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Veränderungen im Parteiensystem

Karl-Rudolf Korte

/ 7 Minuten zu lesen

Das Aufkommen neuer Parteien und Koalitionsoptionen hat zu einer Umorientierung auf dem Wählermarkt geführt. Traditionelle Loyalitäten verlieren tendentiell ihren beherrschenden Einfluss auf die Wahlentscheidung.

Das Maximilianeum in München ist Sitz des Bayerischen Landtages. Dort regiert seit November 2018 die CSU zusammen mit den Freien Wählern. Die Möglichkeit, eine Zweierkoalition zu bilden, ist jedoch mittlerweile in Vielparteienparlamenten seltener als früher gegeben. (© picture-alliance, Zoonar | Boris Breytman)

Die in dem Ergebnis der Bundestagswahlen seit 2005 zutage tretenden Strukturen und Veränderungen lassen sich aus historischer Perspektive noch klarer erkennen. Die Entwicklung des deutschen Parteiensystems nach dem Zweiten Weltkrieg ist durch ganz verschiedene Abschnitte charakterisierbar. Dem Konzentrationsprozess des Wahlverhaltens (vgl. dazu auch Interner Link: Kapitel 3, im Buch S. 43 ff.) auf die vier Parteien CDU/CSU, SPD und FDP folgte ab Mitte der Siebzigerjahre eine erste Ausweitung des politischen Wettbewerbs mit dem Aufkommen neuer sozialer Bewegungen und der sich anschließenden Etablierung der Grünen in den Achtzigerjahren. Die deutsche Einheit stellte einen weiteren gravierenden Einschnitt dar. Im Osten der Bundesrepublik haben sich bislang eigenständige Muster des Wahlverhaltens herausgebildet. Eine makrosoziologische Betrachtung verdeutlicht im Folgenden die jeweiligen politischen Allianzen zwischen Bevölkerungsgruppen und Parteien.

In der Frühphase der Bundesrepublik stützte sich die CDU/CSU auf die beiden großen Konfessionen: Personen mit hoher Kirchenbindung und insbesondere gläubige Katholiken gehörten von Anfang an zur Stammwählerschaft der Union. Die Sozialdemokratie hingegen bezog sich hauptsächlich auf den Klassengegensatz zwischen Kapital und Arbeit. Vor allem in der gewerkschaftlich organisierten Arbeiterschaft erzielte sie hohe Stimmenanteile. Durch programmatische Öffnungen erweiterten beide Parteien ihre Wählerbasis, entwickelten sich in den Fünfziger- und Sechzigerjahren zu Volksparteien; damit bildeten sie die Eckpunkte eines zweipoligen Parteiensystems. Die FDP nahm als Vertreterin des alten Mittelstandes (Selbstständige) dazwischen eine strategisch günstige Position als dritte Kraft ein. Dieses Zweieinhalbparteiensystem besaß eine enorme Anziehungskraft. Von 1961 bis 1983 waren CDU/CSU, SPD und FDP die einzigen Parteien im Deutschen Bundestag. Bei den Bundestagswahlen 1972 und 1976 entfielen sogar über 99 Prozent der abgegebenen Zweitstimmen auf diese Parteien.

Diese feste Ordnung begann sich jedoch schon ab Ende der Sechziger-, Anfang der Siebzigerjahre schrittweise zu verändern. Der gesellschaftliche und industrielle Wandel bewirkte eine sozialstrukturelle Angleichung der Wählerschaften der beiden Volksparteien. Mit dem raschen Anwachsen der neuen Mittelschicht (Beamte und Angestellte) stieg auch der Anteil der Wählerinnen und Wähler, die durch sozialen Aufstieg den traditionellen Milieubindungen immer mehr entfremdet wurden. Die Union relativierte ihr kirchliches, insbesondere katholisches Profil. Die Sozialdemokraten und die Liberalen erzielten deutliche Stimmengewinne in den neuen, konfessionell eher ungebundenen Mittelschichten. Hinzu kamen Veränderungen in den Einstellungen und den Werten bei jüngeren, vorwiegend besser ausgebildeten Menschen. Sie beförderten die sogenannten neuen sozialen Bewegungen, die sich politisch mittels Bürgerinitiativen und lokaler Netzwerke in bewusster Distanz zu den etablierten Parteien engagierten. Frieden, Umweltschutz und Emanzipation waren ihre programmatischen Leitmotive. Trotz dieser Lockerung traditioneller Loyalitäten hatten die alten Konfliktlinien jedoch weiterhin Bestand.

Mit der Etablierung der Grünen zu Beginn der Achtzigerjahre wurde die bis dahin vorwiegend duale Parteienlandschaft um die ökologische Konfliktdimension erweitert. Die neue Partei stand in starker Konkurrenz zu den Sozialdemokraten und sogar den Liberalen. Bereits in den Siebzigerjahren hatte sich die FDP den Interessen von höheren Angestellten und Beamten sowie sozialen Aufsteigern geöffnet und agierte im Rahmen der sozialliberalen Koalition als wirtschaftspolitisches Korrektiv gegenüber den eher staatsinterventionistischen Vorstellungen der SPD. Der erneute Koalitionswechsel 1982 reduzierte die Stammwählerschaft der FDP durch die Abspaltung linksliberal eingestellter Wählerkreise existenzbedrohend. Bis heute konnte die FDP als wirtschaftsliberale Partei, die in hohem Maß die politisch-ökonomischen Interessen von Selbstständigen vertritt, diese gravierenden Verluste nicht ausreichend kompensieren. Inzwischen ist es dem realpolitisch geläuterten Bündnis 90/Die Grünen gelungen, in ehemals linksliberalen Wählerpotenzialen Fuß zu fassen.

So bestand ab Mitte der Achtzigerjahre ein "Zweiblöckesystem" (Eckhard Jesse 2002): Schwarz-Gelb versus Rot-Grün. Die Wählerinnen und Wähler hatten auf diese Weise zugleich die Regierungsbildung mitbestimmt. Allerdings schrumpfte der große Vorsprung von 16,2 Prozent der Koalition (Schwarz-Gelb) gegenüber dem rot-grünen Lager bei der Bundestagswahl von 1990 auf nur noch 4,6 Prozent 1994.

1998 reichte der Vorsprung nicht mehr. Die Bundestagswahl von 1998 war auch ein Beleg für die demokratische Reife der Deutschen. Denn erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik wurde eine Bundesregierung abgewählt. Eine rot-grüne Regierungskoalition auf Bundesebene etablierte sich.

Ab der Bundestagswahl 2005 existierte ein asymmetrisches, "fluides Fünfparteiensystem" (Oskar Niedermayer) mit weitreichenden Konsequenzen sowohl für die Regierungsbildung im Bund als auch in den westdeutschen Ländern. Die neue Qualität des Parteienwettbewerbs besteht darin, dass jenseits der Großen Koalition Bündnisse entlang der tradierten parteipolitischen Lager immer noch möglich, aber weder kalkulier- noch erwartbar sind (Karl-Rudolf Korte 2008). Bunte Zweier- und Dreierkoalitionen sind unter den Bedingungen von Vielparteienparlamenten und zeitgleich immer kleiner werdenden Volksparteien die Zukunft.

Die Vitalität des Parteiensystems illustrieren gleich zwei Parteineugründungen: Im Jahr 2006 entstand im Kontext der digitalen Kommunikation die Piratenpartei. Ihr geht es um eine neue Onlineinterpretation sämtlicher politischer Prozesse (Karl-Rudolf Korte 2012). Dabei steht für sie weniger die Nutzung des Internets, sondern vielmehr die Einstellung der Nutzerinnen und Nutzer in einem gesellschaftlichen Grundkonflikt zwischen Freiheit einerseits und Sicherheit andererseits im Fokus. Mit dieser Ausrichtung konnten die Piraten eine Reihe von Erfolgen feiern: Nachdem die Partei bei der Bundestagswahl im Jahr 2009 zwei Prozent der Zweitstimmen auf sich vereinigt hatte, zog sie in mehrere Landesparlamente ein. Umfragen sahen sie auch bundesweit immer wieder über der Fünfprozenthürde. Inzwischen hat die Partei ihren Höhenflug beendet. Bei der Bundestagswahl 2017 erzielte sie 0,4 Prozent der Zweitstimmen, in den Ländern spielen die Piraten kaum noch eine bedeutsame Rolle.

Ganz im Gegensatz dazu steht die Alternative für Deutschland (AfD). Sie ist die jüngste erfolgreiche Neugründung im deutschen Parteiensystem. Nach ihrer Konstituierung erzielte sie mit ihrem eurokritischen Kurs in kurzer Zeit eine Reihe beachtlicher Wahlerfolge. Nur knapp scheiterte die AfD bei der Bundestagswahl 2013 an der Fünfprozenthürde. Bei der darauffolgenden Wahl zum Europäischen Parlament errang sie sieben Mandate. Inzwischen ist die AfD im Bundestag sowie in allen Landtagen vertreten, wobei sie vor allem in Ostdeutschland erfolgreich ist. Als "Defizitpartei" besetzt sie in programmatischer und rhetorischer Hinsicht die Lücken der anderen Parteien. Sie bindet insbesondere in der Asyl- und Flüchtlingspolitik mit ihren rechts- und nationalkonservativen Positionen unzufriedene Protestwähler an beiden Polen des ideologischen Spektrums. Die Flüchtlingskrise der Jahre 2015 und 2016 bot der AfD einen Nährboden, um sich als zukunftsängstliche Empörungsbewegung im Parteiensystem zu etablieren.

Der Strukturwandel des deutschen Parteiensystems ist tiefgreifend (Everhard Holtmann 2020; Tim Spier 2010). Vielparteienparlamente können zwar noch wie in Nordrhein-Westfalen (schwarz-gelb) zu Zweierkoalitionen führen, aber weniger zuverlässig als zu früheren Zeiten. Sogenannte Lager- oder Traditionskoalitionen können durch neue Varianten der Regierungsbildung ersetzt werden: neue parteipolitische Zusammensetzungen (zum Beispiel schwarz-grün in Hamburg von 2008 bis 2011 und in Hessen seit 2013, ungewöhnliche Regierungs- bzw. Koalitionstypen (zum Beispiel Große Koalition) oder neue Regierungsformate (zum Beispiel Minderheitsregierungen wie in Nordrhein-Westfalen von 2010 bis 2012). Das Beispiel Baden-Württemberg, wo ein grüner Ministerpräsident mit der SPD regierte und seit 2016 mit der CDU regiert, zeigt zudem, dass der Regierungschef nicht zwingend aus einer der beiden Volksparteien stammen muss.

Wer nicht nur rechnerische Mehrheiten, sondern belastbare politische Mehrheiten sucht, muss sich zukünftig auf dem Koalitionsmarkt auf Brautschau begeben. Da die bisherigen parteipolitischen Lager aufgeweicht wurden, ist auf dem Koalitionsmarkt grundsätzlich jede Koalition vorstellbar. Um keine strategischen Chancen zu verspielen, müssen die Parteien deshalb multikoalitionsfähig bleiben. Die Grünen sind dabei in einer komfortablen Sandwichlage: Sie können sich aus ihrer Abhängigkeit von der SPD befreien und die ehemalige Rolle der FDP als "Zünglein an der Waage" einnehmen. Ihre Schlüsselrolle ergibt sich nicht zuletzt daraus, dass sie prinzipiell in einer Vielzahl von denkbaren Konstellationen als Mehrheitsbeschafferin dienen können (Rot-Grün, Schwarz-Grün, Jamaika, Ampel).

"Beruf: Neuwahlgespenst? Sie haben Glück, ich hab da was für Sie..." (© picture-alliance, dieKLEINERT.de / Leopold Maurer | Leopold Maurer)

Doch auch für die beiden Volksparteien eröffnen sich neue Chancen. Wenngleich die SPD langfristig nicht mehr über Wahlergebnisse von 30 Prozent hinauskommen und deutlich seltener den Regierungschef stellen können wird, so ist es durchaus möglich, dass sie öfter und länger Regierungsverantwortung tragen wird als in den vergangenen Jahrzehnten. Denn die Sozialdemokratie ist prinzipiell multikoalitionsfähig. Seit Beginn der Neunzigerjahre hat sie auf Landesebene mit allen etablierten Parteien schon mindestens einmal koaliert. Die rot-roten Bündnisse in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern haben zudem gezeigt, dass auch mit der PDS bzw. der Linken unpopuläre Haushaltssanierungen möglich sind und trotzdem Wahlen gewonnen werden können, wenngleich auf niedrigerem Niveau. Doch noch liegt das Potenzial der SPD als Multikoalitionspartei auf Eis. Regierungsbündnisse mit der Linken im Bund und in westdeutschen Ländern sind noch ein Tabu. Die langfristigen Machtfragen der SPD hängen insofern zurzeit an der Tabuisierung der Zusammenarbeit bzw. Enttabuisierung der Kontaktsperre zwischen SPD und Linken. Mittelfristig wird die SPD als Regierungspartei – sofern sie über die 30-Prozent-Marke kommt – in nahezu allen erdenklichen Koalitionsformen wirken können: in Großen Koalitionen, als Partnerin von FDP und Grünen. In Thüringen ist sie sogar ein rot-rot-grünes Regierungsbündnis mit einem linken Ministerpräsidenten eingegangen.

"Meine persönliche Huldigung des guten, alten Drei-Parteien-Systems!" (© picture-alliance, dieKLEINERT.de / Andreas Prüst | Andreas Prüstel)

Auch für die Union ergeben sich neue Machtperspektiven: Jenseits der Großen Koalition war die FDP bisher fast die einzige mögliche Partnerin in Bund und Ländern. Doch die gesellschaftspolitische Modernisierung der CDU ist inzwischen so weit vorangeschritten, dass auch ihr zuzutrauen ist, nahezu jede Koalition eingehen zu können. Damit verfügt sie über ähnlich viele Machtoptionen wie die SPD. Schließlich wird künftig noch die Stärke der Grünen entscheidend sein. Hier ist die grundlegende Frage, ob sie die SPD als Volkspartei im linken Parteienspektrum ablösen können wird.

Fussnoten

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Professor Dr. Karl-Rudolf Korte hat einen Lehrstuhl für Politikwissenschaft inne und ist Direktor der NRW School of Governance der Universität Duisburg-Essen. Er ist zudem geschäftsführender Herausgeber der Zeitschrift für Politikwissenschaft.

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