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Kommentar: Meinungsumfragen in der Ukraine zu Kriegszeiten: Zeigen sie uns das ganze Bild? | Ukraine-Analysen | bpb.de

Ukraine Wirtschaft / Rohstoffe / Kriegsschäden und Wiederaufbau Analyse: Wirtschaftliche Widerstandsfähigkeit in einer schwierigen Gesamtlage Analyse: Die Rohstoffe der Ukraine und ihre strategische Bedeutung Analyse: Schäden und Wiederaufbau der ukrainischen Infrastruktur Chronik: 11. Januar bis 21. Februar 2024 Zwei Jahre Angriffskrieg: Rückblick, aktuelle Lage und Ausblick (23.02.2024) Analyse: Zwei Jahre russischer Angriffskrieg. Welche politischen, militärischen und strategischen Erkenntnisse lassen sich ziehen? Kommentar: Die aktuelle Lage an der Front Kommentar: Wie sich der russisch-ukrainische Krieg 2024 entwickeln könnte Kommentar: Die Ukraine wird sich nicht durchsetzen, wenn der Westen seine eigene Handlungsfähigkeit verleugnet Kommentar: Wie funktioniert das ukrainische Parlament in Kriegszeiten? Kommentar: Wie die Wahrnehmung des Staates sich durch den Krieg gewandelt hat Umfragen: Stimmung in der Bevölkerung Statistik: Verluste an Militärmaterial der russischen und ukrainischen Armee Statistik: Russische Raketen- und Drohnenangriffe, Verbrauch von Artilleriegranaten, Materialverluste im Kampf um Awdijiwka Folgen des russischen Angriffskriegs für die ukrainische Landwirtschaft (09.02.2024) Analyse: Zwischenbilanz zum Krieg: Schäden und Verluste der ukrainischen Landwirtschaft Analyse: Satellitendaten zeigen hohen Verlust an ukrainischen Anbauflächen als Folge der russischen Invasion Statistik: Getreideexporte Chronik: 17. Dezember 2023 bis 10. Januar 2024 Kunst, Musik und Krieg (18.01.2024) Analyse: Ukrainische Künstler:innen im Widerstand gegen die großangelegte Invasion: Dekolonialisierung in der Kunst nach dem 24. Februar 2022 Analyse: Musik und Krieg Dokumentation: Ukrainische Musiker:innen, die durch die russische Invasion umgekommen sind Statistik: "De-Russifizierung" der ukrainischen Youtube-Musik-Charts Umfragen: Änderung des Hörverhaltens seit der großangelegten Invasion Chronik: 21. November bis 16. Dezember 2023 Eintritt in eine neue Kriegsphase? / Selenskyjs Appelle an Russland (19.12.2023) Interview: "Dieser Krieg bleibt in erster Linie ein Artilleriekrieg, der die Munitionslieferungen zu einem sehr wichtigen Faktor macht" Statistik: Geländegewinne seit Beginn der Großinvasion Kommentar: Deutschland: Ein Schlüsselakteur in der neuen Kriegsphase? Statistik: Internationale Hilfen für die Ukraine Analyse: Selenskyjs Appelle an russische Staatsbürger:innen im ersten Jahr des russischen Aggressionskriegs gegen die Ukraine Dokumentation: Ansprache des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj an das russische Volk am Vorabend der großangelegten Invasion Chronik: 28. Oktober bis 20. November 2023 Der Globale Süden und der Krieg (24.11.2023) Analyse: Der Blick aus dem Süden: Lateinamerikanische Perspektiven auf Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine Analyse: Russlands Krieg gegen die Ukraine und Afrika: Warum die Afrikanische Union zwar ambitioniert, aber gespalten ist Analyse: Eine Kritik der zivilisatorischen Kriegsdiplomatie der Ukraine im Globalen Süden Umfragen: Umfragedaten: Der Globale Süden und Russlands Krieg gegen die Ukraine Dokumentation: Abstimmungen in der Generalversammlung der Vereinten Nationen Chronik: 16. bis 27. Oktober 2023 Zwischen Resilienz und Trauma: Mentale Gesundheit (02.11.2023) Analyse: Mentale Gesundheit in Zeiten des Krieges Karte: Angriffe auf die Gesundheitsinfrastruktur der Ukraine Analyse: Den Herausforderungen für die psychische Gesundheit ukrainischer Veteran:innen begegnen Umfragen: Umfragen zur mentalen Gesundheit Statistik: Mentale Gesundheit: Die Ukraine im internationalen Vergleich Chronik: 1. bis 15. Oktober 2023 Ukraine-Krieg in deutschen Medien (05.10.2023) Kommentar: Der Kampf um die Deutungshoheit. Deutsche Medien zu Ukraine, Krim-Annexion und Russlands Rolle im Jahr 2014 Analyse: Die Qualität der Medienberichterstattung über Russlands Krieg gegen die Ukraine Analyse: Russlands Aggression gegenüber der Ukraine in den deutschen Talkshows 2013–2023. Eine empirische Analyse der Studiogäste Chronik: 1. bis 30. September 2023 Ökologische Kriegsfolgen / Kachowka-Staudamm (19.09.2023) Analyse: Die ökologischen Folgen des russischen Angriffskrieges in der Ukraine Analyse: Ökozid: Die katastrophalen Folgen der Zerstörung des Kachowka-Staudamms Dokumentation: Auswahl kriegsbedingter Umweltschäden seit Beginn der großangelegten russischen Invasion bis zur Zerstörung des Kachowka-Staudamms Statistik: Statistiken zu Umweltschäden Zivilgesellschaft / Lokale Selbstverwaltung und Resilienz (14.07.2023) Von der Redaktion: Sommerpause – und eine Ankündigung Analyse: Die neuen Facetten der ukrainischen Zivilgesellschaft Statistik: Entwicklung der ukrainischen Zivilgesellschaft Analyse: Der Beitrag lokaler Selbstverwaltungsbehörden zur demokratischen Resilienz der Ukraine Wissenschaft im Krieg (27.06.2023) Kommentar: Zum Zustand der ukrainischen Wissenschaft in Zeiten des Krieges Kommentar: Ein Brief aus Charkiw: Ein ukrainisches Wissenschaftszentrum in Kriegszeiten Kommentar: Warum die "Russian Studies" im Westen versagt haben, Aufschluss über Russland und die Ukraine zu liefern Kommentar: Mehr Öffentlichkeit wagen. Ein Erfahrungsbericht Statistik: Auswirkungen des Krieges auf Forschung und Wissenschaft der Ukraine Innenpolitik / Eliten (26.05.2023) Analyse: Zwischen Kriegsrecht und Reformen. Die innenpolitische Entwicklung der Ukraine Analyse: Die politischen Eliten der Ukraine im Wandel Statistik: Wandel der politischen Elite in der Ukraine im Vergleich Chronik: 5. April bis 3. Mai 2023 Sprache in Zeiten des Krieges (10.05.2023) Analyse: Die Ukrainer sprechen jetzt hauptsächlich Ukrainisch – sagen sie Analyse: Was motiviert Ukrainer:innen, vermehrt Ukrainisch zu sprechen? Analyse: Surschyk in der Ukraine: zwischen Sprachideologie und Usus Chronik: 08. März bis 4. April 2023 Sozialpolitik (27.04.2023) Analyse: Das Sozialsystem in der Ukraine: Was ist nötig, damit es unter der schweren Last des Krieges besteht? Analyse: Die hohen Kosten des Krieges: Wie Russlands Krieg gegen die Ukraine die Armut verschärft Chronik: 22. Februar bis 7. März 2023 Besatzungsregime / Wiedereingliederung des Donbas (27.03.2023) Analyse: Etablierungsformen russischer Herrschaft in den besetzten Gebieten der Ukraine: Wege und Gesichter der Okkupation Karte: Besetzte Gebiete Dokumentation: Human Rights Watch: Torture, Disappearances in Occupied South. Apparent War Crimes by Russian Forces in Kherson, Zaporizhzhia Regions (Ausschnitt) Dokumentation: War and Annexation. The "People’s Republics" of eastern Ukraine in 2022. Annual Report (Ausschnitt) Dokumentation: Terror, disappearances and mass deportation Dokumentation: Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC) gegen Wladimir Putin wegen der Verschleppung von Kindern aus besetzten ukrainischen Gebieten nach Russland Analyse: Die Wiedereingliederung des Donbas nach dem Krieg: eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung Chronik 11. bis 21. Februar 2023 Internationaler Frauentag, Feminismus und Krieg (13.03.2023) Analyse: 8. 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Februar 2023 Kriegsentwicklung / Jahrestag der Invasion (23.02.2023) Analyse: Unerwartete Kriegsverläufe Analyse: Die Invasion der Ukraine nach einem Jahr – Ein militärischer Rück- und Ausblick Kommentar: Die Unterstützung der NATO-Alliierten für die Ukraine: Ursachen und Folgen Kommentar: Der Krieg hat die Profile der EU und der USA in der Ukraine gefestigt Kommentar: Wie der Krieg die ukrainische Gesellschaft stabilisiert hat Kommentar: Die existenzielle Frage "Sein oder Nichtsein?" hat die Ukraine klar beantwortet Kommentar: Wie und warum die Ukraine neu aufgebaut werden sollte Kommentar: Der Krieg und die Kirchen Karte: Kriegsgeschehen in der Ukraine (Stand: 18. Februar 2023) Statistik: Verluste an Militärmaterial der russischen und ukrainischen Armee Chronik: 17. bis 31. Januar 2023 Meinungsumfragen im Krieg (15.02.2023) Kommentar: Stimmen die Ergebnisse von Umfragen, die während des Krieges durchgeführt werden? Kommentar: Vier Fragen zu Umfragen während eines umfassenden Krieges am Beispiel von Russlands Krieg gegen die Ukraine Kommentar: Meinungsumfragen in der Ukraine zu Kriegszeiten: Zeigen sie uns das ganze Bild? Kommentar: Meinungsforschung während des Krieges: anstrengend, schwierig, gefährlich, aber interessant Kommentar: Quantitative Meinungsforschung in der Ukraine zu Kriegszeiten: Erfahrungen von Info Sapiens 2022 Kommentar: Meinungsumfragen in der Ukraine unter Kriegsbedingungen Kommentar: Politisches Vertrauen als Faktor des Zusammenhalts im Krieg Kommentar: Welche Argumente überzeugen Deutsche und Dänen, die Ukraine weiterhin zu unterstützen? Dokumentation: Umfragen zum Krieg (Auswahl) Chronik: Chronik 9. bis 16. Januar 2023 Ländliche Gemeinden / Landnutzungsänderung (19.01.2023) Analyse: Ländliche Gemeinden und europäische Integration der Ukraine: Entwicklungspolitische Aspekte Analyse: Monitoring der Landnutzungsänderung in der Ukraine am Beispiel der Region Schytomyr Chronik: 26. September bis 8. Januar 2023 Weitere Angebote der bpb Redaktion

Kommentar: Meinungsumfragen in der Ukraine zu Kriegszeiten: Zeigen sie uns das ganze Bild? Ukraine-Analysen Nr. 278

Gerard Toal

/ 8 Minuten zu lesen

Sind Meinungsumfragen in der Lage zu erfassen, wie stark der Krieg die geopolitischen Einstellungen der Ukrainer:innen verändert hat? Und sind Umfragen tatsächlich repräsentativ für die gesamte Ukraine?

Mit welchem Blick sehen die Ukrainer:innen auf ihr Land? (© picture-alliance, Photoshot)

Verändert ein Krieg die geopolitischen Einstellungen? Die Antwort scheint offensichtlich: ja! Aber die Frage ist komplexer, als sie auf den ersten Blick erscheint. Im Dezember 2014 gaben John O’Loughlin und ich eine Umfrage (n=2033) in Auftrag, die von KIIS (dem Kyjiwer Internationalen Institut für Soziologie), einem angesehenen Meinungsforschungsinstitut, in sechs der acht Oblaste (Regionen) im Südosten der Ukraine durchgeführt wurde. Ziel der Umfrage war es zu untersuchen, inwieweit der Krieg die geopolitischen Einstellungen in diesem Gebiet nach dem Einmarsch Russlands in den Donbas verändert hatte (die Oblaste Donezk und Luhansk wurden aufgrund der Kämpfe, die im April 2014 begannen, nicht befragt). Als Ausgangsbasis haben wir die Ergebnisse mit einer früheren Umfrage verglichen, die von KIIS im April 2014 durchgeführt wurde, also am Vorabend der Kämpfe, die später den Donbas erfassen sollten (n=3.232). Es handelte sich zwar nicht um eine Panelerhebung (bei der dieselben Personen erneut befragt werden), aber wir erhielten so einen ziemlich deutlichen Unterschied zwischen den Stichproben kurz vor und nach Kriegsbeginn. Allerdings konnten wir den Donbas nicht in die Befragung aufnehmen, was bedeutete, dass wir Regionen in der Nähe der Kampfzonen und nicht entlang der Frontlinien befragten.

Wir hatten erwartet, eine deutliche Veränderung der Einstellungen zu beobachten. Stattdessen stellten wir fest, dass die Unterschiede in den Einstellungen recht bescheiden ausfielen, wohingegen die "weiß nicht"-Antworten deutlich zunahmen. Im April 2014 stimmten beispielsweise 10,2 Prozent der Befragten in den sechs vergleichbaren Oblasten einer möglichen Stationierung russischer Truppen "voll und ganz zu" oder "stimmten zu"; diese Zahl fiel im Dezember auf 5,6 Prozent. Im Gegensatz dazu lehnten 61,7 Prozent im April und 63,7 Prozent im Dezember die Stationierung russischer Truppen entschieden ab. Der Prozentsatz der "weiß nicht"-Antworten auf die Frage nach russischen Truppen hat sich von April bis Dezember unter denjenigen, die sich selbst als ethnische Russen in der Ukraine bezeichnen, fast verdoppelt (von 11,7 auf 20,4 Prozent). Der Unterschied zur ukrainischen Bevölkerung, die ebenfalls mit "weiß nicht" antwortete, stieg von 1,5 Prozent im April auf 9 Prozent im Dezember. Der Krieg hat in Teilen der Bevölkerung dazu geführt, dass strategische Kalkulationen bei der Beantwortung von heiklen Fragen eine größere Rolle spielen. Der Krieg führte auch zu einem geringen Effekt, der als "Scharen-um-die-Flagge" bezeichnet wird. Im Dezember 2014, nach den gewalttätigen Auseinandersetzungen der letzten acht Monate im Donbas, war die Unterstützung für den Einsatz russischer Truppen sowohl bei den sich als ethnisch russisch identifizierenden als auch bei den ukrainischen Befragten deutlich geringer als im April.

Seit 2014 hat sich viel verändert. Mit der großflächigen Invasion im Februar 2022 hat Russland seinen Krieg auf die ganze Ukraine ausgedehnt und eine neue Stufe der Brutalität erreicht. Millionen Ukrainer:innen haben sich freiwillig zum Militärdienst gemeldet und unterstützen die Kriegsanstrengungen des eigenen Landes nach Kräften. Etwa acht Millionen Menschen, vor allem Frauen und Kinder, sind ins Ausland geflohen, während weitere sechs Millionen Menschen innerhalb des Landes zu Binnenvertriebenen geworden sind. Der Krieg ist hässlich, grausam und ungerecht. In der Ukraine dominiert die patriotische Stimmung, aber auch das menschliche Leid ist groß. Sind öffentliche Meinungsumfragen in einem derart aufgeladenen Umfeld aussagekräftig und zuverlässig? Die kurze Antwort auf die erste Frage lautet: Ja: Meinungsumfragen erlauben es uns auch in Kriegszeiten, wichtige Erkenntnisse zu treffen. Aber dennoch ist hinsichtlich der Repräsentativität erhebliche Skepsis angebracht, insbesondere wenn es um mögliche Veränderungen der geopolitischen Einstellungen geht.

Zunächst einmal sollten wir bedenken, dass die öffentliche Meinung in diesem wie in anderen Kriegen eine zentrale Rolle spielt. Die öffentliche Meinung ist dabei ein Konzept, das mit den Idealen der Volkssouveränität und einer wahren Identität verbunden ist. Putins Fantasie von der "Rettung" von Russ:innen stellt Russland als Vertreter derjenigen dar, die nie nach ihrer Meinung gefragt wurden und die keine Stimme haben. Putin rettet eine "authentische Ukraine" vor "faschistischen" Westlern, die diese "entführt" haben. Im Gegensatz dazu berufen sich die ukrainische Führung und ihre euro-atlantischen Unterstützer regelmäßig auf öffentliche Meinungsumfragen, um ihr politisches Bestreben zu rechtfertigen, die Ukraine in die EU und die NATO zu integrieren. Die Ukraine will sich von Russland "befreien" und endgültig Teil des Westens werden. In der ersten Projektion kommt die "wahre Ukraine" nie zu Wort, es sei denn, sie wird von Russlands Propagandaapparat durch manipuliertevox populi in Fernsehsendungen oder bei inszenierten Volksabstimmungen gesteuert. In der zweiten Projektion ist die "wahre Ukraine" die Nation, die sich ständig danach sehnt, sich dem Westen anzuschließen.

Die von Interessengruppen und staatlichen Stellen finanzierte Meinungsforschung kann als Polittechnologie fungieren, die nicht nur Informationen darüber sammelt, was die Menschen denken; sie eröffnet auch Möglichkeiten, bestimmte Themen durch gefühlsbetontes Framing in eine bestimmte Richtung zu lenken. Themen können in den Vordergrund gerückt werden, andere verschwinden wiederum im Hintergrund. Einige Meinungsumfragen sind auch eher als sogenannte "push polls" zu bezeichnen, bei denen Befragten bestimmte Ansichten bewusst aufgedrängt werden, die für diese Befragten davor vielleicht nicht vorrangig im Bewusstsein verankert, oder als nicht relevant eingestuft wurden, aber dennoch von bestimmten Gruppen gezielt beworben werden. Ein Beispiel dafür sind die seit vielen Jahren durchgeführten Umfragen in Bezug darauf, ob die Ukraine der NATO beitreten sollte. Seid ihr besorgt über Armut und Korruption? Der Beitritt zur euro-atlantischen Gemeinschaft ist die Antwort!

Der Krieg und die Verbrechen Russlands versetzen die Ukrainer:innen zu Recht in Aufruhr. Die Durchführung von Umfragen in Kriegszeiten ist zwangsläufig politisch. Geldgeber sind selten neutral, während die Leiter:innen und Mitarbeitenden von Meinungsforschungsinstituten unter Druck stehen, Patriotismus an den Tag zu legen. Die Teilnahme an Umfragen an sich ist auch schon ein politischer Akt. Hinzu kommt die Logistik der Umfragen. Angesichts der Kriegsbedingungen werden die meisten Umfragen per CATI (computergestützte Telefonbefragung) und nicht persönlich (mit der sog. Face-to-face-Methode) durchgeführt. Diese CATI-Umfragen werden zwar mit Zufallsstichproben durchgeführt und bei bester Ausführung auf mehrere Mobilfunkanbieter verteilt (was wichtig ist, wie wir aus der Meinungsforschung im Donbas gelernt haben). Aber der Akt, ans Telefon zu gehen und dann zuzustimmen, an einer Umfrage von ungewisser Dauer im Gespräch mit einer/m Fremden in Kriegszeiten teilzunehmen, ist wahrscheinlich nur für bestimmte Menschen reizvoll. Diejenigen, die ohne Mobiltelefone auskommen, was vor allem ältere und verarmte Menschen betrifft, bleiben ohne Stimme, obwohl sie gleichzeitig ein Teil jener Ukraine sind, die jetzt auf furchtbare Weise Opfer des Krieges und seiner Schrecken geworden ist. Diejenigen, die zurückhaltend, skeptisch und ängstlich sind, werden eher nicht gehört oder wollen sich nicht äußern. Aber jene, die sich durch starke Meinungen und Emotionen auszeichnen, werden eher von der Stichprobe erfasst. Die persönliche Befragung kann einige der Unzulänglichkeiten von CATI durch Zufallsstichproben und persönliche Gespräche, Überzeugungsarbeit und Beruhigung ausgleichen. Professionelle Meinungsforscher:innen wissen all dies, und diejenigen, die integer sind, geben methodische Einschränkungen für ihre Arbeit in Kriegszeiten an (Externer Link: https://kiis.com.ua/?lang=ukr&cat=reports&id=1110&page=1).

Kriege sind auf gewaltsame Weise polarisierend. So ist es nicht überraschend, dass sich Gruppenzugehörigkeiten verfestigen und Meinungen verhärten. Der Krieg erfordert patriotische Performanz, die die Menschen auch dazu bringt, Positionen zu vertreten, von denen sie wissen, dass sie gesellschaftlich und geopolitisch akzeptabel sind. So erklären beispielsweise immer mehr Menschen, dass sie Ukrainisch und nicht Russisch sprechen, da dies in den von der Regierung kontrollierten Regionen gesellschaftlich erwünscht ist. Außerdem haben die Menschen das Bedürfnis, Zuversicht und Siegesgewissheit an den Tag zu legen und gleichzeitig Zweifel zu verschleiern. So stellte KIIS im Dezember 2022 fest (Externer Link: https://kiis.com.ua/?cat=reports&id=1175&lang=ukr&page=1), dass mehr Menschen die Wirtschaft vor dem Krieg schlecht einschätzten als zehn Monate nach Kriegsbeginn, als die Lage objektiv schlechter war. "Dieser paradoxe Wandel in der öffentlichen Meinung", so KIIS, "lässt sich durch die Konsolidierung und das nationale Hochgefühl während des Krieges erklären." Das könnte man auch als soziale Erwünschtheit hoch zehn bezeichnen. Aufgrund der Notlage, die der Krieg über das Land bringt, übertrumpft Geopolitik tatsächlich die Armut. Zumindest für den Augenblick.

Der Krieg wirkt sich darauf aus, welche Aussagen Ukrainer:innen bereit sind, gegenüber Meinungsforscher:innen preiszugeben. Zahlreiche Umfragen in der kriegsversehrten Ukraine haben beispielsweise ergeben, dass die Zahl der Ukrainer:innen, die sich für einen NATO-Beitritt der Ukraine aussprechen, gestiegen ist. Die Unterstützung für die außenpolitische Neutralität ist zurückgegangen. Unsere jüngsten Meinungsumfragen, bei denen wir teilweise auf früher befragte Personen zurückgreifen (persönliche Befragung im Jahr 2019 und telefonische Befragung im Jahr 2022), bestätigen dies. Eine solche Schlussfolgerung erfordert, dass gewisse Einschränkungen gemacht werden, die normalerweise ausgelassen werden, wenn die Ergebnisse in kurzen Artikeln präsentiert werden. Aus eigener Erfahrung kann ich bezeugen, dass vorsichtige Interpretationen oft von Redakteur:innen gestrichen werden. Denn erwünscht sind eine klare Botschaft und auch ein provokativer Titel ("bringt Klicks"), die von den Befürworter:innen im Fernsehen, in den Parlamenten und bei öffentlichen Debatten als Soundbites wiederverwendet werden. Es herrscht ein allgemeines Vertrauen in Zahlen, und diejenigen, die sie verwenden, erscheinen kompetent. Es ist von großer Bedeutung, wie die Fragen formuliert sind. Bei einer einfachen binären Frage beispielsweise befürwortet die Mehrheit der Ukrainer jetzt die NATO-Mitgliedschaft, weil sich die Ukraine im Krieg befindet und die NATO ihr wichtigster Verbündeter ist. Diese Position ist derzeit geopolitisch richtig; die Gegner:innen schweigen und geben ihre Position nicht freiwillig preis. Und was ebenso wichtig ist: die derzeit umkämpften Teile der Ukraine werden in der Umfrage nicht berücksichtigt. Werden mehr Antwortmöglichkeiten angeboten, so ergibt sich eine größere Komplexität (Externer Link: https://dif.org.ua/en/article/results-2022-under-the-blue-yellow-flag-of-freedom). Inwieweit der Krieg die geopolitischen Einstellungen verändert hat, lässt sich mitten im Krieg somit nicht beantworten.

Die Standardwährung bei der Zusammenfassung der öffentlichen Meinung sind Phrasen wie "die Mehrheit der Ukrainer:innen" oder Ausdrücke wie "die Ukrainer:innen glauben…" und "die Ukrainer:innen wollen…", die noch viel stärker homogenisieren. Wir sind derzeit in einer heiklen Lage, in der Umfragen als repräsentativ für die gesamte Ukraine angesehen werden, die tatsächlich nur in Teilgebieten durchgeführt wurden. Regionen wie die Krim und in geringerem Maße der Donbas werden gleichzeitig als Ukraine angesehen, aber in der öffentlichen Meinungsforschung in der Ukraine nicht gesehen und nicht gehört.

Umfragen in der Ukraine zu Kriegszeiten sind aussagekräftig und aufschlussreich. Aber wenn man aus den Ergebnissen von Telefonumfragen, die von Interessengruppen aus dem von der Regierung kontrollierten Teil der Ukraine finanziert werden, einen transzendenten ukrainischen Allgemeinwillen in Kriegszeiten ableitet, ist Skepsis angebracht. Diese ist ohnehin eine wichtige Tugend inmitten der Flut von Desinformationen in demokratischen Gesellschaften. Wir können es besser machen, mit unseren Umfragemethoden und -strategien, mit unserem Mitgefühl für die Notlage derer, die in einem brutalen Krieg gefangen sind, und mit unserem Beharren darauf, dass die Grenzen dieser Form der Sozialwissenschaft anerkannt werden. Die Ukraine ist ein sehr großes und vielfältiges Land, und das Mindeste, was wir inmitten des massiven Traumas der russischen Invasion tun können, ist, ihre soziokulturelle und geografische Komplexität anzuerkennen und zu respektieren.

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Prof. Dr. Gerard Toal ist politischer Geograf und Professor am Campus der Virginia Tech in der Metropolregion Washington in den USA.