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Analyse: Surschyk in der Ukraine: zwischen Sprachideologie und Usus | Ukraine-Analysen | bpb.de

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Analyse: Surschyk in der Ukraine: zwischen Sprachideologie und Usus Ukraine-Analysen Nr. 284

Anastasija Kostiučenko

/ 6 Minuten zu lesen

„Surschyk“ ist eine in der Ukraine weit verbreitete Mischsprache aus Ukrainisch und Russisch, die vor allem in der Zentralukraine gesprochen wird.

Vor allem in ländlichen Regionen der Zentralukraine, hier das Dorf Subotiw in der Region Tscherkassy, wird Surschyk gesprochen. (© picture-alliance, Zoonar | Ivan Tykhyi)

Zusammenfassung

"Surschyk" ist eine in der Ukraine weit verbreitete Mischsprache aus Ukrainisch und Russisch, die sowohl im internationalen wissenschaftlichen Bereich als auch in der ukrainischen Öffentlichkeit seit jeher für Diskussionen sorgt. Dabei erzeugt Surschyk ein breites, teils kontroverses Spektrum von Meinungen und Gefühlen. Die Bedeutung und die Rolle des Surschyk können vor dem Hintergrund der ukrainischen Sprachpolitik der letzten Jahre und vor dem Hintergrund der drastischen soziopolitischen Veränderungen durch Russlands Angriffskrieg eine Neubewertung erfahren. Im Zusammenhang mit der gegenwärtigen ukrainischen Sprachensituation und der sprachlichen Identität der ukrainischen Bevölkerung könnte Surschyk, insbesondere der sog. Neo-Surschyk, den gesellschaftlichen Übergang zum Ukrainischen beschleunigen.

Zum Mischen von Sprachen in der Ukraine: das Phänomen Surschyk

Im Falle eines ständigen, intensiven Kontakts entstehen in bilingualen Gemeinschaften die sog. Mischsprachen bzw. Mischidiome. Auch in der Ukraine gibt es ein solches Mischidiom, welches sehr weit verbreitet ist (es findet sich insbesondere in den zentralen, östlichen und südlichen Regionen des Landes) und das gewöhnlich den Namen "Surschyk" trägt. Es handelt sich hierbei um eine Mischung aus Ukrainisch und Russisch, die im deutschsprachigen wissenschaftlichen Diskurs in der Regel mit dem neutralen Terminus "ukrainisch-russische gemischte Rede" (abgekürzt URGR) bezeichnet wird. Ein solcher neutraler Terminus ist in der Tat vonnöten, denn die URGR sorgt nicht nur im wissenschaftlichen Diskurs für Diskussionen. Das Mischidiom wird vor allem in der ukrainischen Gesellschaft selbst kontrovers beurteilt, was sein laienlinguistischer Name auch verrät: Surschyk stand ursprünglich für ein Gemisch aus Weizen und Roggen bzw. für Mehl von minderer Qualität. Diese Bezeichnung sollte also implizieren, dass es sich um etwas Unreines und daher weniger Wertvolles handele. So bewegen sich die gesellschaftlichen Einstellungen rund um den Surschyk je nach Blickwinkel irgendwo zwischen Abscheu, Sprachverfall, Provinzialität und einem "kleineren Übel" im Vergleich zum kompletten Übergang zum Russischen bis hin zu Assoziationen mit dem Alltag, mit Vertrautheit, mit geschicktem und komischem Sprachspiel, mit Kreativität oder mit einem Instrument zur Überwindung der die Gesellschaft spaltenden Rhetorik (letzteres insbesondere seit den Protesten auf dem Majdan 2013/14). Dieses Spektrum ist mit einer Fülle von außersprachlichen Faktoren verbunden, und zwar in erster Linie mit dem sozialen und politischen Kontext, aber auch mit dem, wie sich Menschen zu Sprachfragen, Sprachenvielfalt und zur Sprachpolitik generell stellen. Infolge davon unterscheidet die Soziolinguistik zwischen verschiedenen Gruppen- oder Einstellungstypen: beispielsweise zwischen Sprachfreunden, Sprachverehrern oder Sprachbagatellisierern. Mit Blick auf die Einstellungsforschung zum Surschyk lässt sich festhalten, dass die Einstellungen u. a. in Abhängigkeit davon variieren, ob man generell sprachpuristische Ansichten teilt oder nicht. Nicht von der Hand zu weisen sind das covert prestige von Surschyk (mit covert prestige bezeichnet man das hohe, aber verdeckte Ansehen einer Sprache unter den Sprecher:innen selbst, was dann auch für die Identifikation mit einer Gruppe relevant wird) und dessen vertrauter Gebrauch in privaten Bereichen, was beides freundlichere Einstellungen dem Surschyk gegenüber hervorruft.

Beim Surschyk handelt es sich um ein mündliches, nicht kodifiziertes Mischidiom, auch wenn in der ukrainischen Literatur und im digitalen, medialen Diskurs vereinzelt Versuche auftreten, Surschyk zu verschriftlichen (z. B. zwecks Parodie, Satire oder als Instrument des Protests). Für das Verständnis der linguistischen Problematik rund um den Surschyk ist ein ganz wichtiger Punkt, dass die beiden ostslawischen Sprachen, die in den Surschyk einfließen, eng verwandt sind und sich im Hinblick auf ihre grammatischen Strukturen ähneln. Interferenzen finden deshalb auf allen Ebenen statt, sodass manche Studien behaupten, dass eine Unterscheidung von Hauptsprache und eingebetteter Sprache (die, die hinzukommt) im Falle von Surschyk äußerst problematisch bis unmöglich sei. Denn die Interferenzen sind so variativ, dass es fraglich ist, ob die Idee von Haupt- und eingebetteter Sprache überhaupt Anwendung finden kann.

Ein Streitpunkt ist deshalb auch, ob diese massive Mischung eher chaotisch und ungesteuert erfolge und eine individuelle Ausdrucksweise darstelle oder doch einen Systemcharakter besitze. Letzteres würde bedeuten, dass Surschyk dann (sozio-)linguistisch gesehen autonomer wäre und man von drei Sprachen in der Ukraine sprechen dürfte. Der Systemcharakter bzw. die Selbständigkeit von Surschyk wird in der Forschung auch damit begründet, dass es in der Ukraine Sprecher:innen gibt, die mit Surschyk erstsozialisiert worden sind und für die folglich Surschyk ihre Muttersprache ist. Manchen Sprecher:innen von Surschyk ist häufig auch nicht bewusst, dass sie Surschyk sprechen. Einig ist man sich in der Forschung allerdings darüber, dass Surschyk von den Normen der beiden Standardsprachen Ukrainisch und Russisch abweicht, wobei diese Abweichungen wiederum unterschiedlich bewertet werden. Die unterschiedliche Bewertung der Abweichungen hängt unter anderem auch damit zusammen, dass sich die beiden Standardsprachen der Ukraine aufgrund eines permanenten Kontaktes ebenfalls gegenseitig beeinflussen, was ihrerseits zu Abweichungen auf unterschiedlichen sprachlichen Ebenen führt und die Diskussion um jedes Normverständnis komplexer macht. Eine mögliche soziolinguistische Einordnung von Surschyk erschwert der fehlende Konsens darüber, wie weit oder eng man Surschyk als Phänomen einer Mischung auffassen sollte und ob man von Surschyk dann überhaupt noch im Singular sprechen darf. In einigen einschlägigen Studien wird daher auf die Notwendigkeit hingewiesen, mehrere Arten oder regionale Varianten von Surschyk zu unterscheiden, wobei sowohl rein linguistische als auch außersprachliche Faktoren zu berücksichtigen wären.

Vielversprechend ist der neuste Vorschlag einer deutsch-österreischen Forschergruppe um Tilmann Reuther und Gerd Hentschel, grundsätzlich zwischen zwei Arten von Surschyk zu unterscheiden: dem Alt-Surschyk und dem Neo-Surschyk. Diese Unterscheidung bilde die Geschichte der Ukraine ab, denn der Alt-Surschyk stamme aus der Zeit, als das Russische auf dem Territorium der heutigen Ukraine dominierte (was es mit einer kurzen Unterbrechung während der frühen Sowjetzeit seit ungefähr 1860 bis zur Auflösung der Sowjetunion tat), sodass die Ukranischsprechenden sich an die russischsprachige Umgebung anpassten und das eben in eine Form von Surschyk – einen ukrainisch basierten – mündete, die auch an die nächsten Generationen weitergegeben wurde. Somit sei es ausgerechnet der Alt-Surschyk, der bisher in zahlreichen einschlägigen Studien zum Forschungsobjekt erhoben wurde. Auf der anderen Seite gebe es den Neo-Surschyk, der mit der Geschichte der unabhängigen Ukraine und insbesondere deren Externer Link: Sprachpolitik verbunden sei. Der Neo-Surschyk sei eine Mischsprache derjenigen, die sich im Alltag primär des Russischen bedienen, jedoch aufgrund sprachpolitischer Maßnahmen und sprachpuristischer Ideologie zum Ukrainischen als Hauptsprache übergegangen sind (siehe dazu die Analyse von Volodymyr Kulyk in derselben Ausgabe). Folglich stellt ihre Sprache zurzeit eine Art interlanguage dar, die eine russische Basis bzw. einen höheren Anteil an russischem Wortschatz hat. Vor dem jetzigen sprachpolitischen Hintergrund ist es möglich, dass der Neo-Surschyk in der ukranischen Bevölkerung noch negativer als der gewohnte Alt-Surschyk angesehen werden wird, da der Neo-Surschyk als Schibboleth, d. h. als charakteristisches Merkmal, das eine klare soziale Zuordnung von Sprecher:innen ermöglicht, fungieren kann. Mit dem stärker ukrainischbasierten Alt-Surschyk wäre eine Schibbolethfunktion nicht im gleichen Maße möglich.

Hybride Sprachpraxis im Alltag

Die bisherige sprachliche Situation in der Ukraine war insofern einzigartig, als dass dort im Alltag, auf der Arbeit, im Fernsehen oder selbst im Parlament der sog. dialogische Bilingualismus bzw. die sog. Semikommunikation praktiziert wurde: Jede:r Komnunikationsteilnehmer:in sprach die Sprache bzw. den Sprachcode, die/der ihm/ihr leichter fiel, und wurde dennoch verstanden. Dabei störte dieser wechselnde Gebrauch von Sprachcodes bzw. diese hybride Sprachpraxis die ukrainische Bevölkerung kaum. Auch der Gebrauch von Surschyk gehörte und gehört zu dieser hybriden Sprachpraxis, wobei Surschyk als Kompromisssprache auftritt. Eine Kompromisssprache übernimmt in diesem Sinne eine Vermittlerrolle zwischen den zu berücksichtigenden Standardsprachen.

Außerdem verfügt Surschyk bei einem erheblichen Teil der ukrainischen Bevölkerung über ein großes Identifikationspotenzial. Der Gebrauch von Surschyk findet allerdings nur in bestimmten, informellen Kommunikationssituationen statt, sodass davon auszugehen ist, dass es der Kontext ist, der die Wahl einer der drei möglichen Sprachcodes bestimmt. Der Diskurs rund um Surschyk legt zudem eine Diskrepanz offen: In den staatlichen, soziologischen Umfragen in der Ukraine kommt Surschyk bei Fragen zur Alltagskommunikation als Antwortoption kaum vor, in wissenschaftlichen Projekten und Umfragen dagegen durchaus. Das bedeutet, dass die staatlichen Institutionen die Existenz von Surschyk nicht akzeptieren.

Veränderungen nach 2022

Seit dem russischen Überfall im Februar 2022 findet eine Neujustierung sprachlicher Verhältnisse in der Ukraine statt. Die ukrainische Bevölkerung verändert sowohl die Sprachpraxis als auch ihre Einstellungen gegenüber ihren Sprachen, insbesondere gegenüber der Staatssprache Ukrainisch und der Aggressorsprache Russisch. Nicht nur der Staat als sprachpolitischer Hauptakteur, sondern auch die Menschen selbst unterstützen neuerlich das Ukrainische in allen gesellschaftlichen Domänen aktiv, sodass eine Harmonisierung zwischen der Sprachpolitik von oben und der Sprachpolitik von unten beobachtet werden kann. Insbesondere in östlichen und südlichen Regionen ist ein Übergang zum Ukrainischen zu verzeichnen. Mit Blick auf diese Entwicklungen bietet sich im Falle von Surschyk die Prognose an, dass für diejenigen Teile der Bevölkerung der Ukraine, die sich vormals überwiegend des Russischen im Alltag bedienten, gerade dieses Mischidiom eine (deutlich kürzere) Brücke des Übergangs vom Russischen zum Ukrainischen bilden wird können – und dass Surschyk nicht, wie früher behauptet wurde, den Übergang zum Russischen beschleunige.

Quellen / Literatur

  • Bilaniuk, Laada: Externer Link: Die Sprachenfrage in Kriegszeiten: Politiken um Status, Standards und Identitäten in der Ukraine. In: Ukraine-Analysen Nr. 156 vom 30.09.2015, S. 10–13.

  • Hentschel, Gerd, Zeller, Patrick: Meinungen und Einstellungen zu Sprachen und Kodes in zentralen Regionen der Ukraine. In: Zeitschrift für Slawistik, 61(4), 2016, S. 636–661.

  • Hentschel, Gerd, Tilmann, Reuther: Ukrainisch-russisches und russisch-ukrainisches Code-Mixing. Untersuchungen in drei Regionen im Süden der Ukraine. In: Colloquium: New Philologies, Volume 5, Issue 2, 2020, S. 105–132.

  • Hentschel Gerd, Taranenko Oleksandr: Bilingualism or tricodalism: Ukrainian, Russian and "Surschyk” in Ukraine. Analysis and linguistic-geographical mapping. In: Die Welt der Slaven 66(2), 2021, S. 268–299.

Fussnoten

Weitere Inhalte

ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an den Instituten für Slawistik und Baltistik der Universität Greifswald. Zu den Schwerpunkten ihrer Forschung gehören Soziolinguistik, Sprach(en)politik, Sprachkontakt und Mehrsprachigkeit.