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Wahlbeteiligung: Nichtwähler- und Protestwählerschaft

Karl-Rudolf Korte

/ 2 Minuten zu lesen

Im Vergleich zu anderen Demokratien hat die Beteiligung bei Wahlen in Deutschland keineswegs in bedrohlicher Weise abgenommen. Aber gegenüber 1983 ist die Zahl der Nichtwähler bei Bundestagswahlen fast dreimal so hoch.

"Mit den Kindern in den Zoo gehen, das Auto waschen, Fußball gucken ...? Irgendwas hatte ich mir heute vorgenommen..." (© picture-alliance, dieKLEINERT.de)

Die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik Deutschland an den Wahlen hat seit 1949 auf allen Ebenen des politischen Systems tendenziell abgenommen: Seit der Bundestagswahl 1983 hat sich die Nichtwählerzahl mehr als verdoppelt. Im internationalen Vergleich ist die Wahlbeteiligung in Deutschland immer noch relativ hoch, für die deutschen Verhältnisse bewegt sie sich jedoch weiterhin auf einem ungewohnt niedrigen Niveau. Bei der Bundestagswahl 2017 lag der Nichtwähleranteil bei 23,8 Prozent.

Wahlbeteiligung bei Bundestagswahlen (in %) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/

Die Diskussion um die Wahlbeteiligung ist in der Literatur keineswegs entschieden. Die einen sehen in der mäßig sinkenden Quote eine zunehmende Delegitimierung der Parteien bzw. des gesamten politischen Systems. Sie interpretieren die sinkende Wahlbeteiligung in den alten Bundesländern als Ausdruck von Protest. Als Ursachen werden genannt:

  • Parteien- und Politikverdrossenheit,

  • Unzufriedenheit mit dem politischen System,

  • soziale und wirtschaftliche Unzufriedenheit,

  • wachsende Ungleichheit.

Wählen gilt nicht mehr als "Bürgerpflicht", Parteibindungen nehmen ab. Die Zahl derer, die sich unabhängig und kurzfristig entscheiden, steigt indes von Wahl zu Wahl. Für andere wiederum ist eine niedrigere Wahlbeteiligung ein Zeichen für Zufriedenheit. So gesehen, spiegelt die sinkende Wahlbeteiligung – nach dieser Argumentation – einen Normalisierungstrend wider.

Die demokratietheoretische oder normative Diskussion erschließt sich recht gut über die jeweils zugrunde liegenden Positionen. Zwei Grundmuster spielen hierbei eine Rolle: Zum einen geht es um den Grundkonflikt repräsentative oder direkte Demokratie, zum anderen um den Gegensatz reformorientiert (Grundstimmung eher unzufrieden) oder am Status quo orientiert (Grundstimmung eher zufrieden). Abhängig von der eigenen normativen Ausrichtung lassen sich die Daten dann interpretieren.

"... bei so einem Ereignis zählt eine jede Stimme!" (© picture-alliance, dieKLEINERT.de)

Die empirischen Befunde bewegen sich dabei auf zwei Ebenen. Zunächst zeigt der Vergleich mit der momentanen Situation in anderen Demokratien, dass die deutschen Beteiligungsquoten keineswegs in bedrohlicher Weise abgenommen haben. Im Allgemeinen wird vielmehr hervorgehoben, dass inzwischen auch die Deutschen ihre "Untertanenmentalität" der Fünfzigerjahre abgebaut und alte Werte hierbei an Bedeutung verloren haben. Dies gilt natürlich auch für die sogenannte Wahlpflicht. Die Modernisierungs- und die Individualisierungsprozesse schlagen auf das Wahlverhalten durch. Nichtwahl, Protestwahl und Parteienwechsel werden durchaus zu akzeptierten Alternativen. Wahlverhalten, Partizipationsverhalten und politische Kultur sind in einem Zusammenhang zu sehen.

QuellentextPolitische Kultur

Politische Kultur steht als Begriff für die Summe der politisch relevanten Einstellungen, Meinungen und Wertorientierungen innerhalb der Bevölkerung einer Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt. Enger gefasst, bezeichnet politische Kultur die in einer Gemeinschaft feststellbare Verteilung individueller Orientierungen auf politische Objekte. Die subjektive Dimension der gesellschaftlichen Grundlagen des politischen Systems, die mentalen Dispositionen stehen somit im Mittelpunkt.

Als prägende Faktoren werden dabei gegenwartsbezogene und historische Aspekte mitberücksichtigt. Dies macht deutlich, dass politische Kultur immer mehr sein muss als ein Durchschnittswert der politischen Einstellungen zu einem bestimmten Erhebungszeitpunkt. Auch die subjektiven und individuell abgelagerten Dispositionen des Geschichtsbewusstseins sind so mit einzubeziehen.

In der ehemaligen DDR hatte politische Kulturoffiziellen Charakter. Es wurde ein Leitbild von Normen und Wertvorstellungen gezeichnet, die von den tatsächlichen Einstellungen und Verhaltensweisen unterschieden werden müssen.

Quelle: Susanne Pickel 2006, S. 49 ‒ 58

Weiterhin gelang es inzwischen, Nichtwählertypen zu identifizieren und vorsichtig zu quantifizieren: Neben den Verdrossenen und mit der Politik Unzufriedenen existieren Gruppen, in deren Leben Politik kaum oder lediglich eine geringe Rolle spielt, etwa saturierte Mittelschichten, junge Individualisten oder auch gesellschaftliche Randgruppen.

Wahlbeteiligung bei Landtagswahlen (in %) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/

Der Anstieg der Nichtwahl hat seine Gründe. So waren im Jahr 2019 zwar 83 Prozent der Befragten der Meinung, dass die Demokratie eine gute Regierungsform sei. Die Demokratiepraxis, also die Art und Weise, wie Demokratie in Deutschland funktioniert, bewerteten mit 54 Prozent allerdings deutlich weniger der dazu Befragten positiv (YouGov-Studie 2019).

Trotzdem kann von einem generellen Desinteresse der Gesellschaft an der Politik nicht die Rede sein. Die junge, heranwachsende Generation engagiert sich zwar weniger in politischen Parteien, dafür aber verstärkt bei Nichtregierungsorganisationen wie Attac oder Greenpeace. Das Politische stirbt nicht aus, aber es wandert aus.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Professor Dr. Karl-Rudolf Korte hat einen Lehrstuhl für Politikwissenschaft inne und ist Direktor der NRW School of Governance der Universität Duisburg-Essen. Er ist zudem geschäftsführender Herausgeber der Zeitschrift für Politikwissenschaft.

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