (19.12.2023) Interview: "Dieser Krieg bleibt in erster Linie ein Artilleriekrieg, der die Munitionslieferungen zu einem sehr wichtigen Faktor macht" Statistik: Geländegewinne seit Beginn der Großinvasion Kommentar: Deutschland: Ein Schlüsselakteur in der neuen Kriegsphase? Statistik: Internationale Hilfen für die Ukraine Analyse: Selenskyjs Appelle an russische Staatsbürger:innen im ersten Jahr des russischen Aggressionskriegs gegen die Ukraine Dokumentation: Ansprache des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj an das russische Volk am Vorabend der großangelegten Invasion Chronik: 28. Oktober bis 20. November 2023 Der Globale Süden und der Krieg (24.11.2023) Analyse: Der Blick aus dem Süden: Lateinamerikanische Perspektiven auf Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine Analyse: Russlands Krieg gegen die Ukraine und Afrika: Warum die Afrikanische Union zwar ambitioniert, aber gespalten ist Analyse: Eine Kritik der zivilisatorischen Kriegsdiplomatie der Ukraine im Globalen Süden Umfragen: Umfragedaten: Der Globale Süden und Russlands Krieg gegen die Ukraine Dokumentation: Abstimmungen in der Generalversammlung der Vereinten Nationen Chronik: 16. bis 27. Oktober 2023 Zwischen Resilienz und Trauma: Mentale Gesundheit (02.11.2023) Analyse: Mentale Gesundheit in Zeiten des Krieges Karte: Angriffe auf die Gesundheitsinfrastruktur der Ukraine Analyse: Den Herausforderungen für die psychische Gesundheit ukrainischer Veteran:innen begegnen Umfragen: Umfragen zur mentalen Gesundheit Statistik: Mentale Gesundheit: Die Ukraine im internationalen Vergleich Chronik: 1. bis 15. Oktober 2023 Ukraine-Krieg in deutschen Medien (05.10.2023) Kommentar: Der Kampf um die Deutungshoheit. Deutsche Medien zu Ukraine, Krim-Annexion und Russlands Rolle im Jahr 2014 Analyse: Die Qualität der Medienberichterstattung über Russlands Krieg gegen die Ukraine Analyse: Russlands Aggression gegenüber der Ukraine in den deutschen Talkshows 2013–2023. Eine empirische Analyse der Studiogäste Chronik: 1. bis 30. September 2023 Ökologische Kriegsfolgen / Kachowka-Staudamm (19.09.2023) Analyse: Die ökologischen Folgen des russischen Angriffskrieges in der Ukraine Analyse: Ökozid: Die katastrophalen Folgen der Zerstörung des Kachowka-Staudamms Dokumentation: Auswahl kriegsbedingter Umweltschäden seit Beginn der großangelegten russischen Invasion bis zur Zerstörung des Kachowka-Staudamms Statistik: Statistiken zu Umweltschäden Zivilgesellschaft / Lokale Selbstverwaltung und Resilienz (14.07.2023) Von der Redaktion: Sommerpause – und eine Ankündigung Analyse: Die neuen Facetten der ukrainischen Zivilgesellschaft Statistik: Entwicklung der ukrainischen Zivilgesellschaft Analyse: Der Beitrag lokaler Selbstverwaltungsbehörden zur demokratischen Resilienz der Ukraine Wissenschaft im Krieg (27.06.2023) Kommentar: Zum Zustand der ukrainischen Wissenschaft in Zeiten des Krieges Kommentar: Ein Brief aus Charkiw: Ein ukrainisches Wissenschaftszentrum in Kriegszeiten Kommentar: Warum die "Russian Studies" im Westen versagt haben, Aufschluss über Russland und die Ukraine zu liefern Kommentar: Mehr Öffentlichkeit wagen. Ein Erfahrungsbericht Statistik: Auswirkungen des Krieges auf Forschung und Wissenschaft der Ukraine Innenpolitik / Eliten (26.05.2023) Analyse: Zwischen Kriegsrecht und Reformen. Die innenpolitische Entwicklung der Ukraine Analyse: Die politischen Eliten der Ukraine im Wandel Statistik: Wandel der politischen Elite in der Ukraine im Vergleich Chronik: 5. April bis 3. Mai 2023 Sprache in Zeiten des Krieges (10.05.2023) Analyse: Die Ukrainer sprechen jetzt hauptsächlich Ukrainisch – sagen sie Analyse: Was motiviert Ukrainer:innen, vermehrt Ukrainisch zu sprechen? Analyse: Surschyk in der Ukraine: zwischen Sprachideologie und Usus Chronik: 08. März bis 4. April 2023 Sozialpolitik (27.04.2023) Analyse: Das Sozialsystem in der Ukraine: Was ist nötig, damit es unter der schweren Last des Krieges besteht? Analyse: Die hohen Kosten des Krieges: Wie Russlands Krieg gegen die Ukraine die Armut verschärft Chronik: 22. Februar bis 7. März 2023 Besatzungsregime / Wiedereingliederung des Donbas (27.03.2023) Analyse: Etablierungsformen russischer Herrschaft in den besetzten Gebieten der Ukraine: Wege und Gesichter der Okkupation Karte: Besetzte Gebiete Dokumentation: Human Rights Watch: Torture, Disappearances in Occupied South. Apparent War Crimes by Russian Forces in Kherson, Zaporizhzhia Regions (Ausschnitt) Dokumentation: War and Annexation. The "People’s Republics" of eastern Ukraine in 2022. Annual Report (Ausschnitt) Dokumentation: Terror, disappearances and mass deportation Dokumentation: Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC) gegen Wladimir Putin wegen der Verschleppung von Kindern aus besetzten ukrainischen Gebieten nach Russland Analyse: Die Wiedereingliederung des Donbas nach dem Krieg: eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung Chronik 11. bis 21. Februar 2023 Internationaler Frauentag, Feminismus und Krieg (13.03.2023) Analyse: 8. März, Feminismus und Krieg in der Ukraine: Neue Herausforderungen, neue Möglichkeiten Umfragen: Umfragen zum Internationalen Frauentag Interview: "Der Wiederaufbau braucht einen geschlechtersensiblen Ansatz" Statistik: Kennzahlen und Indizes geschlechterspezifischer Ungleichheit Korruptionsbekämpfung (08.03.2023) Analyse: Der innere Kampf: Korruption und Korruptionsbekämpfung als Hürde und Gradmesser für den EU-Beitritt der Ukraine Dokumentation: Statistiken und Umfragen zu Korruption Analyse: Reformen, Korruption und gesellschaftliches Engagement Chronik: 1. bis 10. Februar 2023 Kriegsentwicklung / Jahrestag der Invasion (23.02.2023) Analyse: Unerwartete Kriegsverläufe Analyse: Die Invasion der Ukraine nach einem Jahr – Ein militärischer Rück- und Ausblick Kommentar: Die Unterstützung der NATO-Alliierten für die Ukraine: Ursachen und Folgen Kommentar: Der Krieg hat die Profile der EU und der USA in der Ukraine gefestigt Kommentar: Wie der Krieg die ukrainische Gesellschaft stabilisiert hat Kommentar: Die existenzielle Frage "Sein oder Nichtsein?" hat die Ukraine klar beantwortet Kommentar: Wie und warum die Ukraine neu aufgebaut werden sollte Kommentar: Der Krieg und die Kirchen Karte: Kriegsgeschehen in der Ukraine (Stand: 18. Februar 2023) Statistik: Verluste an Militärmaterial der russischen und ukrainischen Armee Chronik: 17. bis 31. Januar 2023 Meinungsumfragen im Krieg (15.02.2023) Kommentar: Stimmen die Ergebnisse von Umfragen, die während des Krieges durchgeführt werden? Kommentar: Vier Fragen zu Umfragen während eines umfassenden Krieges am Beispiel von Russlands Krieg gegen die Ukraine Kommentar: Meinungsumfragen in der Ukraine zu Kriegszeiten: Zeigen sie uns das ganze Bild? Kommentar: Meinungsforschung während des Krieges: anstrengend, schwierig, gefährlich, aber interessant Kommentar: Quantitative Meinungsforschung in der Ukraine zu Kriegszeiten: Erfahrungen von Info Sapiens 2022 Kommentar: Meinungsumfragen in der Ukraine unter Kriegsbedingungen Kommentar: Politisches Vertrauen als Faktor des Zusammenhalts im Krieg Kommentar: Welche Argumente überzeugen Deutsche und Dänen, die Ukraine weiterhin zu unterstützen? Dokumentation: Umfragen zum Krieg (Auswahl) Chronik: Chronik 9. bis 16. Januar 2023 Ländliche Gemeinden / Landnutzungsänderung (19.01.2023) Analyse: Ländliche Gemeinden und europäische Integration der Ukraine: Entwicklungspolitische Aspekte Analyse: Monitoring der Landnutzungsänderung in der Ukraine am Beispiel der Region Schytomyr Chronik: 26. September bis 8. Januar 2023 Weitere Angebote der bpb Redaktion

Kommentar: Frieden und Sicherheit für die Ukraine und Europa entstehen nicht am Reißbrett des Westens Ukraine-Analyse Nr. 268

Cindy Wittke Regensburg) Von Cindy Wittke (Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung

/ 7 Minuten zu lesen

"Wer stabile Brücken bauen will, muss auch den Abgrund vermessen", meint die Politikwissenschaftlerin Cindy Wittke. Ist Austausch mit Russland möglich und wenn ja, wie soll das gehen?

Die Präsidenten von Litauen, Polen, Ukraine, Lettland und Estland in Kyjiw am 13.4.2022 (© picture-alliance/AP, Uncredited)

"Externer Link: Liebe westeuropäische Intellektuelle: Ihr habt keine Ahnung von Russland" lautet die Überschrift eines Artikels von Szczepan Twardoch in der Neuen Zürcher Zeitung. Im Untertitel folgt sogleich die nächste Provokation: "Niemand im Westen kann verstehen, was es heißt, im russischen Machtbereich leben zu müssen." Twardoch hält den "Westplainern" einen Spiegel entgegen. Das reflektierte Bild ist nicht schmeichelhaft. Manche mögen sagen, es sei zu sehr verzerrt. Sich abzuwenden wäre aber falsch. Twardochs Anliegen ist nicht das einer Externer Link: Einzelstimme.

Wenn die Ukraine auf der Agenda ist, muss die Ukraine am Tisch sitzen

Was haben diese Einlassungen mit Deutschland und dem Krieg zu tun? – Viel, denn alle Diskussionen um Strategien für Freiheit, Frieden und Sicherheit für Deutschland sowie den europäischen Kontinent sind seit dem 24. Februar 2022 eng mit dem Verlauf des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine und parallel stattfindender Verhandlungen zwischen den Kriegsparteien verknüpft. Debatten im "Westen", wie diese zu einem Friedensabkommen für die Ukraine führen können, wirken dabei wie ein Brennglas für das Ringen nicht nur um die staatliche Souveränität der Ukraine, sondern auch eine "intellektuelle Selbstbestimmung" der Ukrainer*innen. Diskussionen über diese Verhandlungen ist zuweilen die Tendenz eigen, die Subjektivität der Ukraine – als Staat und Verhandlungspartei – in den Hintergrund zu verschieben. Sie weicht Perspektiven und Argumentationen mit einem – unbestreitbar berechtigten – Fokus auf internationalisierten Konfliktregulierung zwischen dem Westen und Russland. Die Ukraine wird dabei zum Ort und Objekt von Verhandlungs- und Sicherheitsstrategien und dem vielzitierten "Externer Link: End Game".

Die Ukraine als Objekt, statt als Subjekt von Verhandlungen zu betrachten ist kein unbekanntes Muster der deutschen und internationalen Sicherheitspolitik. Es geht mit der gefährlichen Tendenz einher, Russlands "Nahes Ausland" im westlichen politischen und auch wissenschaftlichen Diskurs letztlich zur "Pufferzone" zu machen. Dieses Muster war auch im Zuge der Annexion der Krim und des bewaffneten Konflikts in der östlichen Ukraine in den zurückliegenden acht Jahren zu beobachten, und nicht zuletzt im Rahmen der Verhandlungen angesichts der Konzentration russischer Truppen an der russisch-ukrainischen und belarussisch-ukrainischen Grenze im vergangenen Winter. Daran ändert auch wenig, dass noch im Dezember 2021 ein sicherheitspolitischer Sprecher im Weißen Haus hinsichtlich internationaler Verhandlungen zwischen Russland, den USA und den NATO-Partnern betonte: "Externer Link: if Ukraine is on the agenda, then Ukraine is at the table".

Wer stabile Brücken bauen will, muss auch den Abgrund vermessen

Es ist eine begrüßenswerte Entwicklung, dass zunehmend Externer Link: ukrainische Wissenschaftler*innen und auch Externer Link: Vertreter*innen von Medien und Zivilgesellschaft zu Wort kommen, wenn es um den Externer Link: Krieg gegen die Ukraine geht. Dabei geht es nicht etwa um eine Quote oder darum, dass nur Ukrainer*innen über die Ukraine, den Krieg oder einen Frieden qualifiziert sprechen könnten. Es geht vielmehr um immanent wichtige Fragen von Partizipation sowie um Wissenshierarchien und -austausch. Ukrainischen Expert*innen, von denen einige geflüchtet sind und andere sich noch im Land aufhalten, sowie ihre Netzwerke sind eine wichtige Ressource, wenn es darum geht, realistische Szenarien für Friedensverhandlungen und Abkommen und auch für Transitional Justice zu entwickeln.

Die konsequente Gegenfrage ist nun natürlich, ob Gleiches nicht auch für russische Wissenschaftler*innen und Jurist*innen gelten sollte. Bereits seit der Annexion der Krim und dem Ausbruch des Kriegs im Donbas 2014 war zum Beispiel der Austausch mit russischen Rechts- und Politikwissenschaftler*innen schwierig; vor allem, wenn auch differenzierte Stimmen zu Wort kommen sollten. So durfte die illegale Annexion der Krim in Russland nicht als solche öffentlich benannt werden. Seither wird immer wieder darüber diskutiert, ob und wie zum Beispiel Völkerrechtler*innen inzwischen weitgehend der Kreml-Linie folgen, Differenzierungen und Varianten aus Argumentationslinien und Debatten verschwinden, und der russischen Ansatz zum Völkerrecht gar revisionistisch geworden ist. Der Angriff Russlands auf die Ukraine hat nun jegliche Formen des offiziellen (und auch informellen) direkten Austausch nochmals erschwert. Wie spricht man über die Beendigung eines Angriffskriegs, der in Russland nicht einmal "Krieg" genannt werden darf? Welche wissenschaftlichen Gesprächspartner*innen ließen sich noch finden angesichts der Tatsache, dass die Rektor*innen der führenden staatlich finanzierten russischen Universitäten eine gemeinsame Externer Link: Stellungnahme unterschrieben haben, die Präsident Putin und sein Vorgehen unterstützt? Externer Link: Konferenzreisen ins Ausland und finanzielle und Status-Anreize für internationale Publikationen im werden im Bewertungssystem der russischen Universitäten heruntergefahren.

Wer aufgrund der aktuellen Lage zum Beispiel russische Jurist*innen nicht für einen direkten Dialog gewinnen kann oder auch will, muss ihre Beiträge – sofern möglich – neben den offiziellen Stellungnahmen staatlicher Institutionen und Medien aufmerksam lesen und in Kontext setzen, u. U. gemeinsam mit russischen Wissenschaftler*innen, die Russland bereits verlassen haben oder im Begriff sind, dies zu tun. Denn gerade die Auseinandersetzung mit der Expertise der Expert*innen der Verhandlungsparteien offenbart die realen Schwierigkeiten und die Herausforderungen für einen darauf abgestimmten Pragmatismus. Wer Brücken zwischen den Konflikt-Parteien bauen will, sollte frühzeitig beginnen, das Ausmaß des entstandenen Abgrunds zwischen den Interessen und Positionen – auch der Expert*innen – genau zu vermessen.

Russland – (k)ein Rätsel, Mysterium oder Enigma

Es sei aber gewarnt, nicht in überholte Muster zu verfallen: der Kreml ist nicht voller Raumtheoretiker und "Externer Link: Schmittianer" und auch nicht voller beleidigter Geopolitiker mit einer "Externer Link: Russian Angst"-Neurose vor der Erweiterung der NATO. Der russische Staat unter der aktuellen Führung produziert und assimiliert Konzepte und Ideen, die seiner tatsächlichen oder angestrebten Stellung und Zielen innerhalb der regionalen und globalen Ordnung entsprechen. Rechtliche und politische Konzepte in Bezug auf Raum, Souveränität, territoriale Grenzen und Staatsbürgerschaft sind dabei zentrale Themen. Weltbilder und Theorien werden eklektisch verbunden und bilden immer weitere Schichten von politischer Agenda, Pseudo-Ideologie, "Externer Link: Whataboutism", Populismus und Propaganda und verbinden sich zu einem geschlossenen und kohärenten machtpragmatischen System, das seine Handlungs- und Aggressionsbereitschaft spätestens seit dem russisch-georgischen Krieg 2008 wiederholt unter Beweis gestellt hat.

Einstein sagte einmal, es sei härter, ein Vorurteil zu spalten als ein Atom; die Verhandlungsposition Russlands wird noch schwerer zu knacken sein. Dies gilt vor allem, wenn man sich warnend vor Augen führt, dass die "Entnazifizierung" der Ukraine nun im öffentlichen Diskurs lanciert einen hässlichen Zwilling bekommen hat, die Idee der "Entukrainisierung" der Ukraine. Der RIA-Novosti-Artikel, der diese Idee darlegt, trägt den vielsagenden Titel: Externer Link: Что Россия должна сделать с Украиной (Was Russland mit der Ukraine tun sollte).

Wer immer also am finalen Verhandlungstisch Platz nimmt, muss sich der Verantwortung bewusst sein, die die Formulierung dieses Friedensabkommens für die Ukraine, Europa und letztlich global mit sich bringt. Ja, Verhandlungen müssen weitergeführt werden, aber es bedarf aller Expertise; denn Russland kommt auch hier sicher gut "gerüstet" an den Verhandlungstisch und sich der "off ramps", die der "Westen" nun so geflissentlich strategisch bauen will, sicher selbst bestens bewusst.

Wissensaustausch als Chance für Frieden und Sicherheit in Deutschland und Europa

"Zeitenwende heißt Zeitenwende" – im dritten Monat des russischen Kriegs gegen die Ukraine lässt sich das Ausmaß dieser "tektonischen Verschiebung" in der europäischen Geschichte und ihre Herausforderungen für die Zukunft zunehmend erahnen.

Doch in Deutschland und Westeuropa gibt es Forschung und Expertise zu Russland und zum östlichen Europa. Der Westen ist nicht gar so ahnungslos und wird sich wohl oder übel aus selbst verschuldeten Unmündigkeiten befreien müssen. Die Forschung zum östlichen Europa steht in den kommenden Jahren vor der enormen Herausforderung, wie sie zum Beispiel weiter über Russland, Belarus und auch je nach Lage des Konflikts über die Ukraine forschen und Wissen produzieren kann. Eine solche Forschung muss auch auf entsprechenden Sprach- und vertieften Regionalkenntnissen beruhen, da wichtige Informationen nur in den jeweiligen Landessprachen zugänglich sind und die Handlungen der Akteur*innen nur vor dem Hintergrund ihrer Weltbilder, ihrer ideologischen Visionen sowie ihres Wissens verstanden werden können.

In den vergangenen drei Jahrzehnten, seit dem Zusammenbruch der ehemaligen Sowjetunion, wurde regionalbezogene Expertise zum östlichen Europa vor allem in den Sozialwissenschaften wie auch in den Rechtswissenschaften sukzessive eher ab- als ausgebaut; das galt vor allem für die universitäre Forschung und Lehre. Insbesondere seit 2014 findet jedoch ein Ausbau der außeruniversitären regionalbezogenen Forschung statt. Letztlich geht es aber nicht allein darum, ob und welche Expertise zu Russland sowie zum – wie auch immer historisch, politisch oder kulturell definierten – östlichen Europa in Westeuropa vorhanden ist. Es geht auch darum, wie Expertise und Wissensproduktion aus dem östlichen Europa Eingang finden können in die Debatten um Frieden und Sicherheit auf dem europäischen Kontinent. Das gilt nicht nur für Prozesse auf der politischen Bühne, sondern auch für akademische Analyse, Expertise und Politikberatung.

Universitäten und außeruniversitäre Institutionen in Deutschland nehmen derzeit geflüchtete Wissenschaftler*innen aus der Ukraine und auch bedrohten Wissenschaftler*innen aus Russland und Belarus auf. Wenn diese nun am Forschungsstandort Deutschland ihre Arbeit in Europa fortsetzen, bietet ihr Aufenthalt auch neue Dimensionen des Wissenstransfers und des transnationalen Austauschs und eröffnet Perspektiven für eine neue deutsche Sicherheitsstrategie sowie eine neue Friedens- und Sicherheitsordnung für Europa – damit der europäische Kontinent nicht zum russischen Machtbereich wird. Dennoch gibt keine Friedens- und Sicherheitsordnung ohne die Einbeziehung Russlands; eines Russlands, das allerdings gerade dabei ist, seinen Machtbereich unter enormem Risiko und auf unvorstellbar brutale Art zu erweitern.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Dr. Cindy Wittke ist Leiterin der Politikwissenschaftlichen Forschungsgruppe am Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung (IOS) in Regensburg. Ihre Forschung bewegt sich an den Schnittstellen von internationaler Politik und Völkerrecht. Seit 2019 leitet sie das vom BMBF geförderte Projekt: "Zwischen Konflikt und Kooperation: Politiken des Völkerrechts im post-sowjetischen Raum" (PolVR, 01UC1901).

Eine längere Version ihres Beitrags wurde in deutscher und englischer Fassung auf dem Verfassungsblog im Rahmen der Debatte "Sicherheitsstrategie nach der Zeitenwende: Institutionen, Recht, Politik" veröffentlicht. Die Autorin bedankt sich beim Verfassungsblog und den Organisatorinnen der Debatte für die Genehmigung den Beitrag hier in gekürzter und aktualisierter Form zu veröffentlichen.

Wittke, Cindy: Externer Link: Frieden und Sicherheit für die Ukraine und Europa entstehen nicht am Reißbrett des Westens
VerfBlog, 2022/4/13, DOI: Externer Link: 10.17176/20220413-182418-0.