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Vorzeitige Auflösung des Bundestages

Karl-Rudolf Korte

/ 4 Minuten zu lesen

Nach bisheriger Rechtslage ist eine vorzeitige Beendigung der Wahlperiode nur möglich, wenn es um die Wahl oder um das Vertrauen zum Bundeskanzler geht.

Großes Gedränge an den im Plenum aufgestellten Wahlurnen: In geheimer Wahl stimmen die Mitglieder des Bundestages am 1. Juli 2005 über die Vertrauensfrage ab, die Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) unmittelbar zuvor gestellt hat. Wie gewünscht, verlor Schröder die Abstimmung, der Bundestag wurde aufgelöst und Neuwahlen wurden angesetzt. (© picture-alliance/dpa)

Es gibt kein Selbstauflösungsrecht des Deutschen Bundestages. Aus Gründen der politischen Stabilität ist für vorzeitige Neuwahlen ein kompliziertes Verfahren in Gang zu setzen, an dem mehrere Verfassungsorgane beteiligt sind. Die Möglichkeit vorzeitiger Neuwahlen besteht demnach nur, wenn nach Artikel 68 des Grundgesetzes der Bundespräsident auf Vorschlag des Bundeskanzlers den Bundestag innerhalb von 21 Tagen auflöst, nachdem die Mehrheit der Abgeordneten dem amtierenden Bundeskanzler das Vertrauen verweigert hat (Vertrauensfrage). Solange der Bundespräsident dies jedoch nicht verfügt hat – er ist an den Vorschlag des Kanzlers keineswegs gebunden –, kann der Bundestag von der Möglichkeit des sogenannten konstruktiven Misstrauensvotums Gebrauch machen: Mit absoluter Mehrheit kann der Bundestag einen neuen Bundeskanzler wählen. Ist dieses Verfahren erfolgreich, wird der Bundestag nicht aufgelöst. Nach bisheriger Rechtslage ist eine vorzeitige Beendigung der Wahlperiode nur möglich, wenn es um die Wahl oder um das Vertrauen zum Bundeskanzler geht: beim Scheitern der Kanzlerwahl (Art. 63, Abs. 4 GG) oder beim Scheitern der Vertrauensfrage (Art. 68, Abs. 1 GG).

Vertrauensfrage und konstruktives Misstrauensvotum (Art. 67, 68 GG)

Zweimal kam es in der Geschichte des Deutschen Bundestages zum konstruktiven Misstrauensvotum und in dessen Kontext zur Auflösung des Bundestages. Am 27. April 1972 scheiterte das Misstrauensvotum gegen Bundeskanzler Willy Brandt. Der Gegenkandidat Rainer Barzel (CDU) erhielt nicht die notwendige Mehrheit. In den folgenden Monaten entwickelte sich eine Pattsituation im Bundestag, was zu einer Lähmung der parlamentarischen Arbeit führte. Deshalb zog Brandt im Herbst 1972 die Konsequenzen und stellte die Vertrauensfrage, die den Weg zu Neuwahlen frei machte, nachdem ihm die Mehrheit der Abgeordneten das Vertrauen verweigert hatte. Am 1. Oktober 1982 wurde erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland das konstruktive Misstrauensvotum erfolgreich angewendet. Der Oppositionsführer, Helmut Kohl (CDU), wurde mit 256 Stimmen (die Kanzlermehrheit betrug im neunten Bundestag 249 Stimmen) zum sechsten Bundeskanzler gewählt und Helmut Schmidt (SPD) gestürzt. Die Regierung Kohl / Genscher verfolgte von Anfang an das Ziel, im März 1983 Neuwahlen durchzuführen. So kündigte es Bundeskanzler Kohl in seiner ersten Regierungserklärung vor dem Deutschen Bundestag an. Der Kanzler stellte im Dezember 1982 die Vertrauensfrage, wobei er davon ausging, nicht die erforderliche Mehrheit zu erhalten. Sämtliche anwesenden CDU / CSU-Abgeordneten hatten sich bei der namentlichen Abstimmung der Stimme enthalten. Der Bundespräsident löste daraufhin nach heftigen öffentlichen Debatten zum Regierungswechsel den Bundestag auf und ordnete für den 6. März 1983 Neuwahlen an.

Das Bundesverfassungsgericht bestätigte diese Auflösung, obwohl der Bundeskanzler tatsächlich das Vertrauen der Mehrheit des Bundestages besaß. Die Vertrauensfrage war also nur zum Zweck der Herbeiführung vorzeitiger Neuwahlen gestellt worden.

Nachdem die SPD bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen am 22. Mai 2005 ihre 39-jährige Vorherrschaft in diesem Bundesland verloren hatte und damit auch die letzte rot-grüne Koalition auf Landesebene abgewählt war, kündigte Bundeskanzler Gerhard Schröder an, dass er noch im laufenden Jahr Neuwahlen anstrebe. Als Instrument zur Herbeiführung der Neuwahlen wurde auch hier wie schon 1972 und 1982 die Vertrauensfrage herangezogen.

Am 1. Juli 2005 stellte der Bundeskanzler gemäß Artikel 68 des Grundgesetzes die Vertrauensfrage vor den Mitgliedern des Deutschen Bundestages und erhielt nur 151 von 595 Stimmen. Die notwendige Kanzlermehrheit von 301 Stimmen wurde damit klar verfehlt. Vorab begründete der Kanzler in einer Rede sein Vorgehen und nannte dabei nicht nur die "schmerzlichen" Wahlniederlagen seiner Partei, sondern auch die "inneren Spannungen und Konflikte" innerhalb der Regierungsparteien und besonders innerhalb der SPD. Für seine Reformpolitik, so Schröder, brauche er eine neue Legitimation durch die Wählerinnen und Wähler. Nach der Wahlniederlage in Nordrhein-Westfalen habe sich zudem die Frage gestellt, ob er als Kanzler noch die volle Handlungsfähigkeit für seine Politik habe, da – so führte Schröder seine Argumentation fort – nun die CDU / CSU mit ihrer Mehrheit im Bundesrat eine destruktive Blockadepolitik betreiben könne.

Nachdem die Bundesregierung beim Bundespräsidenten Horst Köhler eine umfangreiche Stellungnahme zur Vertrauensfrage eingereicht hatte, verkündete dieser am 21. Juli seine Entscheidung, den Deutschen Bundestag aufzulösen, und setzte die Neuwahl für den 18. September 2005 an. Die SPD-Abgeordnete Helena Hoffmann und der Grünen-Abgeordnete Werner Schulz legten beim Bundesverfassungsgericht Klage gegen das Vorgehen des Bundeskanzlers ein mit der Begründung, der Bundeskanzler habe in Wirklichkeit immer noch die Mehrheit im Bundestag, die Vertrauensfrage sei also fingiert.

Die Klagen wurden vom Gericht als unbegründet abgewiesen. In der anschließenden Wahl konnten sich CDU / CSU nur knapp gegen die SPD durchsetzen. Das Wahlergebnis führte zu einer Notlösung: Die beiden Volksparteien bildeten mangels Alternativen bis 2009 die zweite Große Koalition in der Geschichte der Bundesrepublik. Die CDU stellte mit Angela Merkel zum ersten Mal eine Bundeskanzlerin, die in ihrer zweiten Amtszeit ein Bündnis mit der FDP einging und seit der Bundestagswahl 2013 erneut in einer Großen Koalition regiert.

Fussnoten

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Professor Dr. Karl-Rudolf Korte hat einen Lehrstuhl für Politikwissenschaft inne und ist Direktor der NRW School of Governance der Universität Duisburg-Essen. Er ist zudem geschäftsführender Herausgeber der Zeitschrift für Politikwissenschaft.

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