Bei der relativen Mehrheitswahl gewinnt das Mandat, wer mehr Stimmen erhält als jeder andere Kandidat. Bei der absoluten Mehrheitswahl dagegen braucht ein Wahlkreiskandidat mindestens 50 Prozent plus eine Stimme.
Dieses Wahlsystem zielt darauf ab, möglichst klare Mehrheitsverhältnisse zu schaffen. Man unterscheidet die beiden Varianten der relativen und der absoluten Mehrheitswahl.
Relative Mehrheitswahl
Bei der relativen Mehrheitswahl wird das Wahlgebiet in so viele Wahlkreise unterteilt, wie Abgeordnete zu wählen sind. Jeder Wahlkreis wählt eine/-n Abgeordnete/-n. Man spricht daher von Einpersonenwahlkreisen.
Der Wähler bzw. die Wählerin hat eine Stimme pro Kandidaten oder Kandidatin. Wer von diesen mehr Stimmen als jede/-r andere der Mitbewerber/-innen (das heißt die relative Mehrheit) auf sich vereinigt, zieht in das Parlament ein. Die Stimmen für die unterlegenen Kandidaten/-innen gehen verloren. Die Zusammensetzung des Parlaments ist leicht ersichtlich, da sich in der Regel klare Mehrheiten bilden. Die relative Mehrheitswahl hat also einen "mehrheitsbildenden Effekt".
Beispiel: Großbritannien
Großbritannien ist das Paradebeispiel für die relative Mehrheitswahl. Das Wahlsystem hat sich dort in einem langen historischen Prozess entwickelt. Das aktuelle Wahlrecht, das noch fast unverändert gilt, stammt aus dem Jahr 1945. 1969 wurde das Wahlalter auf 18 gesenkt, 2011 wurden feste 5-Jahres-Legislaturperioden eingeführt.
Das eindrucksvollste Beispiel für die Effekte der Mehrheitswahl lieferte der Wahlkreis Stockton South im Jahr 1987 mit folgender Stimmverteilung:
Ian Wrigglesworth (SDP) 20.059 Stimmen
Timothy Devlin (Conservatives) 20.833 Stimmen
John Scott (Labour Party) 18.600 Stimmen
Der Kandidat der Konservativen, Devlin, erhielt die meisten Stimmen und zog ins Unterhaus ein. Nahezu zwei Drittel aller Stimmen blieben unberücksichtigt. Der unterschiedliche Erfolgswert der Stimmen wird immer wieder als Argument gegen die relative Mehrheitswahl ins Feld geführt.
Mehrheitsbildender Effekt
In Großbritannien gewinnt in der Regel eine der beiden großen Parteien (Conservatives oder Labour Party) die absolute Mehrheit der Parlamentssitze. Die Mehrheitspartei kann die Regierung stellen, ohne dass eine Koalition gebildet werden muss. Eine absolute Mehrheit (mehr als 50 Prozent der Stimmen) erlangt dabei gewöhnlich keine Partei. Erst das Mehrheitswahlsystem verwandelt einen kleinen Stimmenvorteil in eine deutliche Mehrheit. Bei den Wahlen am 5. Mai 2005 führte dieser mehrheitsbildende Effekt beispielsweise dazu, dass die Labour Party 35 Prozent der Stimmen in 55 Prozent der Mandate verwandeln konnte. Weil die Mehrheiten erst durch das Wahlsystem geschaffen werden, spricht man von künstlichen Mehrheiten (manufactured majorities). Das Ergebnis der Wahlen am 6. Mai 2010 stellte dieses System nachhaltig infrage. Die stärkste Fraktion (Conservatives) war aufgrund des Wahlergebnisses gezwungen, eine Koalition mit den Liberal Democrats einzugehen. Nach den Wahlen von 2017 bildete sich eine konservative Minderheitsregierung.
Nachteile für kleinere Parteien
Der mehrheitsbildende Effekt kommt den großen Parteien zugute und geht zulasten der kleineren Parteien. Das betrifft in Großbritannien vor allem die dritte politische Kraft, die Liberal Democrats. Ihr Anteil an den Mandaten ist stets wesentlich niedriger als ihr Stimmenanteil. Der Grund dafür ist, dass sie zwar landesweit einen gewissen Anteil der Wählerstimmen erhält, ihre Wählerschaft jedoch nicht regional konzentriert ist, sodass sie nur wenige Wahlkreise erringen kann. Der nationale Stimmenanteil wird nicht in Mandate umgerechnet. Wegen der Benachteiligung kleinerer Parteien spricht man von der Feindlichkeit der Mehrheitswahl gegen Drittparteien. Es können sich gewöhnlich nur zwei große Parteien etablieren.
Vorteile für Regionalparteien
Im Gegensatz zu kleinen Parteien, deren Wählerschaft über das ganze Land verteilt ist, haben Regionalparteien gute Chancen. Ihre Wählerschaft lebt konzentriert in wenigen Wahlkreisen. In den letzten Jahrzehnten konnten sich daher die schottischen Nationalisten (Scottish National Party) und die walisischen Nationalisten (Plaid Cymru) einen festen Platz im britischen Parteienspektrum erobern.
QuellentextRegionalwahlen in Schottland und Wales
Bei den Wahlen zu den Regionalparlamenten von Schottland und Wales gilt seit 1999 ein gemischtes Wahlverfahren, das dem zum Deutschen Bundestag ähnelt. Die Wählerinnen und Wähler haben zwei Stimmen. Mit der ersten wählen sie den Abgeordneten ihres Wahlkreises mit einfacher Mehrheit (vgl. Unterhauswahlen). Mit der zweiten Stimme wählen sie eine Parteiliste, die für einen größeren Wahlbezirk aufgestellt wurde. Unter Berücksichtigung der von den Parteien gewonnenen Direktmandate werden die Listenmandate aufgrund der Zweitstimmen ausgleichend proportional auf die Parteien verteilt. Die Parteien, die zwar einen relativ hohen Stimmenanteil erhalten, aber wenige Direktmandate erringen konnten, sind so nicht mehr im Nachteil.
Das seit 1999 von Westminster autonome schottische Parlament setzt sich aus 129 Sitzen zusammen. Davon werden 73 Abgeordnete direkt in ihrem Wahlkreis gewählt. Die übrigen 56 Sitze entfallen auf die acht Wahlbezirke. Je sieben Mandate werden über die Listenstimmen verteilt. Die Nationalversammlung für Wales hat 60 Mitglieder, von denen 40 direkt gewählt werden und 20 über die Listen aus fünf Bezirken in das Parlament einziehen.
Beide Regionalparlamente haben seit 2011 eine feste Legislaturperiode von fünf Jahren.
Hochburgenbildung
Aber nicht nur die Regionalparteien schaffen sich eine Heimat in bestimmten Wahlkreisen. Auch die Labour Party und die Conservatives haben in vielen Wahlkreisen – ihren Hochburgen – ein festes Standbein. Die Mehrheit der Wählerschaft entscheidet sich dort regelmäßig für dieselbe Partei. Diese Wahlkreise werden "sichere Wahlkreise" genannt, weil eine Partei damit rechnen kann, diesen Wahlkreis sicher zu gewinnen. Insgesamt gelten ca. 80 Prozent der Wahlkreise als sicher.
Politische Verödung in Hochburgen
Wird eine Hochburg regelmäßig von derselben Partei gewonnen, bleibt das nicht ohne Folgen für das politische Leben. Die unterlegene Partei lässt normalerweise von Anstrengungen ab, diesen Wahlkreis zu erobern. Außerdem kann sie regionale Parteiorganisationen nur mühsam aufbauen. Fehlt aber die Konkurrenz, muss sich auch die dominierende Partei nicht sonderlich bemühen. Es kommt daher oft zur politischen Verödung der Parteihochburgen.
Beispiel für die Folgen: Kampagne gegen "Devolution"
Wozu die politische Verödung in Parteihochburgen führt, lässt sich an einem Beispiel in Schottland illustrieren: Die am 1.Mai 1997 gewählte Labour-Regierung setzte für September ein Referendum über einen weitgehenden Autonomiestatus für Schottland an. Die Conservatives waren dagegen. Da Schottland aber Labour-Gebiet ist, gibt es dort kaum tragfähige regionale Parteiorganisationen der konservativen Partei. Bei der Organisation der Kampagne gegen die Devolution (dieser Begriff drückt die Verlagerung von Regierungsgewalt von einer Zentralregierung zurück in die Regionen aus) stellte das ein großes Hindernis für die Conservatives dar. Dies mag mit ein Grund dafür sein, warum mit 74,3 Prozent das Referendum eindeutig zugunsten des Vorschlags der Labour Party ausfiel.
Der Entpolitisierung in den Parteihochburgen steht ein florierendes politisches Leben in den umkämpften Wahlkreisen gegenüber. Will eine Partei die Wahl gewinnen, muss sie ausreichend unsichere Wahlkreise für sich erringen. Die Wahlkämpfer umwerben daher besonders die marginal seats und zeigen ein offenes Ohr für die Probleme dort.
Wahlkampf um marginal seats
Um zu gewinnen, suchte sich die Labour Party beim Wahlkampf zu den Unterhauswahlen im Mai 1997 zunächst 90 unsichere Wahlkreise. In diesen wurden durch massenhafte Telefonbefragungen jeweils 5.000 Wechselwähler und Wechselwählerinnen ausfindig gemacht. Tony Blair warb mit einem persönlichen Brief um ihre Gunst. Die Kandidatinnen und Kandidaten erhielten die Anweisung, mit mindestens 1.000 Wechselwählerinnen und -wählern persönlichen Kontakt aufzunehmen. Von den Bemühungen um die Wechselwählerschaft wurde bis zum Wahltag nicht abgelassen. So gewann Labour die Wahl.
Umkehrung der Stimmen-Mandate-Relation: "bias"
Gelegentlich führt das Mehrheitswahlsystem dazu, dass die nach der Zahl der insgesamt abgegebenen Stimmen zweitstärkste Partei die Mehrheit im Parlament erhält. Diese Erscheinung wird bias (Mehrheitsumkehr) genannt. Dazu kommt es, wenn die letztlich unterlegene Partei ihre Stimmen in Hochburgen des politischen Gegners "verschenkt" und / oder die Wahlbeteiligung in den Wahlkreisen des Gewinners niedrig ist.
Würde die relative Mehrheitswahl in der Bundesrepublik Deutschland eingeführt und zu einem Wahlergebnis mit bias führen, fände es kaum Akzeptanz. Aber in Großbritannien ist das relative Mehrheitswahlrecht fest in der Gesellschaft verankert. Manche Wahlergebnisse finden zwar wenig Begeisterung in der britischen Bevölkerung und fordern harsche Kritik heraus. Sie werden aber trotzdem akzeptiert.
Beispiel für bias
Stellen wir uns ein Land mit zwei Parteien, A und B, einem relativen Mehrheitswahlrecht in Einpersonenwahlkreisen, 100 Wahlkreisen und 1.000.000 Wahlberechtigten vor.
10.000 Bürgerinnen und Bürger sind in jedem Wahlkreis wahlberechtigt. Partei A erhält in 40 Wahlkreisen die eindeutige Mehrheit von 60 Prozent. In diesen Wahlkreisen gehen alle Wahlberechtigten zur Wahl. Partei B erhält in den restlichen 60 Wahlkreisen nur eine Mehrheit von 55 Prozent. Der Rest wählt A. Hier geht nur die Hälfte wählen. Insgesamt sind 700.000 Wählerinnen und Wähler zur Urne gegangen. In diesem Beispiel hat Partei A 375.000 Stimmen. Das sind 53,6 Prozent der Stimmen. A erhält aber nur 40 Prozent der Sitze. Partei B bekommt dagegen für 46,4 Prozent der Stimmen die absolute Mandatsmehrheit von 60 Prozent.
Wahlkreiseinteilung
Eine besondere Bedeutung bei der Wahl in Einpersonenwahlkreisen kommt der Einteilung der Wahlkreise zu. Das Land wird in 650 Wahlkreise (= die Anzahl der Abgeordneten im Unterhaus) eingeteilt: Werden sie nach politischen Gesichtspunkten gezogen, ist das Wahlergebnis moralisch anstößig, denn es lässt sich effektiv manipulieren. Zwei Strategien sind möglich: Zum einen können die Wahlkreisgrenzen so gezogen werden, dass starke Wählerschaften des politischen Gegners durch starke eigene Wählerschaften neutralisiert werden, andererseits lassen sich Hochburgen bilden. Dieses Verfahren wird auch nach Elbridge Gerry (1812, ehemaliger Gouverneur von Massachusetts), der es besonders virtuos beherrschte, gerrymandering genannt.
Um Manipulationen zu verhindern, ist also eine unabhängige Kommission notwendig, die über faire Wahlkreisgrenzen wacht. Die ständige Anpassung der Wahlkreisgrenzen ist auch deshalb erforderlich, weil immer Migrationsprozesse stattfinden und das Bevölkerungswachstum verschieden schnell verläuft. Variiert die Anzahl der Wahlberechtigten pro Wahlkreis zu stark, kann dem Gebot der Stimmengleichheit nicht mehr entsprochen werden. Die Aufgabe der Anpassungen der Wahlkreisgrenzen bei Einpersonenwahlkreisen obliegt in Großbritannien der Boundary Commission. Nach frühestens zehn und spätestens 15 Jahren überprüft je eine Boundary Commission für England, Schottland, Wales und Nordirland die Größe der Wahlkreise. Für die Wahl 2010 wurden die Wahlkreise neu abgegrenzt, um Bevölkerungsveränderungen Rechnung zu tragen. Reformvorschläge der Commission scheiterten, sodass auch die Wahlen von 2019 mit den Wahlkreisgrenzen von 2010 erfolgten.
Ein bewährtes Wahlsystem?
Das britische Wahlsystem hat von 1945 bis 1970 sehr gut funktioniert. Mit ihm wird ein klarer Regierungsauftrag für eine Partei erteilt. Die gleichmäßige Repräsentation der Stimmen hat sich diesem Ziel unterzuordnen. Conservatives und Labour Party kämpften um die Wählergunst und wechselten sich in der Regierungsverantwortung ab. Seit 1974 zeigt das Zweiparteiensystem aber Auflösungserscheinungen. Die Zustimmung zu den großen Parteien schwindet. Die Liberal Democrats erhalten seit 1974 oft um 20 Prozent der Stimmen, sind aber im Parlament kaum vertreten. Auch Regionalparteien spielen eine größere Rolle. Es gibt daher eine Diskussion über eine Reform des Wahlsystems. Die Verzerrungen, die beim Verhältnis von Sitzen und Mandaten auftreten, sind seit Längerem ins Blickfeld der Öffentlichkeit gerückt.
Das Wahlsystem wird von der Labour Party und natürlich von den Liberal Democrats, die es am stärksten benachteiligt, infrage gestellt. Tony Blair, der ehemalige britische Premierminister, hatte daher ein Referendum über die Wahlrechtsfrage in Aussicht gestellt, das jedoch bis heute noch nicht umgesetzt wurde. Labour trat bei den Wahlen 1997 mit dem Slogan "It’s time for a change" an. Die Bevölkerung Großbritanniens, nach 18 Jahren Herrschaft der konservativen Regierung überdrüssig, folgte und verhalf der Labour Party zum Sieg. Auch 2005 siegte Labour und behauptete ihre Mehrheit im Unterhaus. Die Wahlen 2010 bedeuteten nicht nur die Abwahl von Gordon Brown und der Labour Party, sondern auch eine Zäsur, da die Konservativen den Machtwechsel nur mithilfe der Liberal Democrats als Koalitionspartner vollziehen konnten. Bei den Unterhauswahlen im Jahr 2015 konnten die Conservatives unter Führung von Premierminister David Cameron für eine Legislaturperiode die absolute Mehrheit erringen und eine Alleinregierung bilden.
Absolute Mehrheitswahl
Bei der absoluten Mehrheitswahl wird wie bei der relativen Mehrheitswahl in Einpersonenwahlkreisen gewählt. Ein Kandidat oder eine Kandidatin schafft im ersten Wahlgang den Einzug ins Parlament allerdings nur, wenn er oder sie die absolute Mehrheit (also mehr als 50 Prozent der Stimmen) erringt. Da dies selten gelingt, fällt gewöhnlich ein zweiter Wahlgang an. In ihm ist dann die relative Mehrheit der Stimmen ausreichend.
Im zweiten Wahlgang kommt es meist zu Wahlabsprachen. Parteien, deren Chancen von vornherein gering sind, empfehlen ihrer Wählerschaft die Wahl eines ihnen genehmen und aussichtsreichen Kandidaten oder einer Kandidatin. Die Wahlempfehlungen signalisieren meist, welche Parteien miteinander koalieren würden. In Frankreich sind zum zweiten Wahlgang nur Kandidaten bzw. Kandidatinnen zugelassen, denen im ersten Wahlgang mindestens 12,5 Prozent der eingeschriebenen Wählerinnen und Wähler ihre Stimme gegeben haben.
Die absolute Mehrheitswahl soll wie die relative Mehrheitswahl zu klaren Mehrheiten im Parlament führen. Der mehrheitsbildende Effekt ist in diesem Fall aber nicht so stark wie bei der relativen Mehrheitswahl.
QuellentextRechenbeispiel
Ein Beispiel zur absoluten Mehrheitswahl: 60.000 Personen sind stimmberechtigt. Im ersten Wahlgang geben 25.000 ihre Stimme Kandidat A, 20.000 Kandidatin B und 15.000 Kandidat C. Niemand von ihnen schafft die absolute Mehrheit.
Für den zweiten Wahlgang gibt Kandidat C seinen Wählerinnen und Wählern die Empfehlung, Kandidatin B zu wählen. Es sei angenommen, dass nicht alle seiner Empfehlung folgen. 12.000 schwenken zu B, 3.000 der Wahlberechtigten geben entgegen der Empfehlung ihre Stimme Kandidat A. Kandidatin B gewinnt mit 32.000 Stimmen. A erreicht nur 28.000. Das Ergebnis fällt hier also anders aus als bei der relativen Mehrheitswahl.
Ein Zweiparteiensystem bildet sich gewöhnlich nicht aus. Die absolute Mehrheitswahl gab es auch im Deutschen Kaiserreich von 1871 bis 1918. Die deutsche Variante unterschied sich allerdings von der französischen dadurch, dass der zweite Wahlgang eine Stichwahl zwischen den beiden stimmenstärksten Kandidaten des ersten Wahlgangs war. Er brachte also auf der Wahlkreisebene im zweiten Wahlgang automatisch eine absolute Mehrheit hervor.
Beispiel: Frankreich
In Großbritannien ist das Wahlsystem auch ein Teil der politischen Tradition. In Frankreich ist zu beobachten, wie es sich als machtpolitisches Instrument verwenden lässt. Zentraler Faktor ist dabei die Einteilung der Wahlkreise. Eine unabhängige Kommission wie die Boundary Commission in Großbritannien gibt es nicht. Staatspräsident Charles de Gaulle ließ die Wahlkreise prinzipiell zum Nachteil des politischen Gegners, vor allem der Kommunisten, einteilen. Ihre Wählerinnen und Wähler wurden über mehrere Wahlkreise verteilt, sodass kaum Aussichten auf ein Mandat bestanden. Wo ihr Sieg aber unvermeidbar war, wurden sie auf Hochburgen konzentriert und so eingedämmt. Auch die Reform der Wahlkreisgrenzen 1986 diente politischen Zielen. Die regierenden Parteien, vor allem die gaullistische RPR (Rassemblement pour la République), verstanden es, sich dadurch Vorteile zu verschaffen.
Aber nicht nur die Einteilung der Wahlkreise, auch das Wahlsystem selbst ist Gegenstand machtpolitischer Überlegungen. Die Wiedereinführung der absoluten Mehrheitswahl bei den Wahlen zur Nationalversammlung 1958 hatte das Ziel, die Kommunisten zu schwächen. 1985 wiederum führten die regierenden Sozialisten ein Verhältniswahlsystem ein, um den sich abzeichnenden Wahlsieg der Rechten abzumildern. Einer Analyse der Wochenzeitschrift L’Express zufolge hätte die Rechte bei absoluter Mehrheitswahl in der Nationalversammlung eine Mehrheit von 120 Sitzen erhalten. Durch die zuvor eingeführte Verhältniswahl kam sie nur auf einen Vorsprung von drei Sitzen. Die neue bürgerliche Regierung Chirac kehrte im Herbst 1986 zum traditionellen Mehrheitswahlrecht zurück.
Ergebnisse der Wahlen zur französischen Nationalversammlung 2017 Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/
Wirkung
Das absolute Mehrheitswahlrecht Frankreichs wirkt etwas abgeschwächt in die gleiche Richtung wie das relative Mehrheitswahlrecht. Die Folgen sind
mehrheitsbildender Effekt,
unterschiedlicher Erfolgswert der Stimmen,
Verzerrungen beim Verhältnis von Stimmen und Mandaten,
schlechte Chancen für kleine Parteien.
Insgesamt ist die absolute Mehrheitswahl zwischen relativer Mehrheitswahl und Verhältniswahl angesiedelt. Während mit einer Verhältniswahl in Frankreich kaum stabile parlamentarische Mehrheiten zustande kämen, würde die relative Mehrheitswahl wahrscheinlich schon bei einem Stimmenanteil von 30 Prozent eine absolute Mehrheit schaffen. So konnte sich ein relativ stabiles Parteiensystem in Frankreich herausbilden. Es standen sich mit den Sozialisten (PS) auf der einen Seite und den Konservativen (UMP bis 2015) auf der anderen Seite zwei ideologische Blöcke gegenüber. Diese übernehmen abwechselnd die Regierung. Dieses Parteiensystem funktioniert ähnlich wie ein Zweiparteiensystem.
Große Umbrüche gab es bei der Wahl 2017. Die neu gegründete Partei La République en Marche! (Die Republik in Bewegung!) von Präsident Emmanuel Macron stellte nach einem Erdrutschsieg die absolute Mehrheit. Die bisher stärkste Partei PS brach ein und erreichte nur noch fünf Prozent der Sitze. Die Konservativen (seit 2015 Les Républicains) verzeichneten ebenfalls Verluste und kamen auf knapp 20 Prozent der Sitze.
Durch den zweiten Wahlgang mit seinen Wahlempfehlungen funktioniert die absolute Mehrheitswahl anders als die relative Mehrheitswahl. Im ersten Wahlgang ist nur der Wahlkreisbewerber gewählt, der mehr als 50 Prozent aller Stimmen und mehr als 25 Prozent der Stimmen aller Wahlberechtigten erhalten hat. Am zweiten Wahlgang eine Woche später dürfen dann die beiden bestplatzierten und die Kandidaten, die mindestens 12,5 Prozent der Stimmen aller Wahlberechtigten des Wahlkreises erhalten haben, teilnehmen. Die Parteien eines politischen Lagers einigen sich meist darauf, im zweiten Wahlgang gemeinsam eine Kandidatur zu unterstützen. Welcher der Blöcke sich durchsetzen kann, hängt mit davon ab, ob sich die Parteien eines Blocks auf einen Kandidaten oder eine Kandidatin einigen können oder ob sie sich beispielsweise gemeinsam gegen eine rechtsextreme Partei verbünden.
Da das politische Klima zwischen den Parteien ständig wechselt, gelingt das mit unterschiedlichem Erfolg. Durch innere Uneinigkeit konnten die Linksparteien längere Zeit keine Mehrheit gewinnen. Und auch, wenn sich die Parteien einig sind, müssen die Wählerinnen und Wähler ihren Absprachen nicht folgen. Wächst die Distanz der Wählerschaft zu den Parteien, können daher überraschende Wahlergebnisse eintreten.
Professor Dr. Karl-Rudolf Korte hat einen Lehrstuhl für Politikwissenschaft inne und ist Direktor der NRW School of Governance der Universität Duisburg-Essen. Er ist zudem geschäftsführender Herausgeber der Zeitschrift für Politikwissenschaft.